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7

Beim Lunch machte sich Vanny dadurch nützlich, daß er dem Kellner die Wünsche seiner Gastgeber vermittelte. Für sich und Oliver schlug er Zitronenlimonade vor, ohne jedoch ein oder zwei Glas von dem funkelnden Rheinwein zurückzuweisen, den sein Onkel trank. Er wußte vielseitig über die Schule, den Hof und das Schloß zu plaudern und würdigte aufmerksam die Scherze seines Onkels, indem er bescheiden murmelte: »O, wie dumm von mir«, wenn er die Pointe nicht gleich verstand. Er brachte es fertig, sogar derartige kleine Begriffsstutzigkeiten zu einem Kompliment zu gestalten, da er sie sogleich auf das Mißgeschick zurückführte, niemals in dem gelobten Lande Amerika gelebt zu haben; und es machte Peter doppeltes Vergnügen, ab und zu seine Witze erklären zu müssen und so ihre ganze verborgene Würze doppelt zu genießen. Wirklich tragen ja alle Dinge ein so unerschöpfliches Maß von Absurdität in sich, daß man eines Spaßes, den man einmal richtig erfaßt hat, nicht so leicht müde wird.

Gegen Ende des Mahles wurde Peter indessen still und hustete wiederholt; schließlich ging er für einen Augenblick hinaus, und als er zurückkam, sah er sehr blaß aus. Es war ein kühler, regnerischer Tag, hier und da brachen Fluten von Sonnenschein durch die aufgetürmten Wolkenmassen. Er sagte, er habe sich erkältet und wolle sich in einem Zimmer des Hotels ein Kaminfeuer anzünden lassen und ruhen; inzwischen könne Mario seinem Vetter die Sehenswürdigkeiten zeigen.

Die beiden Jungen machten sich auf, und der Cicerone begann sogleich mit seinen Erklärungen.

»Das ist der Turm Heinrichs des Dritten, er ist echt, aber der große runde Turm dort ist nachgemacht, er ist innen hohl und hat kein Dach. Den hat Georg der Dritte gebaut, um die Aussicht des Schlosses vom ›Kupferpferd‹ aus zu verschönern, weil er schon wußte, daß er dort bis zum Jüngsten Tage sitzen und herüberstarren muß.«

Der Scherz verpuffte wirkungslos, und nun war Vanny an der Reihe, seine witzige Anspielung zu erklären. Übrigens war in Olivers Augen ganz offenkundig ein Turm so gut wie der andere. Vanny nahm also taktvoll von weiteren architektonischen Erläuterungen Abstand und führte seinen Vetter in den Park.

»Natürlich kannst du ja nicht wissen, was das ›Kupferpferd‹ ist; wie kämst du dazu? Die Königin Viktoria wußte es auch nicht. ›Was ist das?‹ fragte sie einmal, als jemand diesen Ausdruck zufällig gebrauchte. ›Die Statue, Majestät, am Ende der Allee.‹ ›Aber nein, das ist doch kein Kupferpferd. Es ist das Standbild meines Großvaters.‹ Von hier aus kannst du es nun sehen – dort, der graue Fleck am Himmel zwischen den Bäumen! Da es tatsächlich König Georg den Dritten vorstellt, wie er stolz als Standbild einherreitet und sein eigenes hohles Werk mit Hochmut und offenkundiger Befriedigung betrachtet, sagte ich vorhin, er habe den Turm erbaut, damit er ihn von seinem Denkmal aus zum Gegenstand seiner posthumen Betrachtungen machen könne. ›Dummer Kerl‹, wirst du sagen – mich meine ich damit, nicht Georg den Dritten. Und ich bin auch ein dummer Kerl, aber ich muß mich doch irgendwie amüsieren.«

»Bist du nicht gern in deiner Schule?«

»Eton ist Eton. Man hat gar nicht danach zu fragen, ob man es besonders gern mag oder nicht. Ich glaube übrigens, es ist besser als andere Schulen. Ganz gewiß aber ist es besser als die Äskulapschule, in der ich als kleiner Junge in Brüssel gewesen bin. Da waren wir solche faden Duckmäuser, mußten zu zweien und zweien in unserer Uniform über die Straßen gehen und machten so tolle Sachen, wie du dir's kaum vorstellen kannst. Natürlich ist Eton stark überfüllt. Man kann sich da ganz verloren vorkommen. Alles hängt davon ab, in welchem Haus man wohnt. In den unteren Klassen kann ein Junge entsetzlich viel auszustehen haben, wenn er empfindlich ist und nicht mit dem Strom zu schwimmen weiß. Mir ist's nicht so gegangen. Ich fand das alles so lächerlich. Man wird schon mächtig herumgepufft, aber in anderer Beziehung ist's auch manchmal famos. Ich hatte Glück mit meinem ›Fagmaster‹. Mußte immer munter aussehen und bekam die meiste Zeit kein Frühstück. Aber dafür beschützte er mich auch. Er war ein entsetzlicher Hitzkopf, und mir sind manchmal die Augen übergegangen. Aber in diesem Semester, wo ich schon in der fünften Klasse bin, ist die Bahn für mich frei. Man wird leicht beiseite geschoben und vergessen, aber man kann dann so ziemlich machen, was man will. Auch mein ›Tutor‹ ist famos; zwar ein bißchen verschnupft, weil ich so schlecht in Griechisch bin, obgleich ich Sappho und Anakreon für ihn auswendig gelernt habe; aber dafür schätzt er meine lateinischen Verse – ich schreibe sie aus alten italienischen Büchern ab. Manchmal sind meine Quantitäten falsch – das nimmt er so schwer, der arme Mann – aber sonst, sagt er, haben sie ganz die Atmosphäre der Renaissance. Wir machen immer um die Wette lateinische Verse, das ist ein netter Sport.

Aber du darfst Eton nicht nach mir beurteilen. Ich bin doch hier so was wie ein Paria und halte mich dadurch schadlos, daß ich alle auslache. Natürlich bin ich auch lächerlich, aber ist das nicht jeder? Der Unterschied besteht darin, daß manche Leute es einsehen und manche nicht. Ich mache die Leute hier ziemlich ratlos, und sie überlegen sich schon, ob es nicht richtig wäre, meiner Mutter zu schreiben, daß ich lieber meine Studien anderswo fortsetzen sollte.«

»Aber warum denn?«

»Ich bin ein schlechtes Element. Ich erkläre den Jungen, was die Liebe in Wirklichkeit ist, und obwohl sich die Jungen alle schrecklich dafür interessieren, nimmt Mr. Rawdon-Smith, der Junggeselle ist, Anstoß daran.«

Oliver sah Mario recht fest an und sagte: »Und was ist die Liebe in Wirklichkeit

Plötzlich schämte sich der Kleine. Zum ersten Mal fühlte er, daß er jünger war als sein Vetter. Er kam sich niedrig vor. Doch in der Äskulapschule in Brüssel hatten sie ihn wenigstens gelehrt, wie man sein moralisches Gleichgewicht durch Geständnis, Selbsterkenntnis und demütigen Tonfall wiedergewinnt, und er rief aus: »Entschuldige, ich rede Unsinn.«

Oliver bemerkte, daß Mario sehr rot geworden war, und daß seine Augenlider zuckten. Aber statt sich erkältet und zurückgewiesen zu fühlen, ergriff er überraschenderweise plötzlich Olivers Arm und zog ihn vom Eingang des Schlosses, auf den sie zugegangen waren, fort.

»Hör mal, du hast eigentlich gar keine Lust, dir die St. Georgskapelle oder die Staatsgemächer anzuschauen, nicht wahr? Wenn nicht, dann lassen wir es natürlich. Wenn es dir lieber ist, können wir statt dessen einen Spaziergang zum ›Kupferpferd‹ machen.«

»Ich glaube, ich müßte eigentlich alle diese Sachen besichtigen«, sagte Oliver, indem er seine Abneigung gewissenhaft bezwang, »aber ich brauche ein bißchen Bewegung, und Bäume sind mir tatsächlich lieber als Gebäude.«

»So geht es allen Amerikanern, nur geben sie es meistens nicht zu. Es ist ganz natürlich, denn zu Hause lebt ihr doch gewissermaßen im Urwald – das heißt, wenn ihr nicht gerade mit einem Expreßaufzug in das neununddreißigste Stockwerk hinaufsaust.«

Während Vanny das sagte, drückte er Olivers Arm ein wenig, wodurch er ihm klar machen wollte, daß er sich nur deswegen über die Amerikaner lustig machte, weil er sich eben über alles lustig machen mußte und gar zu gern gesehen hätte, daß sich Oliver mit ihm zusammen über alle Welt amüsierte.

»Ich wünsche mir manchmal, wir wohnten richtig draußen, statt nur in Great Falls. In England scheint man viel mehr als in Amerika auf dem Land zu leben, selbst hier, in der Nähe von London. Es mag ja alles etwas künstlich sein, aber wie grün und weit und still ist es hier! Nur glaube ich, wenn etwas so still ist, dann ist es schon wie tot.«

»Manche von diesen alten Bäumen sind auch wirklich tot, überhaupt geht die ganze Sache hier langsam zu Ende. Du bist gerade noch zur rechten Zeit gekommen, um einen Blick darauf zu werfen, ehe alles vorbei ist. Das Alte muß ja früher oder später sterben, aber die Dinge mit langer Vergangenheit haben manchmal ein besonders zähes Leben. Wenigstens ist es so bei unbezahlten Rechnungen.«

Während sie unter solchem Geplauder dahingingen, kam über Oliver etwas wie übersinnliche Entrücktheit; ein Schleier aus Ferne und Vergänglichkeit schied sein Innerstes von seinen Worten. Nur sein Mund formte seine Worte. Sie waren ein Echo von Worten, die seine Mutter, Fräulein oder Letitia Lamb gesagt hatten. Wenn er sprach, kam es ihm vor, als sprächen eigentlich sie, während ein neues Selbst oder vielmehr ein neuerwecktes ewiges Selbst zuzuhören schien. Wie? waren die Bäume tot? Sogar die ausgehöhlten, die wie ägyptische Sarkophage dastanden, schienen noch dicht und grün, und ihre hageren Äste trieben üppige Sprossen. Waren diese Hirsche tot, die ihn mit glänzenden Augen anschauten? Waren diese Kinder tot, die hier so frisch und schmuck und wohlerzogen in ihren Ponywagen vorüberfuhren wie in Blumenkörben? Oder war Mario tot? Gab es auch nur eine tote Stelle an ihm? Ach, der hatte im kleinen Finger mehr Leben als Oliver im ganzen Körper. Er war ein Feuerfunke, aus schnellzündendem Gefühl und strahlendem Licht geschaffen.

Peter Alden hatte sich zwei Stunden ausgeruht und erwärmt, trotzdem fürchtete er sich geradezu bei dem Gedanken, den Schloßberg hinunterzugehen und die High Street in ihrer ganzen Länge durchwandern zu müssen. Er wollte jedoch seinen Neffen nicht enttäuschen und sich auch nachher nicht sagen müssen, er habe im Grunde genommen diese ganze Fahrt umsonst gemacht. Also beschloß er, sich weise mit ein wenig Medizin zu stärken und dann im Wagen hinzufahren.

Vanny entschuldigte sich, daß sein Zimmer etwas in Unordnung sei. Wirklich stand dort eine runde, noch feuchte Gummiwanne gegen die Wand gelehnt neben einem merkwürdig schmalen und hohen Möbelstück, das einen Schrank vortäuschen sollte, aber in Wirklichkeit das Bett enthielt. Eine Jacke, eine Mütze und ein Paar alte Handschuhe mußten erst von dem recht gebrechlichen Sessel entfernt werden, der für den Onkel bestimmt war. Die Jungen hockten sich auf einen Stoß Bücher. Mit diesen Büchern hatte er Glück, erklärte Vanny, denn da sie nichts mit dem Unterricht zu tun hatten und meistens französisch oder italienisch waren, klaute sie ihm niemand. So brauchte er nur die Eselsbrücken und die Wörterbücher zu verstecken.

»Keine sehr erfreuliche Aussicht«, bemerkte Peter, als er aus dem Fenster sah und nichts als einen tiefen Schacht erblickte, der von Schornsteinen und Dachfenstern überragt wurde.

»Scheußliches Loch«, gab Vanny zu, »aber es ist hier sowieso den ganzen Tag dunkel und niemand schaut aus dem Fenster – daher macht's nicht viel aus.«

Das Teegeschirr jedoch, das nun auf eine mit einem Tischtuch bedeckte Holzkiste gestellt wurde, erwies sich als untadelig. Vanny besaß ein kleines, blitzblank geputztes silbernes Service, in dem sich behaglich die tanzenden Lichter zweier Kerzen spiegelten. Das Porzellan war hübsch, wenn auch nicht kostbar, und ein festlicher Kuchen und ein Teller mit kleinen Sandwiches standen bereit.

In Great Falls verfügte Oliver über ein geräumiges Schlafzimmer mit einer sonnigen Schlafveranda, ein Badezimmer mit allem, was dazu gehörte, ferner über ein Arbeitszimmer mit Bücherwänden – es war keine Gefahr, daß jemand seine Bücher stahl – das mit Schreibtisch, Perserteppichen und tiefen Ledersesseln ausgestattet war; außerdem benutzte er das alte Spielzimmer unter dem Dach als Gymnastikraum. Doch trotz dieses Luxus und dieser Weitläufigkeit hätte er niemals jemanden zum Tee bitten oder anderswo Besuch empfangen können als in dem allgemeinen Wohnzimmer unten. Wollte er aber irgend etwas auf sein Zimmer haben, und sei es nur ein Glas Wasser, so mußte er es sich selbst im Eßzimmer holen. Dieser schäbige kleine Raum hier kam ihm im Vergleich dazu fürstlich vor. Hier waren Festlichkeit, Freiheit, Offenheit, Gelächter, Herrentum und Einfachheit zu Hause. Hier gab es keine Geheimnisse zu verbergen. Gäste wurden ohne Umstände willkommen geheißen und unbefangen mit dem, was man eben hatte, bewirtet.

Gleich darauf trat Mr. Rawdon-Smith in Erscheinung, ein großer, knochiger Mann – er hatte ehemals für Cambridge gerudert – mit dichtem, krausem, grauem Haar und einem fest zusammengepreßten Mund; er trug die eine Schulter merklich höher als die andere. Seine weiße Kravatte saß schief und drohte aufzugehen, und seine sehr großen und roten Hände waren stellenweise schmutzig. Er sagte bloß »Hm« zu den Gästen, gab ihnen, ohne sie anzusehen, lahm die Hand, fegte mit einer einzigen Bewegung die Jacke, die Mütze und die Handschuhe auf den Boden und nahm auf der schmalen Fensterbank Platz. Dann schob er seine Nase über das Teegeschirr vor und sagte:

»Ich hoffe, du hast ein einfaches Butterbrot für mich. Ich kann deinen unverdaulichen gekauften Kuchen und deine schmierigen Sandwiches nicht essen. – Drei Stück Zucker, bitte, oder besser vier. Sie sind recht klein. – Und Sie, mein Herr, sind, wie ich höre, Vannys Vormund?«

»O nein«, erwiderte Peter gemütlich, und sein freundlich amüsierter Ton verriet das heimliche Vergnügen, das ihm die schlechten Manieren dieses vornehmen Pädagogen bereiteten. Woher kam es, daß gerade unter der Leitung von Priestern und Pedanten, die häufig selbst nicht eine Spur von Erziehung und Weltkenntnis besaßen, die kommende Generation sich eben diese Werte in Hülle und Fülle zu erwerben schien? Kam es davon, daß die Jungen gegen Personen, die sie verachteten, Ehrerbietung und Verstellung üben mußten? Kam es davon, daß sie selbst unter den übertriebensten schulmeisterlichen Auswüchsen noch das Vorhandensein einer festen Überlieferung und einer edlen Pietät entdeckten? Oder war vielmehr der Grund der, daß Knaben unter einer belanglosen geistlichen Tyrannei fähig wurden, sich gegenseitig – und manchmal auch einen Lehrer – zu erziehen, indem sie genaue Spielregeln für ihr freies Leben aufstellten und es lernten, sich nur um einige wenige Dinge zu kümmern, die sie sich ausgesucht hatten und schön fanden, alles aber, was sonst noch in ihren Gesichtskreis trat, verachteten und nur ertrugen? Sicherlich: diese Haltung herrschte bei den Schülern in Eton vor. Die jungen Barbaren spielten nicht nur auf ihren Sportplätzen, sondern (unter der ahnungslosen Mithilfe ihrer Lehrer) auch in der Schule und in der Kirche; denn was war diese ganze schöne, verblichene Religion und diese schöne, verblichene Gelehrsamkeit anders als ein Spiel der Einbildungskraft? Sport treiben, spielen, Vertrauen haben, zusammenhalten und die Eingebungen des Herzens veredeln – ergab sich aus alledem nicht das Prinzip der Ehre, der aristokratischen Freiheit, der Treue und des Mutes, das den Mann zum Gentleman machte?

Diese Gedanken gingen Peter durch den Kopf, während seine Lippen fortfuhren, sich höflich mit Mr. Rawdon-Smith zu unterhalten. »Marios natürlicher und gesetzlicher Vormund ist selbstverständlich seine Mutter; aber seine Großmutter, meine Schwester, hat es auf sich genommen, seine Erziehung zu bestreiten. Seine Großmutter möchte wissen, wie er in Eton vorwärts kommt, und in ihrem Auftrag sowie zu meinem Vergnügen bin ich hier, um ihn zu besuchen.«

»Genau genommen also«, sagte Mr. Rawdon-Smith, indem er seine erste Tasse Tee austrank und die zweite verlangte, »sind Sie gar nicht Vannys Vormund.«

»Nein.«

»Und habe ich richtig verstanden, daß seine Großmutter, die über ihn die entscheidende Autorität auszuüben scheint, Ihre Schwester ist?«

»Ja.«

»Dann ist, genau genommen«, fuhr Mr. Rawdon-Smith fort, indem er die Lippen zusammenzog und sich an Mario wandte, der Oliver gerade das Wandschränkchen zeigte, wo er sein Teegeschirr und seine andern Schätze aufbewahrte, »dieser Herr, den du mir als deinen Onkel und Vormund bezeichnet hast, nicht dein Vormund und auch nicht einmal dein Onkel.«

»Nein, Sir, aber ich sagte ja auch ›so gut wie mein Vormund‹; und er ist mein Großonkel, also noch was Größeres.«

»Das ist entschieden ein entfernterer Verwandtschaftsgrad. Aber vermutlich sind in Amerika, bei den vielen Ehescheidungen und der Verstreutheit der Einwohner über unzugängliche Territorien, die Familienbeziehungen ziemlich verwickelt und schwierig auseinanderzuhalten, und man kann froh sein, wenn man überhaupt Leute hat, die, um deinen Ausdruck zu gebrauchen, so gut wie Onkel oder sonstige Verwandte sind. Du konntest uns ja auch niemals auseinandersetzen, welcher Art eigentlich deine Beziehungen zu dem Obersten van de Weyer sind; aber wenigstens war dein Name vornehm und uns bekannt. Das gab uns Anlaß, große Hoffnungen auf dich zu setzen; und tatsächlich wirktest du ganz wie ein englischer Junge, jedenfalls nicht wie ein amerikanisches Kind. Meine Schwester und ich«, fuhr der Hausvorstand fort und wandte sich wieder an Peter, »wir haben Vanny sehr gern. Wir haben alle unsere Jungen gern. Aber wir bekommen so viele Bewerbungen von altbekannten Familien, die ihre Söhne hierher schicken möchten; und natürlich bevorzugen wir nach Möglichkeit unsere eigenen Leute. Nicht daß der Direktor und ich irgendwelche Vorurteile hätten! Wir glauben an den gesunden Geist im gesunden Körper. Selbstverständlich erwarten wir von allen unseren Jungen, daß sie Gentlemen sind; obgleich zum Beispiel unsere Freischüler nicht unbedingt sämtlich Gentlemen von Geburt zu sein brauchen. Ich selbst war ein Freischüler und rechne es mir zur Ehre an. Wir freuen uns bei dem Gedanken, daß männlicher Geist, eine reine Religion und eine freie Regierungsform von der Vorsehung nicht einzig für die Engländer bestimmt sind. Wir freuen uns zu sehen, wie sich diese Errungenschaften mit dem Fortschritt der Welt weiter und weiter verbreiten. Aber wie wäre das länger möglich, wenn wir zuließen, daß diese segensreichen Mächte schon an der Quelle vergiftet werden?«

»Ich verstehe Sie vollkommen«, erwiderte Peter. »Meine Leute in den Vereinigten Staaten fühlen genau wie Sie. Und was Mario betrifft, so hat seine Familie schon öfter erwogen, ob es nicht klüger wäre, ihn seine Ausbildung drüben beenden zu lassen. Trotzdem würden wir ihn aus Rücksicht auf den letzten Wunsch seines Vaters nur ungern von hier wegnehmen, besonders wenn er selbst gern dableibt, und wenn Sie ihn weiterhin behalten wollen.«

»Natürlich möchte ich gern hier bleiben«, warf Mario dazwischen, »damit ich meine Mutter in den Ferien besuchen kann. Wenn ich nicht hier bleiben kann, will ich ganz bei ihr leben. Es ist doch nicht unmöglich, in Paris zur Schule zu gehen. Ich könnte die Ecole des Beaux Arts besuchen. Ich glaube nicht, daß ich je in Amerika leben werde, und wenn zum Beispiel Groton eine besonders gute Schule wäre, hättest du doch Oliver dahin geschickt.«

Der arme Peter fühlte sich getroffen. Nicht weil er irgendwelche Illusionen über Groton hegte oder je den Wunsch gehabt hatte, Oliver dorthin zu schicken. Aber er mußte lachen, wenn er daran dachte, wie vergeblich ein solcher Wunsch auf alle Fälle gewesen wäre.

»Groton? Du meinst Gro-ton?«, wiederholte Mr. Rawdon-Smith fragend. »Ich glaube, ich habe schon von einer derartigen Schule gehört. Sie liegt da bei Kanada, glaube ich.«

»Vielleicht haben Sie von dem Reverend Mr. Peabody gehört, der dort Direktor ist. Er war früher in Cambridge, es muß ungefähr zu Ihrer Zeit gewesen sein.«

»Nein, habe niemals von dem Menschen gehört. – Halt, einen Augenblick! War da nicht einmal ein Amerikaner, der irgend eine Wohltätigkeitsinstitution in London ins Leben gerufen hat? Wahrscheinlich kam er auch auf den Gedanken, eine Anstalt nach dem Muster unserer Public Schools in seinem eigenen Lande zu gründen. Ein sehr guter Einfall, aber hat er sich wohl durchführen lassen? Haben seine Public Schools irgendwelche Ähnlichkeit mit unseren?«

»Wir haben schon von jeher in jedem kleinen Nest eine Public School gehabt«, erklärte Oliver etwas ärgerlich. »Wir brauchten keinen Mr. Peabody, um sie einzuführen.«

»Wieso? Sie meinen wohl Volksschulen, höhere Lehranstalten oder Internate? Unter Public Schools versteht man hier bei uns etwas anderes. In eine Public School werden nur die besten Schüler auf Grund einer Prüfung aufgenommen.« Und Mr. Rawdon-Smith verbreitete sich des weiteren über den Charakter der englischen Public Schools im allgemeinen und über die hervorragende Stellung Etons im besonderen, während Mario seine Erklärungen mit mehr oder weniger humorvollen Anmerkungen versah. »Sie sehen«, schloß der Hausvorstand, der von dem Gegenstand des Gesprächs sehr begeistert war und fand, daß dieser hochgewachsene amerikanische Jüngling trotz seiner rauhen Sprechweise doch recht aufmerksam und intelligent sei, »wir sind der Ansicht, daß Eton und Winchester in eine ganz besondere Klasse gehören, gewissermaßen seelisch vornehmer sind als andere Schulen. Und doch gibt es auch innerhalb dieser engeren Klasse noch Unterschiede. Winchester ist weltabgewandter, abgeschlossener. Die Jungen dort werden vielfach Geistliche oder ergreifen einen der sogenannten gelehrten Berufe, während aus Eton, das näher an London und im Schatten des Schlosses von Windsor liegt, mehr Soldaten, Staatsmänner und Weltleute hervorgehen.«

Vannys Augen zwinkerten übermütig. »Unser Tutor meint, daß Eton und Winchester schon deshalb unnachahmlich sind, weil Heinrich der Sechste und William von Wyckham Heilige waren und jetzt im Himmel für uns Jungen beten, wahrscheinlich auch für die Lehrer, nur daß die es freilich nicht nötig haben; obwohl Mr. Mildmay darüber nichts gesagt hat. Jedenfalls wird keiner von uns, die wir in Eton oder in Winchester waren, je in die Hölle kommen, selbst wenn wir Atheisten werden und Selbstmord begehen; denn, sagt der Tutor, zwischen dem Augenblick, wo man den Hahn spannt und dem, wo der Tod eintritt, hat die Gnade immer noch Zeit genug, um zu wirken; und ich glaube ja auch, daß irgend ein armer Kerl, der in die Themse geht, weil sein Mädel ihn betrogen hat, beim ersten Schluck Salzwasser und Schlamm noch Zeit findet, zu wünschen, er hätt's lieber nicht getan. Aber sehen Sie, wenn die Burschen von Harrow oder Rugby vor die Hunde gehen, dann werden die Heiligen im Himmel sich den Teufel drum scheren – oh, Verzeihung!«

»Unsinn«, rief der Hausvorstand, den eine so unanständige Vertrautheit mit religiösen Dingen (als gäbe es wirklich eine andere Welt!) irgendwie ärgerte. »Mr. Mildmay macht sich über euch lustig. Diese gescheiten jungen Leute sind gern etwas phantastisch. Ihr müßt nicht glauben, daß sie alles ernst meinen, was sie sagen.«

»Er gibt ja zu, daß diese Sache mit dem heiligen Heinrich und mit dem heiligen William von Wyckham nur eine fromme Meinung und bis jetzt noch kein Dogma der allumfassenden Kirche ist. Aber er sagt, die alten Konzile hätten nichts anderes getan als fromme Meinungen zu katholischen Lehren gemacht; und wenn wieder einmal ein echtes ökumenisches Konzil stattfände, könnte es leicht geschehen, daß seine wundervolle Idee wirklich zu einem Glaubensartikel würde.«

»Gefährliche Leichtfertigkeiten«, brummte Mr. Rawdon-Smith, »höchst gefährliche Leichtfertigkeiten! Das würde dem Direktor gar nicht gefallen. Mr. Mildmay ist ein sehr gelehrter junger Mann, besonders bewandert in Vulgärlatein und spätem Griechisch; aber es mangelt ihm an Erfahrung. Er wird bald einsehen, wie zwecklos es ist, seine Schüler mit solchen byzantinischen Phantasien zu verwirren. Bastard-Theologie, weiter nichts! Und, was schlimmer ist: geschmacklos, sehr geschmacklos!«

Damit wandte sich Mr. Rawdon-Smith, in der Hoffnung, für seine gesunden Grundsätze Bestätigung zu finden, an Peter, der schon eine Weile Schweigen bewahrt hatte. Aber Peter saß ganz schlaff mit geschlossenen Augen in seinem Sessel; sein Kopf war auf die Schulter gesunken. Der Lehrer und die beiden Jungen sahen einander an, und keiner wagte zunächst sich zu rühren; doch bald gewann Mr. Rawdon-Smith seine befehlshaberische Sicherheit wieder.

»Was? Eingeschlafen? Sie schlafen, Herr, während ich mit Ihnen rede? Das geht doch nicht, das geht doch nicht!« Und der wütende Schulmeister war im Begriff, den armen Peter aus seinem friedlichen, aber unhöflichen Schlummer zu reißen, als er unerwartet an etwas Hartes stieß und sich ziemlich weh tat. Es war Olivers Arm, der entschlossen dazwischen fuhr. »Rühren Sie ihn nicht an!« rief Oliver mit gedämpfter Stimme, wie an einem Krankenbett. »Er ist nicht wohl. Ich weiß schon, was zu tun ist.« Er hatte plötzlich, gleichsam auf telepathischem Wege, den Geist Jim Darnleys – an den er den ganzen Tag über nicht gedacht hatte – an seiner Seite gespürt und von ihm Sicherheit empfangen. Jim wäre mit einer solchen Lage vorbildlich gut fertig geworden, Oliver war bestimmt nicht weniger fähig dazu. »Lauf und schau, ob der Wagen noch vor der Tür steht«, sagte er zu Mario. »Mein Vater hat sich heute morgen erkältet«, erklärte er Mr. Rawdon-Smith, der sich ans Fenster zurückgezogen hatte, zornschnaubend aber ratlos, wie er diese Eindringlinge, die doch nicht gerade seine Schüler oder seine Angestellten waren, züchtigen könnte. »Er hat wahrscheinlich irgend eine Medizin, ein Beruhigungsmittel, genommen, das ihn nun betäubt hat.«

Ja, der Wagen wartete noch unten. Man brauchte nur ein paar Stufen hinunterzugehen. Oliver war entschlossen, dies Haus sofort zu verlassen. Draußen im Freien wollte er sich dann in Ruhe überlegen, was zuerst zu geschehen hatte. Er legte seinem Vater die Hand auf die Schulter, wie er es Jim hatte tun sehen, und sprach leise, aber sehr deutlich in sein Ohr: »Es ist Zeit zu gehen. Sieh zu, ob du aufstehen kannst!« Und mit dem Beistand seines Sohnes kam Peter, der die Augen nur halb öffnete, langsam auf die Beine und ließ sich schleppenden Schrittes, aber ohne weitere Schwierigkeiten hinausführen. Selbst in den Wagen gelangte er wider Erwarten leicht. Mario stieg zuerst ein und half seinem schlafwandlerischen Onkel von innen, während Oliver ihn von rückwärts unterstützte und nachschob.

Mr. Rawdon-Smith warf ihnen von seiner Haustür aus finstere Blicke nach; als er sich endlich auf dem Absatz umdrehte, fühlte er, wie sich die heiße Welle seines Zornes legte. Wenigstens war der alte Trunkenbold weggeschafft worden, bevor einer der andern Lehrer zu der geplanten Besprechung sein Haus betreten hatte.


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