Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14

Am nächsten Morgen herrschten immer noch steife Brise und schwerer Seegang, aber die Sonne schien hell zwischen den zerrissenen Wolken hervor, die weiß waren, wenn sie auch hie und da an den tieferhängenden Säumen noch die Spuren des abziehenden Sturmes zeigten. Nordwärts erschienen jedesmal, wenn der Schaum aufspritzte, Regenbogen zwischen den Wogenkämmen. Die oberen Decks waren sauber und klar. Oliver hatte ein kräftiges englisches Frühstück eingenommen, bei dem er fast allein in dem großen Speisesaal gesessen hatte. Er fühlte wieder einmal so recht, daß eine Seereise eine großartige Sache war. Seine Mutter hatte in etwas gebrochenen Lauten mit ihm durch die Kabinentür verhandelt. Sie meinte, es sei doch klüger, wenn sie ein paar Tage lang gar nicht an Deck ginge; es sei wirklich zu kalt und trostlos und aufregend dort; sie brauche völlige Ruhe, um ganz frisch für die schwere Arbeit und die wichtigen Entscheidungen zu sein, die zu Hause auf sie warteten. Er möge doch bitte der Stewardeß sagen, daß sie den Pfeilwurzelaufguß ja recht heiß und milchig machen solle, denn nicht nur Letitia Lamb, sondern auch Emily Fixsome – die Seereisen ganz und gar nicht vertrüge – hätte ihn dringend für Rekonvaleszenten empfohlen; und er möge auch bitte seine eigene Kabinentür richtig verschließen – es sei abscheulich, wie sie hin und her schlage – und sie nicht bloß zuhaken, denn dann knarre sie die ganze Zeit! – Ja, das sei alles, was sie heute morgen brauche.

So schritt Oliver frei und ledig auf dem gänzlich verlassenen Sturmdeck entlang, das in der Sonne trocknete; er war ohne Hut, und der Wind wühlte lustig in seinem hellen Haar. Sein Herz war mutig und freudig, er fühlte sich wie Alexander bereit, die Welt zu erobern; und doch, was konnte er viel unternehmen? Den Seewind einzuatmen, genügte ihm schon nach ein paar Minuten nicht mehr. Sollte er Lord Jim in der zweiten Klasse besuchen? Er mußte unwillkürlich lachen, doch nicht aus ungetrübter Freude; die Ironie dieses scherzhaften Titels fiel ihm nun besonders auf. Warum mußte Jim überhaupt an Bord sein? Es wäre so viel schöner gewesen, mit dem herrlichen Ozean allein zu sein! Viermal soviel Wasser als Land gab es auf dem Erdball; wäre es nicht auch genug, wenn man nur ein Viertel seiner Zeit und seines Herzens an die menschlichen Dinge wenden würde und die andern drei Viertel – ja, woran eigentlich? – an die Natur, die Wahrheit, an Gott? Man konnte es nennen, wie man wollte, dieses größere außermenschliche Sein, das die Menschheit umgab, stützte und doch gleichzeitig der Lächerlichkeit verfallen ließ.

Zweiter Klasse! Unsere ganze menschliche Welt war so zweitklassig; es war nicht nötig, noch snobistische Unterscheidungen darin zu machen. Und Oliver lachte laut über die Sinnlosigkeit von Klassenbegriffen und über den Irrtum seiner Mutter, die sich einbildete, die Bumsteads und die Aldens mit ihren freudlosen, eingeengten Lebensanschauungen seien unbedingt erstklassig, während sie doch in Wirklichkeit nur eine Klasse unter andern bildeten, eine bestimmte Klasse mit einem jämmerlich dürftigen, unfreien, unsicheren Maßstab für Erstrangigkeit. Nein, Oliver wollte Lord Jim nicht verleugnen, weil er zweiter Klasse fuhr. Das zeigte ihn vielleicht sogar von seiner besten Seite. Was für ein vollkommenes Geschöpf wäre Jim doch gewesen, wenn es nur das Meer gegeben hätte und kein Land, nur Schiffe und keine Häfen, nur Männer und keine Frauen! Dieser Triton war wehrlos gegen das Gift des Festlandes; die gemeinsten Ausschweifungen der Hafenstädte konnten ihn in Bann schlagen und zerstören. Da stand also Lord Jim nach einem Monat London, Marseille oder Monte Carlo, jämmerlich heruntergekommen, vergröbert, degradiert, verwahrlost, ungewaschen, schäbig, wenn nicht sogar ehrlos geworden; und das im gleichen Augenblick, wo er zu einer Menge Geld gekommen war – wie viele Tausende mußte die Jacht mit ihren ganzen Einrichtungen wohl wert sein? Eine Atmosphäre niedriger Verschlagenheit umgab Jim, gerade jetzt, wo er sich's einmal hätte leisten können, kühn und geradlinig vorwärtszugehen. Aber er brachte es fertig, in die Tiefen hinabzutauchen, lange Zeit unter Wasser zu schwimmen und dann doch so frisch und vergnügt wie je wieder an die Oberfläche zu kommen. Und Oliver beneidete und bewunderte unwillkürlich den flüchtigen Geist und das trotzige Herz, die sich die Freude am Leben nicht durch die Furcht vor dem Tode rauben ließen.

Klar und bestimmt war der Entschluß, Jim nicht fallen zu lassen. Da Jim aus unbekannten Gründen nun einmal an Bord war, wäre es feige, ihm aus dem Wege zu gehen. Und töricht dazu; denn ein Gespräch mit ihm, mochte es erfreulich oder unerfreulich sein, war nie gehaltlos, und seine Person übte stets Anziehungskraft aus. Olivers Vater wäre an seiner Stelle jetzt sicher gleich in die zweite Klasse hinübergegangen, um mit Jim ein Gläschen zu trinken und zu plaudern. Und Jims eigener Vater, dieser heilige, gelehrte Mann, hätte ganz sicher die zweite Klasse, ja sogar das Zwischendeck und die Gesellschaft seines nicht allzu tugendhaften Sohnes der langweiligen Schwerfälligkeit und vergoldeten Dummheit dieser Leute in der Luxusklasse vorgezogen.

Von so hohen Gefühlen befeuert, überschritt Oliver die Schranke zum Achterdeck. Einige der abgehärteteren Passagiere lagen auf der Leeseite mit Decken, gestrickten Wollmützen und Schals in ihren Liegestühlen wie eine Reihe ägyptischer Särge. Er sah sich überall um, doch Jim war nicht zu finden. Sonderbar, daß ein Seemann keine Freude an diesem wunderbaren Wetter hatte und freiwillig in einer stickigen, engen Kabine sitzen mochte! Man mußte ihn hinaus ins Freie schleppen, ihn auslüften, ihm wahre, natürliche Freuden vor Augen stellen und ihm seinen jungen Freund in Erinnerung bringen, seinen überlegenen jungen Freund – Oliver hatte von Schopenhauer gelernt, daß unbegründete Bescheidenheit falsch war – den letzten Menschen, der noch ein Bindeglied zwischen ihm und der Welt der Anständigkeit bedeutete; denn der Einfluß des Pfarrers auf seinen Sohn war dem des gestirnten Himmels vergleichbar, zu erhaben und zu alltäglich, um besondere Wirkung zu tun.

In diesem Sinn faßte der junge Apostel Mut, sein verlorenes Schaf im Rauchsalon zweiter Klasse zu suchen; ja, er mußte sich wirklich dazu überwinden, die festverschlossene kleine Tür zu öffnen und den hohen Messingrahmen der Schwelle zu überschreiten. Natürlich, da saß Jim, vor sich einen Whisky-Soda, und spielte Karten – es war noch nicht zehn Uhr morgens! – in einer recht gewöhnlichen Gesellschaft. Einige der Männer waren jung, andere ältlich, fett und offenbar jüdischer Abstammung; alle aber trugen zusammengewürfelte, ziemlich undefinierbare Kleidungsstücke und sahen mehr oder weniger übernächtig, gedunsen und ungepflegt aus. Weindurchtränkte Rauchschwaden kamen hinter ihren schlaffen Lippen hervor, und schale, stinkende Rauchfäden ringelten sich aus den Aschenbechern und stiegen an die Decke der Kabine, wo sie in schweren gelben Wolken hängen blieben; im schwachen Licht eines verirrten Sonnenstrahls, der mühsam seinen Weg durch die verrammelten Luken gefunden hatte, baumelten sie eine Weile dort wie zottige Felle, bis sie plötzlich in schnellere Bewegung gerieten und wie Schafe über eine Hecke durch die Ventilatoren hindurch ins Freie eilten.

Jim, der im Mittelpunkt des Ganzen saß, war unerklärlich verändert; er stach nicht nur auffällig von seiner Umgebung ab, sondern schien auch ein völlig anderer als gestern. Er wirkte um zehn Jahre jünger – höchstens wie zwanzig – und zwar wie ein zwanzigjähriger Preisboxer oder Fußballchampion. Wundervoll rasiert und rosig mit frisch geschnittenem Haar, strahlte er wie ein Dorfbräutigam im Schmuck eines makellosen weißen Seidenhemds mit himmelblauer Strickkravatte; sein hellgrauer Anzug war frisch gebügelt, statt einer Weste aber trug er den weichsten aller bunten Wollsweater. Er war das Bild eines berufsmäßigen Dandys oder, wie Vanny vielleicht gesagt hätte, eines tipp-toppen Kerls. Oliver konnte an sich selbst schicke Kleidung nicht leiden, doch er hatte gelernt, sie an seinen englischen Bekannten zu dulden, deren Aufgabe eben zum Teil darin bestand, dekorativ zu wirken. Diese unverhofft zurückgekehrte Frische an Jims Erscheinung entzückte ihn geradezu. »Sieh mal an«, dachte er, »was für einen guten Einfluß ich auf ihn ausübe! Er hat sich zwei, drei Stunden tüchtig im Gymnastikraum durchgearbeitet oder ein Dampfbad genommen – vielleicht hat er sogar beides getan – und hat seine besten neuen Sachen angezogen – obwohl das nun wiederum nicht notwendig gewesen wäre – bloß um mir zu beweisen, daß er noch der alte ist und nur vorübergehend und freiwillig zweiter Klasse fährt, weil er jenseits aller dieser Unterschiede steht und Protzerei nicht nötig hat.«

Daß sich diese Verwandlung Oliver zu Ehren vollzogen hatte, war vollkommen richtig. Trotz des kalten Empfangs, den Jim tags zuvor gefunden hatte, war er sicher, daß der Junge heute morgen bei ihm auftauchen würde. Olivers Kälte, glaubte Jim, kam nur von seiner Überraschung und einem augenblicklichen Mißbehagen; sie bedeutete das genaue Gegenteil von Gleichgültigkeit. Der unangenehme Eindruck konnte leicht verwischt werden. Jim wollte sogleich beweisen, daß er ein feuriges Schlachtroß war, das man zwar aus Versehen eine Zeitlang vor einen Kohlenkarren gespannt, ins Joch gezwungen, mißbraucht und verhöhnt hatte, das sich jedoch nicht schämte, auch diesen niedrigen Dienst wacker durchgeführt zu haben und keineswegs gebrochen, entmutigt oder seiner Kraft beraubt war. Und als sich seine Erwartung erfüllte und Oliver, offenbar auf der Suche nach ihm, im Rauchzimmer erschien, leuchteten seine Augen auf, die heute wunderbar klar und blau – zu seiner Kravatte passend – aus seinem gebräunten Antlitz unter den dichten Augenbrauen hervorschauten. Er tat, als bemerke er nichts und spielte weiter, und doch wäre es einem feinen Beobachter nicht entgangen, daß er sich noch höher im Stuhl aufgerichtet hatte und rascher mit gespannter Aufmerksamkeit spielte, als ob das Ende bevorstehe. Seine ganze Gestalt schien zu sagen: »Ich wußte ja, du würdest kommen, ich habe dich erwartet, gedulde dich ein Weilchen, gleich werde ich frei sein.« Und wirklich, beim letzten Stich (er gewann ihn noch) schüttete er den Rest seines Whisky-Soda hinunter, erhob sich und bat einen verwaschenen Jüngling, der ihm über die Schulter gesehen hatte, seinen Platz am Tisch einzunehmen. Dann führte er Oliver mit jener Sicherheit und Energie, die alle seine Bewegungen kennzeichnete, mit sich fort. »Schauderhaftes Loch, das! Hier wollen wir nicht bleiben. Komm und schau dir meine famose Kabine an!«

»Aber es ist doch so schön an Deck«, murmelte Oliver und blieb zurück. Doch wurde er mit Gewalt durch eine andere Tür in ein Labyrinth enger Gänge geschoben. An jeder Ecke und an jedem Treppenabsatz gab es einen scherzhaften Kampf, und Oliver warf sich wie beim Rugby-Spiel mit seinem ganzen Körper gegen den Ansturm. Es war fast wie eine Rauferei von Schulbuben oder jungen Hunden; obwohl Oliver etwas größer war, fühlte er sich wie ein kleines Bürschchen, das der Kraft eines Mannes Trotz bietet; und etwas Weibliches in ihm gefiel sich darin, den Widerstand zu verlängern, von dem er wußte, daß er ihn doch aufgeben mußte. Der große Hund mochte ihn umwerfen, aber er würde ihn nicht beißen. Es war wie ein lachender Sieg, einer größeren körperlichen Kraft zu trotzen, die einem moralisch ja doch unterlegen war.

»Da sind wir«, rief Jim ganz außer Atem, als er Oliver schließlich durch eine Kabinentür hineintrieb und sie hinter ihm verriegelte. »Ist das nicht eine prächtige Luxuskabine? Eigentlich für drei und gehört mir dabei ganz allein. Bestimmt ruhiger als eure Staatsgemächer, wo man den Wind heulen und die Frauen vom Promenadendeck her kichern hört. Komm nur immer her, wenn du allein sein willst. Das Sofa unter den Luken ist sehr bequem für stille Lektüre.«

Obgleich die Kabine groß war, kam sie Oliver eng und stickig vor. Die ganze Ausstattung war billig und etwas schäbig; die schnellen, fahlen, bleiernen Wogen des Meeres überdeckten alle paar Sekunden die Fensterluken und machten den Raum unangenehm dunkel, während das Schiff schwer hin und her rollte und alles ringsum zitterte. Oliver legte keinen Wert auf Luxus, aber er haßte jede Einengung. Die bloße Vorstellung, erstickt oder ertränkt zu werden, war ihm eine Qual. Und warum hatte Jim die Tür verriegelt? Wollte er auch verhindern, daß sie hin und her schlug wie die Tür oben, die seine Mutter gestört hatte?

»Wir wollen an Deck gehen!« Er sprach mit so trockener Kehle, sah so bedrückt und ernst aus, daß alle die Streiche, die Jim etwa im Schilde geführt hatte, ein für allemal abgetan waren.

»Du fühlst wohl die Bewegung ein bißchen, kleine Landratte? Gut, jetzt weißt du wenigstens, wo ich hause, und immer, wenn du dich in deinen prunkvollen Appartements einsam fühlst, kannst du zum Lesen oder zum Schlafen bei Tag und bei Nacht hierher kommen.«

Oliver schüttelte den Kopf. »Aha, der Geruch der zweiten Klasse paßt dir wohl nicht? Na, wenn es dir lieber ist, kann ich auch ganz gut in dein Quartier hinüberschlüpfen, natürlich nur bei Nacht, und dann können wir zusammen ein paar Wachen halten wie in alten Zeiten.«

Oliver schüttelte nochmals den Kopf. Jetzt waren sie wieder an Deck, und er hatte seinen Gleichmut wiedergefunden.

»Natürlich bin ich gern mit dir zusammen; wo, das ist mir ganz gleich. Aber jetzt, während wir an Bord sind, auf dieser Reise meine ich, geht es nicht gut; denn meine Mutter würde es nicht gern sehen. Glücklicherweise steht dein Name nicht in der Passagierliste, und sie läßt sich nicht träumen, daß du an Bord bist. Wenn sie es wüßte, würde sie sich schrecklich aufregen. Ich glaube, ich komme sogar hier an Deck besser nicht zu oft mit dir zusammen. Bestimmt entdeckt uns dann jemand vom Palmengarten aus, der aufs Deck schaut, und meine Mutter erfährt davon. Allerdings hat sie nicht das Recht, mir etwas zu verbieten. Es ist ausgemacht, daß ich mir meine Freunde selbst aussuche. Aber ich verstehe mich sowieso nicht gut mit ihr und will lieber einen neuen Krach vermeiden. Es tut mir leid; aber es ist so peinlich, etwas zu tun, was man verheimlichen muß.«

»Manche Leute finden, daß Heimlichkeit das Vergnügen gerade erhöht«, antwortete Jim und grinste breit. Oliver hatte vorher nie bemerkt, wie lang und ungleichmäßig seine Zähne waren. Er hatte Hauer wie ein Tiger. Es konnte für eine Weile vergnüglich sein, mit dem Raubtierjungen zu spielen, das so weich und katzenhaft war; aber eines Tages würde es beginnen zu fauchen und zu kratzen. Mit dem Schwinden der Jugend schien eine schreckliche Demaskierung einzusetzen. Aus dem Spiel zum Spaß wurde Spiel um Geld; selbst im Lachen verbargen sich unlautere Anspielungen. Jim konnte für Augenblicke einen falschen Jugendglanz und gleichzeitig auch das ganze Feuer und die ganze Unbekümmertheit der Freundschaft zurückgewinnen; erheuchelt war das nicht, aber trügerisch. In Wirklichkeit war der Mann über diese Phase hinausgewachsen und würde sofort wieder zurückweichen in die harte Schale seiner wohlberechneten, tatsächlichen oder eingebildeten Interessen.

Wie gewöhnlich waren bei Oliver diese schwerwiegenden Einsichten überflutet von dem Strom seines Naturgefühls. »Wie herrlich ist es hier«, sagte er, indem er seinen Freund beim Arm nahm und ihn näher an die Reeling zog. »Ich verstehe gar nicht, daß jemand wie du, der mal Seemann gewesen ist, je wieder glücklich an Land leben kann. Man sagt, die See sei eintönig, aber schau sie nur an! Sie ist veränderlicher, lebendiger als das Land und doch beständiger. Immer die gleichen Crescendos und Diminuendos, die gleichen Böen und Windstillen, das gleiche Blau und das gleiche Grau; aber niemals weiß man, woher und wann es weht; immer muß man Ausschau halten und darf nie aufhören zu wachen.«

»Weißt du, junger Mann, daß du verflucht poetisch daherredest? Die simple Prosa besteht aber darin, daß der Mensch sein Brot verdienen muß. Darum handelt es sich jetzt bei mir. Ich stehe vor dem Ruin. Der Bei von Tunis – dein Vater hat dir sicher davon erzählt – wollte den ›Schwarzen Schwan‹ kaufen. Letzten Winter waren wir lange Zeit in Tunis; dein Vater meinte, es sei von allen alten Städten noch am unverdorbensten. Es sprach sich herum, daß er arabisch konnte; er wurde in den Palast eingeladen, und die Söhne des Beis erwiderten den Besuch an Bord. Wir gaben ihnen einen großartigen Lunch und veranstalteten eine Fahrt unter vollen Segeln. Sie waren begeistert; sie beschwatzten ihren alten Vater, und es erfolgten diskrete Anfragen, ob die Jacht wohl verkäuflich sei. Ich sagte ihnen die genaue Wahrheit, daß sie deinem Vater mit dem Recht auf beständige Erneuerung des Vertrages verpachtet wäre, daß er sie aber vielleicht nicht mehr lange werde behalten wollen; und es wurden schon Verhandlungen über den eventuellen Preis geführt. Der alte Nabob war wohl daran gewöhnt, jeden auszuquetschen und wollte die Jacht fast umsonst haben; aber jetzt hätte ich sie ihm vielleicht doch verkauft, um die entsetzlichen Ausgaben zu sparen, die jeden Monat anfallen, denn sie muß vor Anker gelegt, bewacht, abgekratzt und überholt werden, Steuer und Versicherung sind zu bezahlen, und man selbst soll inzwischen von gar nichts leben. Ich habe von Marseille aus telegraphiert, und die Antwort lautete: ›Jacht nicht mehr gewünscht.‹ Glücklicherweise habe ich jemand andern in Aussicht; am selben Tag, an dem Minnies Depesche kam, erhielt ich ein Kabeltelegramm: ›Falls Schwarzer Schwan mit Sammlungen verkäuflich, mit Charles Deboyse, Somerset Club, Boston, in Verbindung setzen.‹ Deswegen gehe ich jetzt nach Amerika. Aber die Sache hat einen Haken. Ich bin mir nicht im klaren, wieviel Wert der alte Deboyse auf die Sammlungen legt, und wieviel er davon weiß. Sie sind nämlich nicht mehr vollständig.«

Jim machte eine lange Pause, um seine Pfeife in Brand zu setzen; er zog eine Schachtel Streichhölzer hervor und versuchte mit den umsichtigen Vorbereitungen und der Schlagfertigkeit, die man im Kriege oder im frischen Wind beweisen muß, eins zu entzünden. Als er ein paar Züge getan hatte, während er das kostbare Feuer sachgemäß mit der Hand schützte, nahm er seine Geständnisse wieder auf.

»Nun wollte ich mal über die Bücher und die Sammlungen mit dir reden. Natürlich denke ich vor allem daran, die Wünsche deines Vaters zu erfüllen. Er wollte nicht, daß du alle Bücher und alle Kunstschätze der Jacht bekämst. Es sind Sachen, an denen dir schwerlich viel liegen kann. Das war ja einer der Gründe, weshalb er mir die Jacht gab und nicht ein Geldgeschenk oder ein Legat: Er wollte nicht, daß du oder sein Testamentsvollstrecker sich um seine persönlichen Schätze kümmern müßten. Ich war gerade der richtige Vertraute, um sie unter der Hand vorteilhaft loszuschlagen. Und in dieser Hinsicht wäre der verrückte alte Bei von Tunis auch ganz der rechte Käufer gewesen. Er wollte keine Bücher oder Antiquitäten, weder echte noch imitierte; selbst die Buddhas waren für ihn nur Götzenbilder; es hätte ihn davor gegraust, sie zu behalten. Wenn ich also den ›Schwarzen Schwan‹ an ihn verkauft hätte, wär's mir möglich gewesen, die Bücher und den übrigen Kram für sich allein loszuschlagen. Da ist so'n Kerl in London, eine Art Freund von mir, ein verteufelt schlauer Jude, der die amerikanischen Millionäre mit alten Meistern anschmiert; der hat gern ein paar echte Sachen in seinem Laden, der Atmosphäre wegen; er bietet mir allein für die chinesische Sammlung tausend Pfund, denn chinesische Kunst ist gerade Mode. Aber du machst dir ja nichts aus der Mode, nicht wahr? Was du gern hättest, wäre ein Erinnerungsstück an deinen Vater; und ich dachte, ich wollte dir die besten Bücher aufheben: Dickens, Don Quijote mit all den seltenen Illustrationen und ähnliches. Wenn du willst, kannst du auch noch Tausendundeine Nacht als Zugabe bekommen, um sie im geheimen deinen Freunden zu zeigen; und wo du jetzt auf die Universität gehst, kannst du deine Räume dort geradezu fabelhaft mit einigen von den indischen Sachen und den Buddhas aus der Heckkajüte ausstatten, zum Andenken an den ›Schwarzen Schwan‹! Wenn dann junge Damen zu dir zum Tee kommen, haben sie gleich was zum Reden. ›Oh, Mr. Alden, wo haben Sie nur diese wundervollen Sachen her?‹, und mit gelangweilter Miene streifst du dann die Asche von deiner goldenen Zigarettenspitze und antwortest: ›Ach, das ist weiter nichts Besonderes. Ein paar Kleinigkeiten, die meine Ahnen vor Jahrhunderten im Fernen Osten gesammelt haben!‹«

Jim hatte das Entzücken der Damen mit hoher Stimme und einer ganz drolligen Imitation des amerikanischen Akzentes vorgeführt; aber Oliver brachte nur ein kleines trauriges Lächeln zustande. Er brauchte keine Andenken, er erinnerte sich nur zu gut an alles. Er wollte keine goldenen Buddhas, keine indischen Seidentücher und auch keine amerikanischen Mädchen zum Tee. Jims Karikatur, die seinem eigenen Geschmack so sehr zuwiderlief, hatte ihn irgendwie an Vanny erinnert. Vanny, dem würde es vielleicht Vergnügen machen, schöne Sachen um sich zu haben. Wenn er die Universität besuchte, mochte es zu ihm passen, künstlerisch ausgestattete Räume zu bewohnen, ähnlich denen, die Oliver in Oxford in Peckwater Quad gesehen hatte, und die einem irischen Dichter namens Lord Basil Kilcoole gehörten.

»Im Williams College möchte ich nichts Auffallendes in meinem Zimmer haben. Ich käme mir dabei wie ein Esel vor. Aber später einmal hätte ich vielleicht ein paar von Vaters Büchern gern – vielleicht sogar die Buddhas.« Er zögerte. Die Aussicht ließ ihn kalt. Er fühlte dunkel, daß schöne Dinge eine ebensolche Last sind wie häßliche. »Außerdem«, fügte er hinzu, »gehört die ganze Schiffsausstattung gesetzlich dir. Ich könnte mir nichts davon nehmen, ohne es zu bezahlen, und ich habe kein Geld dazu.«

»Du hast kein Geld dazu? Aber in drei Jahren wirst du doch Millionen haben. Der alte Charley Deboyse ist ein guter Kerl. Auf dem Hesperus war er oft mit uns zusammen. Ich werde ihm die Sache erklären; und ich bin sicher, selbst wenn er etwa das Ganze kauft, so hebt er dir alles auf, worauf du Wert legst; zumal es wohl gerade das ist, worauf er selbst keinen Wert legt. Das Dumme ist nur, daß ich zwei der feinsten Statuetten schon verkauft habe. Es blieb mir einfach nichts anderes übrig. Du hast noch nie so was von einer Pechsträhne gesehen, wie ich sie diesmal in Monte Carlo erwischt habe.«

Da ihm keine Beileidsbezeugungen für sein Unglück zuteil wurden, rauchte er eine Weile schweigend weiter und ging dann zu einem andern Thema über.

»Außerdem hab ich noch einen andern Grund dafür, den Handel mit der Jacht bald abzuschließen. Du weißt, ich habe schon früher ein bißchen gefilmt – vor zwei Jahren, als der ›Schwarze Schwan‹ im Bau war; ich spielte den flotten Seemann, der ins Wasser springt – in echtes Wasser – um ein bedrängtes Mädchen zu retten – ein echtes Mädchen – und obwohl ich die Rolle mehr wegen meiner Schwimmkünste als wegen meines schauspielerischen Talents bekam, wurde ich auch mit dem Küssen und den Umarmungen ganz gut fertig; ich meine, ich wäre auch für die Rolle des gutherzigen Einbrechers nicht schlecht geeignet und für Fälscher-, Räuber- oder Nachtklubangelegenheiten, wo zum Beispiel der junge Schurke – das bin ich – den verruchten Herzog bewußtlos macht und eine Million Pfund in Banknoten erbeutet, die der lasterhafte Aristokrat bei sich in der Tasche trägt, um die Heldin zu verführen. Ich bin überzeugt, das könnte ich ganz lebenswahr darstellen und gleichzeitig noch durchblicken lassen, daß ich im Grunde ein netter, guter Kerl bin, bloß ins Unglück geraten wie dein Namensvetter Oliver Twist; die schöne, unschuldige Heldin und meine fromme alte Mutter müßten mich trotz allem lieben. Es ist doch ganz nützlich, wenn man in seiner Jugend ein bißchen mit der Unterwelt in Berührung gekommen ist. Natürlich spiele ich unter einem angenommenen Namen – ich bin Jack Lister, und das Mädel heißt auch nicht wirklich Cynthia Nevil; daheim hieß sie Bella Iggins. Wir wollen nur zwei oder drei Filme in den Vereinigten Staaten drehen, recht gepfefferte, nur um in unseren Flitterwochen ein bißchen was einzunehmen, bis alles geregelt ist und ich mein Geld bekomme. Dann wollen wir uns in Surbiton oder sonstwo ein Häuschen am Fluß kaufen und von da an glücklich und in Freuden leben. Der Mensch muß doch mal heiraten. Es ist schließlich ganz gemütlich. Du hast dann alles, was du brauchst, unter einem Dach beisammen, du liegst friedlich vor Anker wie die alte ›Victory‹ in Portsmouth und freust dich, daß du nun nicht mehr ziellos auf den wilden blauen Wogen umherzutanzen brauchst. Und Cynthia oder Bella ist das süßeste, bravste, gescheiteste, fleißigste Mädel, das es je gegeben hat, so hübsch, daß du nicht müde wirst sie anzusehen, und mit so viel Gemüt, daß du dich für dein ganzes Leben bei ihr geborgen fühlst.«

»Bist du sicher, daß sie besser zu dir paßt als Mrs. Bowler?«

Oliver hatte noch nie eine solche Flut von Schmähungen vernommen, wie diese Frage sie heraufbeschwor. Das Geschimpf richtete sich nicht gerade gegen ihn selbst; mehr gegen die Dinge im allgemeinen und gegen die harmlose Mrs. Bowler im besonderen. Doch erreichten ihn einige Dreckspritzer, und er zog sich unwillkürlich vor dem Bombardement zurück. Einen Mann, der wirklich liebte, hätte seine Frage ja in der Tat beleidigen können; aber wie unsinnig war es, zu denken, daß Jim wirklich lieben sollte! Er war Frauen gegenüber ein Kind. Er kuschelte sich genau so behaglich in die Arme seiner Cynthia-Bella wie vorher in die der Mrs. Bowler und suchte an ihrem freundlichen, mütterlichen Busen Ruhe. Das Häuschen in Surbiton war ein ebenso dummer Traum wie sein früherer Gedanke, Wirt im ›Königswappen‹ in Sandford zu werden. Er würde überhaupt nie heiraten; oder wenn er es tat, würde er schon nach sechs Monaten wieder geschieden sein. Und dann würde er Cynthia verfluchen, wie er jetzt Minnie verfluchte.

Als Jims Ärger sich abkühlte, trat sein Trieb zu schmeicheln wieder in den Vordergrund. Es war ihm unerträglich, wenn man ihn nicht gern mochte, und er war überzeugt, daß er im Grunde liebenswert war. Es lag stets nur ein Mißverständnis vor, er brauchte es bloß aufzuklären und stand wieder bei aller Welt in Gunst. Woher hatte dieser Tugendbold Oliver nur seinen Zynismus und seine Strenge? Reine Unwissenheit, bloßes Vorurteil! Wahrscheinlich hatte man ihn zu dem Glauben erzogen, daß alle Schauspielerinnen unmoralische Geschöpfe seien und eine glückliche Heirat nur denkbar sei, wenn die Braut keusch ist wie eine Orangenblüte. Jim zündete seine Pfeife wieder an, und seine Gutmütigkeit kam wieder obenauf.

»Ich nehme an«, sagte er lächelnd, »daß du bei deiner ausgedehnten Erfahrung schon von der Liebe kuriert bist. Du weißt, sie dauert nicht. Dein Vater pflegte zu sagen, daß die Liebe bestenfalls zwei Jahre vorhält, denn unter normalen Gesellschaftszuständen ist dann das erste Kind geboren und die Grundlage für das zweite gelegt. Danach ist der Mann ein pater familias und braucht jetzt, als rechtmäßiger Eigentümer, kein Liebhaber mehr zu sein. Das ist alles ganz schön und gut; aber es hört sich ein bißchen theoretisch an, wenn einer wirklich verliebt ist. Jeder Mensch glaubt, sein Fall sei eine Ausnahme; und er hat recht, denn jeder Fall ist wirklich verschieden von allen andern.«

Oliver fühlte sich wider Willen versöhnt und erwärmte sich aufs neue für diesen warmblütigen, handfesten, ehrlichen, gescheiten Menschen. Aber da ertönte der Gong, der in der zweiten Klasse zum Lunch rief, und Oliver dachte an seine Mutter. Er verabschiedete sich mit einem etwas undeutlichen Lebewohl und der Verheißung, daß er vielleicht bei gutem Wetter manchmal zum Lesen ans Ende des Hecks kommen würde. Jim antwortete nur mit zustimmendem Kopfnicken und ließ den Jungen allein und etwas verlegen weggehen, als müsse er sich schämen, erster Klasse zu fahren und einen so liebenswürdigen Freund im Stich zu lassen, weil der vielleicht in mehr als einem Sinn zur zweiten Klasse gehörte. Und dieser Freund schämte sich seinerseits nicht im mindesten wegen seiner Zweitklassigkeit, betrachtete sie im Gegenteil als eine sehr vorteilhafte Position, von der aus er alle andern Klassen nach ihrem wahren Wert (der allerdings stets schwankend blieb) beurteilen und sie alle gelegentlich benutzen konnte – je nachdem wie es eben die Glücksumstände erlaubten – wobei das wahre innere Selbst völlig frei, neutral und klassenlos blieb. Nein, Jim Darnley begleitete seinen reichen Freund nicht nach vorn an die Schranken der ersten Klasse, vor denen er schimpflich hätte Halt machen müssen. Er würde hier bereitstehen und auf Olivers Rückkehr warten. Und seine Augen folgten der jugendlichen, hinwegschreitenden Gestalt mit einem schlauen Ausdruck, in dem sich Verachtung und Wohlwollen mischten.


 << zurück weiter >>