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Die Themse hatte Hochwasser. Beim Bootshaus der Universität war der Treidelpfad überschwemmt, und Oliver glaubte schon, er müsse umkehren und auf der Landstraße nach Iffley gehen. Aber seine schweren Militärstiefel waren garantiert wasserdicht, und indem er an den Zäunen entlang ging, hie und da ein wenig durch die Nässe watete oder einen tüchtigen Sprung tat, erreichte er endlich festeren Kiesboden. Es waren damals die trübsten, schwärzesten Tage des Krieges; Rußland war zusammengebrochen, und die Menschen warteten stumpf auf den letzten deutschen Generalangriff im Westen. Die Müdigkeit und das Gefühl, unendlich viel ertragen zu haben, schien die Furcht zu ertöten und eine dumpfe Resignation hervorzurufen, die mit der vagen Zuversicht vermischt war, daß alles irgendwie in Ordnung kommen werde. Die bloße Wucht, das bloße Triebwerk des Krieges hielt den Körper nach wie vor in Bewegung und ließ die Seele in tiefer Teilnahmslosigkeit zurück.
So wanderte Oliver schwerfällig seines Weges, nicht im mindesten in der Stimmung des beurlaubten Soldaten, der auf Freiersfüßen geht. Der Himmel in seinem Herzen war so bleiern wie der über seinem Haupte. Er sog fast selbstquälerisch während seines Marsches die Luft dieses kalten, feuchten, trüben Nachmittags ein. Er bemerkte die Leere und Verlassenheit der Felder, deren Hecken und Zäune, seltsam verkürzt und verzwergt, aus dem grauen Wasser ragten wie unvollständige Kreuze auf einem Soldatenfriedhof an der Front. Er fühlte sich durchdrungen von einer Trauer, die zu ruhelos und zu bitter war, als daß man sie Melancholie hätte nennen können. Hinter der Furcht, daß die Welt von gestern zerstört und verloren war, lag der Verdacht, daß sie niemals der Erhaltung wert, sondern eine grausame Posse und ein gemeiner Betrug gewesen war. In einem überschwemmten Feld jenseits des Flusses erblickte er, hoch und übergroß in der entstellten Landschaft, einen schwarzen Schwan. Noch nie hatte er in Oxford einen schwarzen Schwan gesehen. Wie kam der plötzlich hierher? Da schwamm er einsam, heimatlos und träge, tauchte seinen roten Schnabel ab und zu in das stille, undurchsichtige Wasser und schien sich unbewußt lustig zu machen über Olivers schmerzlichste Erinnerungen, die einstmals Hoffnungen gewesen waren.
Wie stolz, königlich und ohne Tadel war der ›Schwarze Schwan‹ auf der Höhe des Lebens einhergesegelt! Wie weise, gütig und bescheiden war sein Vater gewesen! Er hatte sein Leben als mißglückt betrachtet, und doch konnte es im Vergleich zu Olivers Dasein als abgeklärt und reich gelten. Und Lord Jim? Seit drei Jahren war er nun tot, und der Gedanke an sein unbekanntes Seemannsgrab verklärte sein Bild und entsühnte seinen nicht allzu glorreichen Lebenslauf. Jetzt konnte man ihn im besten Lichte sehen, als vollendete Verkörperung des Mannes aus dem Volke, nicht so wie stumpfsinnige Bildhauer den einfachen Frontsoldaten darstellen, als Puppe in Uniform, sondern lebendig und vergnügt, selbstsüchtig und durchaus nicht beschämt über die fleischlichen und bösen Triebe, die im Herzen jedes Menschen leben.
»Welche Kraft liegt doch in der sündigen Menschennatur«, dachte Oliver fast neidvoll, »und wie zäh und fruchtbar ist sie, wie sehr ist unsere ganze vielgerühmte Verfeinerung und unser ganzes Heldentum von ihr abhängig! Denn keine andere Kraft als die Lord Jims führt mich doch jetzt diesen schlammigen Pfad entlang – vielleicht auf einer letzten Pilgerfahrt vor meinem eigenen Ende – um mich mit seinem Vater zu beraten und seine Schwester zu heiraten.«
Nun erschien der niedrige viereckige Turm von Iffley zwischen den kugeligen Baumkronen; und als Oliver aufschaute und gerade seinen Schritt beschleunigen wollte, fiel sein Blick auf ein Bild, das zugleich fremd und bekannt, erwartet und unerwartet war. Im Garten vor dem Häuschen des Schleusenwärters neben den hochstämmigen Rosenstöcken, die er dort oft gesehen hatte, stand völlig unbeweglich Rose selbst, mit ihrem blonden Haar, das nur lose im Nacken durch ein schwarzes Band zusammengefaßt war. Ihr schwarzes Kleid betonte die feinen Linien ihrer Gestalt und die durchsichtige Zartheit ihrer Haut; sie war in der Tat eine blühende Rose neben verblühten Rosen!
»Du hier?«
»Wir wohnen jetzt hier.«
»Wie? Im Schleusenwärterhaus?«
»Ja, nach Vaters Tod hielten wir es für das beste, das Pfarrhaus sofort zu verlassen.«
»Nach deines Vaters Tod?«
»Ja. Er ist vor vierzehn Tagen gestorben. Ich schrieb dir gleich am selben Tag und nachher noch einmal. Aber ich wußte, daß du meine Briefe nicht bekommen hast; denn sonst hättest du doch telegraphiert.«
»Ich bin nicht beim Regiment gewesen. Ich war krank. Sie haben mich nach Paris und Arcachon geschickt. Die Briefe müssen verlorengegangen sein.«
Er hatte vergessen, sie zu küssen. Sie hatten sich nicht einmal die Hand gegeben. Sie trafen sich wie in der jenseitigen Welt, und eine lange Pause entstand. Es schien so trivial, Fragen zu stellen und Erklärungen zu geben. Was machte es aus, wie das alles zugegangen war, da man es doch tragen mußte, da das Letzte auf alle Fälle Trostlosigkeit und Tod war? Jedes von ihnen stellte sich nachdenklich vor, was wohl im Geiste des andern vorginge. Er dachte: »Sie sieht mich traurig an, nicht wegen ihres Vaters Tod, sondern weil ich einen so trübseligen Bräutigam abgebe. Es ist nett von ihr, daß sie nicht lacht. Sie fühlt, daß ich sehr krank, sehr nutzlos bin und sicherlich als nächster an die Reihe komme.« Rose dachte, daß er nicht so sehr durch die schlechten Nachrichten aus der Fassung gebracht sei als durch die Tatsache, sie hier unabhängig von ihm in diesem Arbeiterhaus zu finden, ohne daß sie ihn mit angstvollen Telegrammen verfolgt und ihn um Sicherung ihrer Existenz gebeten hatte. »Er ist entsetzt«, sagte sie zu sich selbst, »daß Mutter und ich uns darauf verstehen, arm zu sein.«
»Wollen wir hineingehen?« fragte er schließlich. »Ist deine Mutter zu Hause?«
»Ja, aber Mrs. Higgs ist bei ihr. Higgs, der Schleusenwärter, und sein ältester Sohn sind im Felde, und sie und ihre kleinen Jungen sind allein und besorgen die Schleuse. Deswegen war auch hier für uns Platz. Mrs. Higgs ist eine alte Freundin von Mutter.«
»Dann kannst du vielleicht mit mir irgendwo anders hingehen – spazierengehen, oder in die Kirche – und mir alles erzählen. – Der Pfarrer also auch!«
»Er schien auf das Ende zu warten«, begann sie, während sie ihm auf den Treidelpfad und über die Schleuse folgte. »Die ganze Zeit seit Jims Tod ging es bergab mit ihm. Du weißt ja, daß er dachte, es sei sein Fehler, daß Jim ein schwarzes Schaf und kein schneeweißes Lämmchen war, er hielt das für seine Strafe und glaubte, daß Jim unschuldig leiden müßte; deshalb hat er selbst viel mehr und viel schuldloser gelitten. Aber als Jim tot war, fühlte Vater, daß nun keine Sühne mehr von ihm verlangt wurde, und daß er es sich erlauben konnte, in Frieden zu sterben. Du weißt, wie wenig er schon immer gegessen hat. Jetzt verlegte er sich mehr und mehr aufs Fasten und saß die ganze Nacht über seinen Büchern. Er magerte zum Skelett ab, und als er tot dalag, war kaum eine Veränderung an ihm zu bemerken.«
»Und wie trägt deine Mutter den Verlust?«
»O, ganz gut. Natürlich jammert sie und macht sich Sorgen, was aus uns werden soll. Aber sie war ganz damit einverstanden und fast froh darüber, sofort aus dem Pfarrhaus auszuziehen, als sich herausstellte, daß der Amtsnachfolger ein junger Mann war, der noch keinen Haushalt hatte und gern unser Mädchen und den größten Teil der Möbel übernehmen wollte. Hier, wo wir keine Bedienung haben, wirtschaftet Mutter ganz vergnügt herum; und obgleich wir nur vorübergehende Mieter sind, scheint sie sich hier heimischer zu fühlen als in ihrem eigenen Haus. Sie hat niemals gern neben der Kirche gewohnt; das war nur ein Friedhof für sie. Mutter hat eine wunderbare Vitalität. Du würdest das vielleicht nach ihren klagenden Reden nicht denken, aber ihre Liebe zum Leben ist tatsächlich unbegrenzt; und auf Menschen, die so sind, wirkt der Tod anderer fast wie ein Sieg. Vater und ich sind ihr immer etwas fremd und geisterhaft geblieben, und vielleicht ist der Himmel der richtige Platz für uns. Dabei liebt sie uns auf ihre Art. Du hast ja gesehen, wie sie den Verlust Jims ertragen hat und vorher alle seine Sorgen – tapfer, voller Widerstandskraft, fast stolz. Und doch war Jim ihr Augapfel, einer von ihrer Rasse, ihrer Ansicht nach das Ideal des echten Engländers. Wenn sie die ärgsten Dinge über ihn sagte – denn sie nimmt stets das Schlimmste an – dann liebte sie ihn in Wirklichkeit am meisten. Er hatte das Recht zu tun, was er wollte, und seine bunten Federn sollten ihm nicht ausgerupft werden. Er eignete sich nicht zum Leiden wie wir andern, sondern nur zum Genießen. Und wenn alles gut mit ihm ging, dann triumphierte sie, wie sie auch triumphiert, wenn der Schaffner im Omnibus vergißt, das Fahrgeld von ihr zu verlangen, und sie es heimlich wieder zurück in ihre tiefe Tasche gleiten läßt.
Als Jim tot war, hatte sie das Gefühl, er befände sich nun wenigstens in Sicherheit und könnte nicht mehr erwischt werden. Sie könne an ihn denken, sagte sie, wie an den Helden eines Gedichts. Ganz anders Vater; er wurde zwar auch durch Jims Tod von einer lebenslänglichen Sorge erlöst. Das Kind der Natur war seinen Weg gegangen und hatte sein Ende gefunden; nun konnte er seinen Kummer Gott als Sühne darbringen, als Opfer der Erstgeburt. Danach ging Vater umher, als wiederhole er in seinem Innern beständig das Nunc dimittis und Consummatum est. Der Rest seiner Tage ist für ihn wie ein Traum gewesen. Seine Besuche in der Gemeinde machte er unweigerlich bei jedem Wetter, ebenso hielt er seine Predigten; aber sein Husten wurde schlimmer, und dann hat ihn der erste Einbruch des Winters hinweggerafft wie einen Sperling.
Sein Ende war friedlich und sein Geist klar. Er sprach wiederholt von dir. ›Verlaßt euch auf Oliver‹, sagte er immer. ›Gott hat ihn uns gesandt. Oliver wird für euch sorgen.‹ Dabei sind wir gar nicht wirklich bedürftig; wir könnten ganz gut auskommen, aber Vater war in diesen Sachen so unbestimmt und folgte gern dem evangelischen Rat, daß man ohne Stecken und Stab wandern und sich keine Sorge um den morgigen Tag machen soll. ›Ein Christ‹, pflegte er zu sagen, ›empfängt Almosen dankbar und demütig. Es wäre eine Beleidigung für Gott, wenn wir uns einbilden wollten, daß wir je von etwas anderm als von Almosen leben.‹ Und da bist du also – unser Almosengeber! Die Vorsehung hat dich gesandt, ohne daß du weißt, weshalb du gekommen bist.«
»Ich weiß aber doch, weshalb ich gekommen bin, und du weißt es auch. Hast du meinen Brief nicht erhalten?«
Sie schwieg.
»Natürlich werde ich für euch sorgen«, fuhr er fort, »aber es wird kein Almosen sein – dieser Ausdruck stammt nur aus der religiösen Redeweise deines Vaters – sondern die Vorwegnahme eines Rechtes oder sogar einer Pflicht. Ihr betrachtet mich doch jetzt schon als Familienmitglied? Du weißt doch, daß wir beide von jeher verlobt waren?«
Rose machte eine kleine geringschätzige Gebärde.
»Ich weiß, es war zuerst nur ein Kinderspiel, aber es war prophetisch und sollte eines Tages wirklich ernst werden. Ist jetzt nicht die Zeit dafür gekommen? Es wäre ein großer Trost für mich, zu wissen, daß niemand leiden müßte, und kein Schaden entstände, falls ich nicht aus dem Krieg zurückkäme. Andrerseits aber, wenn alles gut ginge: wie glücklich wäre ich dann bei dem Gedanken, daß ich etwas besitze, zu dem ich zurückkehren kann, daß du hier auf mich wartest, daß unsere ganze Zukunft unweigerlich besiegelt ist, daß wir sie, was auch kommen mag, gemeinsam erleben werden, daß du niemals verlassen sein wirst und ich niemals einsam sein werde.«
Um die überschwemmte Gegend am Fluß zu vermeiden, waren sie unwillkürlich in den breiten, grasbewachsenen Weg eingebogen, der hinter der Kirche bergauf führte. Wo der Weg nach Littlemore abzweigte, befand sich in die dichte Hecke eingeschnitten ein bequemer Zauntritt; hier setzte sich Rose hin und machte für Oliver auf der unteren Stufe Platz. Es war ganz ähnlich wie damals, als sie am zweiten Tage ihrer Bekanntschaft bei Radley auf dem Zaun gesessen und das Kricketspiel der Jungen beobachtet hatten. Und Oliver fühlte in seiner Empfänglichkeit für solche Wiederholungen einen Anflug abergläubischer Freude. Er sah wieder den hellen Spielplatz vor sich und die kleinen weißgekleideten Buben, die einander mit schrillen Stimmen zuriefen und sich auf dem Grün tummelten. Und da saß nun neben ihm die gleiche goldhaarige Fee, zu einer ernsten jungen Prinzessin herangewachsen, zu einer wunderbaren Sibylle, die bereit war, ihn in seinen verworrenen Abenteuern zu beraten. Sie sprach zu ihm; ihre sanfte Stimme war so klar und rein in ihrem Klang und sagte so einfach und streng die Wahrheit.
»Mein lieber Oliver«, hörte er, »du träumst. Du kannst niemals in das Iffley zurückkommen, das du gekannt hast. Jim ist tot. Du kannst nicht mehr aus seiner Nähe die animalische Wärme schöpfen, die du selbst nicht hast, oder die Meerluft, nach der du dich sehnst. Mein Vater ist tot. Im Pfarrhaus wohnen Fremde. Du wirst nie wieder unter deinem Baum in deinem Korbstuhl sitzen und in deinem Plotinus lesen, oder meinem Vater bei seinen Erklärungen über den Unterschied zwischen der himmlischen und irdischen Seele zuhören. Alles das ist vorbei und vergangen. Du kannst es niemals wieder zum Leben erwecken. Die Verhältnisse, deretwegen du an mich dachtest, die mir einen gewissen Platz in deinem Leben einräumten und mich beinahe unvermeidlich für dich machten, sind ein für allemal dahin. Losgelöst von diesem Hintergrund – was bin ich dir da, was kann ich dir je sein? Wenn du mich von hier wegbrächtest und mich in deine Heimat, in das harte Licht Amerikas, versetztest, dann würdest du eine völlig Fremde in mir entdecken, eine stille Plage, ein lebendes Gespenst. Du würdest mich schließlich hassen. Natürlich weiß ich, daß du immer gütig und großherzig gegen mich sein würdest, weil du dich dazu zwingen würdest. Aber ich wäre nur eine Last mehr für dich, eine Verpflichtung mehr zu all den andern Pflichten, die dich dort erwarten; vielleicht wäre ich der Gipfel deines Unglücks und der deutlichste tägliche Beweis für deine Einsamkeit.«
»Warum sagst du das? Vielleicht wären wir nicht vollkommen glücklich. Ist irgend jemand vollkommen glücklich? Wenn in meinem Leben wirklich ein Rest von Bitterkeit bleibt, so würdest du ihn mir sicherlich so sehr versüßen, wie keine andere Frau. Ich bin Amerikaner, es ist meine Pflicht, daheim zu leben, so sehr ich auch an England hänge. Ich denke, ich werde Professor werden – sonst eigne ich mich zu nichts – wahrscheinlich in meinem alten College. Es liegt auf dem Lande zwischen schönen Bergen, weit weg von jeder großen Stadt. Wir würden ein behagliches Haus haben, das wir nach unserem eigenen Geschmack ganz wie ein englisches bauen könnten, außerdem Autos und Pferde und sehr viele Bücher. Das Klima dort ist ein bißchen streng, aber angenehm und gesund. Der Winter, wo alles tief verschneit ist, würde dir sehr gefallen. Im Sommer könnten wir hierher reisen oder wohin du sonst willst. Du hast eine friedliche Natur, du würdest ein friedliches Leben führen. Meine Mutter wäre zunächst eine Erschwerung. Wir würden aber nicht bei ihr oder in ihrer Nähe leben; wir würden sie nur ein- oder zweimal im Jahre sehen. Sie ist eine Frau von sehr ausgesprochenem Charakter und fest eingewurzelten Anschauungen, und ich könnte mir denken, daß sie gegen dich eingenommen wäre. Sie hat Jim gehaßt, den sie nie gesehen hat; sie haßt Vanny, obwohl sie ihn nie gesehen hat; und trotzdem sie nicht das geringste gegen dich einwenden könnte, wird doch die Tatsache, daß du Jims Schwester bist, und daß er uns gewissermaßen zusammengebracht hat, sie sehr zu deinen Ungunsten stimmen. Ihre Animosität ist schrecklich, sie scheint sich auf die ganze Welt zu beziehen; und es täte mir freilich weh, wenn meine einzige nahe Verwandte keine Freundschaft für dich fühlte, da du doch sonst keine Freunde hättest.«
»Irgendwie scheine ich keine Freunde zu brauchen. Ich habe nie welche gehabt. Ich denke, ich könnte mit deiner Mutter schon auskommen; aber das ist nicht so wichtig. Ich frage mich nur, ob du selbst zufrieden wärst? So, wie du mir das Bild ausmalst, scheint es dir unsäglichen Kummer zu machen.«
»Ach, das kommt nur von meiner schlechten Gesundheit und vom Krieg. Ich kann den Alpdruck nicht abschütteln. Die Wolken sind so dicht, sie hängen nun schon so lange tief über uns, daß ich kaum an den Sonnenschein hinter ihnen glauben kann. Aber das wird vorübergehen. Es ist krankhaft. Wenn ich versuchen würde, mir eine Zukunft ohne dich auszumalen, würde sie doppelt so schwarz aussehen.«
»Du meinst, wenn du eine andere heiraten müßtest, wäre es sogar noch schlimmer. Aber warum mußt du überhaupt heiraten? Wie oft hat Vater gesagt, du wärst zu einem religiösen Leben berufen! Du machst dir nichts aus Geld, nichts aus dem Krieg und aus Frauen und allen weltlichen Dingen. Warum trittst du nicht einem religiösen Orden bei, den Franziskanern oder den Jesuiten? Weshalb runzelst du die Stirn?«
»Ich runzle die Stirn, weil ich mir aus der Religion nicht mehr mache als aus Reichtum oder Krieg; das heißt, ich liebe weder falsche Religion, noch ungerechten Reichtum, noch einen falsch begründeten Krieg, der um eines falschen Ruhmes willen ausgefochten wird. Ich würde mein Leben mit Freuden der Religion widmen, wenn es eine wahre Religion gäbe. Aber das Christentum und alle andern Religionen sind so kindlich verkehrt, daß ich mich wundere, wie manche Menschen mit ihnen auskommen können. Ich fragte manchmal deinen Vater, wie er nur immerfort die Sprache der Kirche gebrauchen könnte, während er sie im stillen auf eine Weise ausdeutete, von der sich die Kirche nie etwas hat träumen lassen. Und er antwortete mir dann mit tiefsinnigen Betrachtungen über den Symbolismus jedes Gedankens und jeder Sprache und selbst jeglicher durch die Sinne vermittelten Bilder: Alles, was sich auf Ideen beziehe, könne keine göttliche Wahrheit sein, und die Ideen selbst hätten nur symbolischen Wert; daher sei es berechtigt und unvermeidlich, in Bildern zu reden. Ich gab das alles zu und sagte, trotzdem bliebe es für mich unmöglich, die biblischen Geschichten in der Kirche in so ergriffenem Tone vorzulesen, als ob sie wahr wären, und über das Jüngste Gericht und Himmel und Hölle so zu predigen, als ob diese Begriffe Tatsachen wären, da ich doch bestimmt weiß, daß sie bloß Mythen und poetische Gleichnisse sind. Dein Vater begriff meine Schwierigkeiten vollkommen und sagte, er würde sie auch empfunden haben, wenn er anders erzogen wäre. Ihm war die Sprache der Kirche natürlich; und er war immer noch der Meinung, die Tatsachen des moralischen Lebens könnten keine erschöpfendere und angemessenere Auslegung finden. Für mich dagegen, der ich so gut wie ohne Religion aufgewachsen bin, wären nur die von der Naturwissenschaft und Weltgeschichte geschaffenen Bilder das Natürliche; und ich könnte keine andern mit Aufrichtigkeit gebrauchen. Er redete mir aus, Geistlicher zu werden, selbst Geistlicher der modernsten Richtung. Das seien nur Anpassungen, die in gewissen Kreisen zeitweise unvermeidlich wären; aber ich sei ein bevorzugter Geist, könnte allein stehen und den Schauplatz des Lebens unparteiisch betrachten; und wenn diese Einsamkeit auch etwas Trauriges hätte, so sei sie immerhin asketisch, religiös und ein Tribut an den wahren Gott. Du siehst also, ich möchte – selbst wenn ich zu einem religiösen Leben berufen wäre – keinesfalls einem kirchlichen Orden angehören. Ich habe daher keine Berechtigung, auf die Ehe oder mein Geld oder irgend einen Platz, den ich in der Welt ausfüllen könnte, zu verzichten. Wenn ich das täte, würde ich deswegen nicht religiöser leben. Ich würde dann nur ohne Frau, ohne Vermögen, ohne weltliche Aufgabe leben und zudem noch ohne Religion.«
»Du wärst nicht ohne Aufgabe in der Welt«, sagte Rose mit veränderter Stimme, die wie die Stimme ihres Vaters klang, »wenn du die Welt oder nur dich selbst verstehen könntest. Gibt es einen besseren Lebenszweck, als die Welt zu verstehen und ihr vielleicht dann zu entsagen?«
»Du bist asketisch ohne Glauben.«
»Bist du das nicht gerade?«
»Gäben wir also nicht ein nettes Paar ab?«
»Wie zwei Tropfen kalten Wassers«, und Rose schüttelte lächelnd zwei Regentropfen ab, die auf ihre Hand gefallen waren.
»Könnte sich nicht das Wasser eines Tages in Wein verwandeln und der Wein in Blut?«
»Ich glaube nicht an Wunder.« Sie blickte zu dem regendrohenden Himmel, von dem jetzt mehr Tropfen zu fallen begannen, und stand mit leisem Frösteln auf. Schweigend schritten sie beide den Berg hinunter. Ein leichter Schimmer von Humor leuchtete durch ihre Trauer.
»Komm mit auf den Friedhof«, sagte sie dann, »ich will dir Vaters Grab zeigen.«
Noch war die Stätte durch keinen Stein bezeichnet. Sie hatten auf Oliver gewartet, damit er entscheide, wie teuer das Grabmal sein solle. Ein paar welke Kränze und Sträuße bedeckten noch teilweise den Hügel, auf dem das junge Gras schon zu sprießen begann.
Die Regentropfen wurden zu einem Schauer, und als sie vor dem Grabe standen, warf Oliver die eine Hälfte seines großen Soldatenmantels über die Schultern seiner Gefährtin, die nur leicht gekleidet war. Sie stieß seine Umarmung nicht zurück, denn die war allzu ungefährlich und bot auch etwas Schutz, weil sie den kalten, feuchten Wind abhielt. Aber wie wunderlich war Oliver selbst! Sie fühlte mit Sicherheit, daß seine Zärtlichkeit etwas Absichtliches war, genau wie sein Plan, sie zu überrumpeln und sie noch am gleichen Tage ohne ihre besondere Erlaubnis zu heiraten. Er war wohl auf der Fahrt zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Umarmung am Platze wäre. Er würde sie ja doch früher oder später umarmen müssen, da er ihre Heiratslizenz schon bereit zur Unterschrift in der Tasche trug.
Und warum mußte seine Uniform gar so häßlich und schäbig sein und so schlecht sitzen, warum fühlte sich der Stoff so unangenehm an wie Sackleinwand? Zum Glück war der Mantel mit Waschleder gefüttert und daher wenigstens innen weich und warm. Aber dieser steife, enge kleine Kragen mußte doch schrecklich unbequem sein! Sie war froh, daß er die harte kleine Mütze abgesetzt hatte, die ganz tief in die Stirn geschoben wurde und den Hinterkopf frei ließ. Ein Soldat durfte wohl etwas streng aussehen, wenn er dabei schneidig und elegant war; oder er konnte sich offenkundig nonchalant und sportsmännisch im modernen militärischen Stil kleiden, bequem und sachlich zugleich. Doch diese karge, elende Häßlichkeit ohne Sinn und Zweck – wer hatte die wohl aufgebracht? Und wie schlecht gerade dem armen Oliver diese reizlose Uniform stand! Seine Augen waren noch klar und schön, wenn auch etwas müde, und sein Lächeln hatte noch die frühere Zartheit und Reinheit; aber er wurde so mager und dürr, an seinen Gelenken traten die Knochen und Sehnen häßlich hervor; seine Haut war unfrisch und fleckig, und die Strähnen seines glatten, mattblonden Haares, die vom Regen feucht waren, begannen sich stellenweise zu teilen, sodaß die weiße Kopfhaut sichtbar wurde. Er würde vorzeitig wie ein hagerer alter Mann aussehen. Es schien, als habe er unter Armut, Überbürdung und langen Entbehrungen gelitten, er, das Schoßkind des Glücks, dem die ganze Welt offenstand, und der doch nicht wußte, wo er sein Haupt hinlegen sollte. Als jugendlicher Liebhaber war er lächerlich. Er konnte nicht einmal Liebe heucheln, falls er Grund hatte, das zu versuchen. Er glaubte wie Don Quijote, es sei seine Pflicht, sich zu verlieben. Sie war seine Dulcinea und Iffley sein El Toboso. Sicherlich war er ein hervorragender junger Mann oder hätte es wenigstens sein müssen; doch schien er viel weniger entschlossen und frei als sie selbst es war. In ihrem Elend fühlte sie eine gewisse grausame Überlegenheit; sie wurde für alle widrigen Ereignisse durch ihre innere Klarheit entschädigt. Aber er? Er war das Opfer einer angeborenen Schwäche; er litt an einem moralischen Krampf, einem Hindernis im Räderwerk der natürlichen Leidenschaften. Zwar empfand er diesen Mangel selbst als drückend und wollte ihn mit der Zeit überwinden, aber das würde ihm nie gelingen. Er würde sterben wie er gelebt hatte, mit Blei in den Schwingen. Und während Rose über das Schicksal ihres tugendhaften Freundes seufzte, beklagte sie auch ihr eigenes Leid; sie dachte an ihren Vater und an Jim, die ebenfalls Opfer widriger Verhältnisse gewesen waren, und ein großes Mitleid mit der ganzen Welt ergriff sie.
»Auch Vater«, sagte sie sanft, »hätte niemals heiraten sollen. Laß dir sein Leben als Warnung dienen, denn du bist ihm geistig ähnlich. Die Ehe stand in Widerspruch zu seiner natürlichen Berufung; aber er hat die Verantwortung treu auf sich genommen, und sie ist eine schreckliche Heimsuchung für ihn geworden, besonders wegen all der Kinder, für die er zu sorgen hatte – denn du weißt ja, ich habe mehrere Geschwister gehabt, die klein gestorben sind. Seine Natur verlangte nach etwas anderm, nach einer begeisterten Hingabe an unpersönliche Dinge. Bei dir ist es das gleiche. Warum willst du deinen Neigungen Zwang antun?«
»Aber was für unpersönliche Dinge meinst du? Und was für eine Neigung? Die Philosophie? Eine Philosophie, die nicht zugleich Religion ist, scheint mir nur eine recht unbestimmte Wissenschaft oder eine ziellose Beredsamkeit zu sein; und die Religion haben wir ja schon ausgeschlossen. – Also die Wissenschaft oder die Kunst? – Wenn du auf der Universität die Professoren oder am Montmartre und Montparnasse die Künstler bei der Arbeit gesehen hättest, dann würdest du nicht von einer Hingabe an unpersönliche Dinge sprechen. Das Ganze ist eine scheußliche Plackerei; und wenn du nach den inneren Quellen, nach dem idealen Antrieb zu dieser Arbeit suchst, dann findest du nur die niedrigsten, kleinsten, nebensächlichsten Motive. Wissenschaft und Kunst sind erstaunliche Falschmünzereien! Was meine Neigungen angeht, so würde ich lieber im hintersten Winkel des Waldes wohnen und Bäume fällen und Holz hacken. Oder wenn Jim noch am Leben wäre, würde ich den größten Teil meines Geldes an meine Mutter zurückgeben – die ja eigentlich auch erwartet hat, es zu erben – und für mich nur genug behalten, um ein vollkommenes Segelschiff, einen modernen Schnellsegler zu bauen. Jim wäre dann Kapitän gewesen und ich Eigentümer und Superkargo; wir wären um die Welt gesegelt, hätten irgend eine redliche Männerarbeit, eine natürliche, notwendige Beschäftigung übernommen und wären doch, abgesehen von den kurzen Zwischenpausen im Hafen, weit von der Menschheit entfernt gewesen, hätten nur mit dem Wind und dem Meer zu kämpfen gehabt und unsere ehrlichen Gedanken zwanglos und ohne Zurückhaltung und Heuchelei miteinander ausgetauscht. Aber allein bin ich dazu nicht stark genug. Ich möchte das Rechte tun, möchte tapfer und unabhängig sein, aber ich sagte dir schon vor langer Zeit: ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll. Deshalb haben mir meine Freunde immer so viel bedeutet. Sie haben die Führung übernommen, die ich nicht klug genug war, selbst zu übernehmen. Sie haben meine Probleme für mich gelöst, indem sie sie gar nicht aufkommen ließen, und ihre Zuneigung hat mich weitergetragen, wenn meine Vernunft stehen blieb. Das war nicht nur bei Jim so, sondern auch bei Vanny –«
»Warum sprichst du von ihm in der Vergangenheit? Dein Vetter ist doch nicht tot?«
»Nein, nein. Er ist in Italien. Aber von ihm brauche ich gar nicht zu reden. Du kennst ihn ja. Er war ja hier.«
»Ja. Er machte mir immer den Hof.«
»Vanny – dir?«
»Nicht offen, nicht absichtlich. Er hat mir keinen Heiratsantrag gemacht wie du. Er umwarb mich, ohne es zu wollen. Soll ich dir erzählen, wie er das anfing? Er vergaß sich selbst vollkommen. Er kreiste ganz um mich. Ob er nun las oder mit den andern Offizieren plauderte – im Augenblick, wo er mich erspähte, unterbrach er alles, was er gerade trieb, als sei ich für ihn das Wichtigste, hinter dem jegliches andere zurückstehen und verblassen müßte. Er spielte mit meinem Hund und lehrte ihn neue Kunststücke. Er fragte mich, welche Blumen ich am liebsten hätte, oder was ich gern geschenkt haben möchte; und am nächsten Tag bekam ich den betreffenden Gegenstand, wenn er zu beschaffen war, in einem hübschen Paket aus London. Mit den Augen und mit dem Munde sagte er Schmeicheleien, die aufrichtig wirkten, weil sie aufrichtig waren. Er hob dich in den Himmel, pries Jim, pries meinen Vater und hatte Verständnis für meine Mutter. Er machte mir Komplimente über mein Französisch und gab mir das Gefühl, daß ich durch das zurückgezogene Leben in einem Landpfarrhaus nichts verloren, sondern eher an Vornehmheit und Auserlesenheit gewonnen hätte. Als er endlich von der ganzen Familie Abschied nahm, kam er zurück, um mir noch besonders Lebewohl zu sagen und mir noch einmal die Hand zu geben. Bedenke, daß er ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren war, glänzend aussah und seine Uniform mit solcher Leichtigkeit und Eleganz trug, ferner, daß er verwundet war und trotzdem darauf brannte, an die Front zu gehen und seine Flüge ins feindliche Land wieder aufzunehmen. Ich glaube, dann wirst du mir als jungem Mädchen verzeihen, daß auch mein Herz ein wenig dabei geklopft hat. Dabei wußte er aber gar nicht, daß er mir den Hof machte; er dachte nur an dich und wollte nur höflich gegen deine Freundin sein.«
»Natürlich, er wußte, daß ich hoffte, dich eines Tages heiraten zu können. Er wollte dann als guter alter Freund der Familie gelten und sorgte schon jetzt dafür, später bei uns willkommen zu sein. Und warum sollte es nicht so werden? Ich fürchte, er wird uns nicht oft besuchen, denn er geht andere Wege als ich, aber manchmal wird er sich sicher blicken lassen, und im Geist wird er immer da sein. Du dagegen mußt mein letzter und teuerster Freund werden, mußt dich so fest mit mir verbinden, wie es zwischen Männern unmöglich ist, sollst nie von mir getrennt werden, wie es bei Männern durch das Familienleben und die oft verschiedenen Berufsinteressen geschieht. Ich mache dir nicht den Hof, wie Vanny, der es übrigens jeder hübschen Frau gegenüber tut. Ich bin nicht von Gefühlen entflammt, die eine Stunde, einen Monat oder vielleicht ein Jahr dauern, als wären sie durch ein Rauschgift hervorgerufen. Vielleicht kenne ich das nicht, was die Romanschreiber Liebe nennen und uns des langen und breiten beschreiben, sodaß sich schließlich jeder verpflichtet fühlt, diese interessante Leidenschaft auch zu empfinden. Ich glaube nicht, daß mein Vater und meine Mutter je ineinander verliebt gewesen sind. Es liegt nicht in unserm Blut. Aber ich bin sicher, wir beide, du und ich, würden vereint glücklicher sein, als wenn wir einsam lebten. Wir verstehen uns, wir vertrauen uns, wir können einander nie vergessen. Du bist ein wundervolles Geschöpf, so vollkommen, abgeklärt und klug; hart und rein wie ein Diamant. Du wirst mir immer wie eine Prinzessin vorkommen, die ich durch Zauberei gewonnen habe, immer wird das Licht einer andern Welt von dir ausstrahlen. Jeder wird von dir sagen: Sie ist eine schöne Frau, ein edler Geist, sie hat ein adliges Wesen, wie man es sich nicht künstlich aneignen kann, sondern wie es nur von der Natur geschenkt wird, ähnlich wie der stolze Gang dem Pfauen. Und ich werde antworten: Ja, das ist meine Rose, die ich zwischen den Rosen ihres kleinen Gartens gefunden und mit mir genommen habe, um sie in der Mitte meines Hauses einzupflanzen, damit sie dessen schönster Schmuck und der Stolz meines Herzens sei. Diese Rose wird mich mit ihren Ranken umschlingen. Und eines Tages werden Rosenknospen aufblühen.
Komm heute mit mir nach London. Laß uns denken, daß wir jetzt hier vor dem Grabe deines Vaters getraut worden sind, daß uns sein Geist zusammengegeben hat. Ich muß morgen abend nach Frankreich abreisen. Wir haben am Vormittag gerade noch Zeit genug, um aufs Standesamt und dann aufs Konsulat zu gehen, damit ich mein neues Testament unterzeichnen kann. Dann sind wir wenigstens gesetzlich verheiratet. Dann werde ich zur Ruhe kommen. Wenn mir etwas zustößt, bist du versorgt – Nein? Warum nicht? Traust du mir nicht?«
Er hatte seinen Mantel etwas fester um sie geschlungen, aber nun machte sie sich los.
»Dir nicht trauen? Wer könnte dir je mißtrauen!« sagte sie lächelnd; aber ihr Lächeln hatte nichts Ermutigendes. »Daß du so vertrauenswürdig bist, ist dein größter Vorzug. Hältst du mich für dumm? Was würde es mir ausmachen, ob es vorher oder nachher wäre? Wenn du so besorgt um den Anstand bist, dann hätten wir meine Mutter mitnehmen können, um die Entführung zu legitimieren. – Aber es ist zu kalt hier. Laß uns zurück ins Haus gehen.«
Die Nächstenliebe des heiligen Martin noch verdoppelnd, zwang er sie, den ganzen Mantel für sich zu benutzen. Auf dem Wege über die nassen Pfade und an den Schleusentoren vorbei sprach sie zu ihm in abgerissenen Sätzen, als nehme sie ihre Gedanken Stück für Stück aus einem reichen Vorrat.
»Oliver, was du sagst, ist poesievoll und gut und ritterlich. Aber ich muß dir nochmals antworten: du träumst. Ich kann dich nicht erwärmen, weil ich kalt bin. Ich kann dir keine Führerin in deinen Nöten sein, denn ich bin selbst ohne Führung. Ich bin zufrieden, in einem vorläufigen Schwebezustand, in Unglauben und Einsamkeit zu leben. Du bist nicht zufrieden. Ich kann dir nicht helfen. Aber vielleicht ist es gar nicht das. Du verlangst keine Hilfe, obwohl du sie bitter nötig hast. Auch du bist willig, die Kelter ganz allein zu treten. Aber du bist so gut, du bist die Güte selbst, du möchtest mir helfen, mich schützen, mich reich zurücklassen, falls du mich zurücklassen mußt. Ach, das weise ich nicht ab! Ich stoße deine Barmherzigkeit, deine Güte, deine Großmut gewiß nicht zurück. Im Vergleich zu meinem hilflosen Vater und meinem hilflosen Bruder bist du in Notzeiten für mich wie ein fester Anker. Aber warum willst du deine Großherzigkeit zunichte machen und dich selbst in Verwirrung stürzen, indem du mich bittest, dich zu heiraten? Du liebst mich doch nicht auf diese Art, und ich liebe dich nicht auf diese Art.«
»Liebst du denn einen andern?«
»Nein, ich habe keinen Geliebten. Aber es gibt Männer, von denen ich mir vorstellen kann, daß ich sie lieben könnte. Deinen Vetter zum Beispiel; nur verbietet er sich, an mich zu denken, weil er glaubt, daß ich dir gehöre.«
»Deswegen bist du mir böse? Und würdest du wirklich lieber ihn heiraten, selbst wenn er dich nicht liebte?«
»Ja, selbst wenn er mich nicht mehr liebte als irgend eine andere Frau – sogar dann«, fügte sie errötend hinzu, indem sie Oliver trotzig ansah, »sogar dann, wenn wir am nächsten Tag wieder geschieden werden sollten.«
»Aber das ist ungeheuerlich! Nachdem ich dich auserwählt, dich jahrelang auf ein Piedestal gestellt und mich auf den Tag gefreut habe, wo wir heiraten würden.«
»Hier ist gar nichts zu wählen oder auf ein Piedestal zu stellen oder in ein Lebensprogramm einzusetzen. Das ist Sentimentalität oder bestenfalls ein Handelsvertrag. Die Liebe ist etwas anderes; soll sie Wert haben, so muß sie glücklich, natürlich, unwiderstehlich und unvernünftig sein. Die Liebe wird dich niemals glücklich machen, Oliver. Heirate nicht. Lebe mit Fräulein Schlote, deiner alten Erzieherin, zusammen.«
Die Ironie dieser Bemerkung entging Oliver nicht, aber seltsamerweise fühlte er keinen Schmerz. Er war gewöhnt, die Bissigkeiten seiner Mutter zu ertragen und über sie hinwegzugehen. Was fochten sie ihn schließlich an? So war es auch mit diesem kleinen Stich. In der Flut seines Kummers bedeutete er nicht mehr als einer der Regentropfen, die in den angeschwollenen Fluß fielen. Oliver entgiftete die Bemerkung, verzieh sie und erkannte sogar ihre Wahrheit. In seiner ungewöhnlichen Seelengröße hielt er Rose für eine Art Iphigenie auf Tauris, eine Prophetin, eine Priesterin, die seine Seele heilen sollte; denn er war wie Orest, nur nicht durch seine eigenen Verbrechen verstört, sondern durch die Verbrechen der Menschheit, und sie war die Priesterin der Diana und kannte das Heilmittel gegen Wahnsinn. Iphigenie war ihrem Bruder nachgefolgt, hatte ihren Tempel und seine grausamen Mysterien verlassen; und so sollte dieses Mädchen nun ihm folgen. Die geistige Beziehung zwischen ihnen war nicht unvereinbar mit der Ehe. Ja, die Ehe war das einzig mögliche Mittel, um diese Beziehung fester zu gründen, um Rose für immer zum Arzt seiner Seele zu machen.
Sehr sanft, sehr bescheiden versuchte er sie für diese Idee zu gewinnen, indem er sagte, die Ehe sei vielleicht etwas Heiligeres als die Liebe, wenigstens als das, was sie unter Liebe verstehe. Vielleicht sei sie jetzt noch zu jung, er wolle warten. Nach dem Kriege, wenn er hoffentlich seine Gesundheit und seinen Lebensmut wiedergewonnen habe, werde er noch einmal kommen; dann hätten sich vielleicht ihre Gefühle geändert, und sie würde ihm dann willig folgen.
Aber sie war unerbittlich. Sie fühlte sich durch seine Hartnäckigkeit, die sie für dumm und ziemlich tyrannisch hielt, noch mehr in ihrer Ablehnung bestärkt.
»Nein, nein«, sagte sie. »Ganz abgesehen von der Liebe – wir sind für ein Zusammenleben nicht geschaffen. Wir sind uns zu ähnlich, sind beide zu unabhängig, zu einsam. Keiner von uns beiden ist erleuchtet genug, um den andern zu führen, keiner demütig genug, um dem andern zu folgen. Da stehst du jetzt vor mir und wirst dein Leben einsetzen, ohne zu wissen warum und für welche Sache, ohne Glauben und ohne Hoffnung. Und wenn der Krieg vorbei ist, wirst du in Amerika in eine andere Falle gehen und dich aufs Rad flechten lassen, bis du vor Erschöpfung stirbst. Ist dies das Leben, das ich mit dir teilen soll? Nein, da möchte ich lieber Lehrerin an der Dorfschule werden und im Häuschen des Schleusenwärters bei seiner Frau und seinen Kindern wohnen. Die arbeiten und leiden und sorgen sich, aber sie wissen, was sie wollen. Und vielleicht hilft ihnen der Pfarrer, mit ihrem Schicksal fertig zu werden und kann es für ihren dumpfen Sinn etwas verklären und mildern. Du dagegen, der du ganz aus forschender Kritik bestehst, und völlig frei sein solltest, du bist in deinem Wissen und in deinem Reichtum viel qualvoller befangen als sie in ihrer Armut und Unwissenheit. Deine tiefere Dunkelheit ist etwas Schreckliches, denn sie ist bewußt. Begreifst du nicht, daß ich lieber stürbe als dich heiratete?«
Sie hatten den kleinen Garten am Flußufer erreicht und waren im Begriff, in das Haus einzutreten. Oliver erinnerte sich, wie immer in besonderen Fällen, seiner Trumpfkarte. »Noch ein Wort, bevor wir hineingehen«, sagte er. »Es wäre um deinetwillen und um meiner Mutter willen besser, wenn ich in meinem Testament, das ich morgen aufsetzen will, genau den Grund angeben könnte, weshalb ich dir die Summe hinterlasse, die ich dir vermache. Ich hatte gehofft, schreiben zu können: ›Meiner Gattin‹ oder doch wenigstens ›Meiner anverlobten Braut, Rose Darnley‹ so und so viel. Was soll ich aber jetzt schreiben?«
»Die Wahrheit.«
»Und was ist die Wahrheit?«
»Rose Darnley, der Schwester meines geliebten verstorbenen Freundes, des Leutnants James Darnley, R. N., der Tochter meines verehrten verstorbenen Freundes, des Reverend Austin Darnley, Pfarrers von Iffley in Oxfordshire, so und so viel.«
»Gut; aber ich werde noch etwas hinzufügen. Ich werde sagen: Für Rose Darnley, die ich lange als meine zukünftige Frau betrachtet habe.«
Sie neigte ihren Kopf ein wenig, als sie vor ihm über die Schwelle des Häuschens schritt, von seiner Großherzigkeit gedemütigt, aber nicht erschüttert in ihrem Entschluß.