Leopold von Ranke
Geschichtsbilder aus Leopold v. Rankes Werken
Leopold von Ranke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20. Bacon und Shakespeare.

Englische Geschichte II, Werke Bd. 1, S. 87. 93 ff.

Nicht die Zeiten der großen politischen Kämpfen selbst sind für literarische und künstlerische Produktion die günstigsten; vielmehr sind es die, welche solchen vorangehen oder nachfolgen; in denen dieselbe Anregung anfängt oder fortdauert. Eine solche Epoche bildeten die drei oder vier Dezennien zwischen der Abwehr der Armada und dem Ausbruch parlamentarischer Unruhen, die späteren Jahre der Königin Elisabeth und die früheren Jakobs I. Es war die Epoche, in der sich die englische Nation zu allgemeiner Welteinwirkung erhob und zugleich die weitaussehenden Irrungen über die wichtigsten Fragen des inneren Lebens begannen. Anders konnte es gar nicht sein, als das sich in der Literatur der Antagonismus der Ideen darstellte, welcher die Geister überhaupt in Bewegung setzte. Aber auch andre großartige Hervorbringungen sehen wir erscheinen, welche weit über diesen Streit hinausreichen.

Schon längst war das aristotelisch-scholastische System, das Erbteil der hierarchischen Jahrhunderte, angefochten, und nicht etwas durchaus Neues ist die induktive Methode, die Bacon demselben entgegenstellte. Aber Bacons Idee war von der umfassendsten Tendenz; sie ging dahin, das Denken und Forschen der Gelehrten von den spekulativ-theologischen Voraussetzungen, welche den geistigen Gesichtskreis beherrschten, zu befreien. Die namhaftesten Gegner der Scholastik hatte er doch wieder zu bekämpfen, weil sie die Dinge mit einem neuen Gewebe von Worten und Theorien umspannen, die er verwarf. Er dachte die Menschen von den täuschenden Begriffen, von denen sie befangen sind, dem Zauber der Worte, welche die Dinge verhüllen, der Tradition, die durch große Namen geheiligt ist, zu befreien und ihnen die Sphären sicherer Erfahrungswissenschaft zu eröffnen. Die Natur ist ihm das Buch Gottes, das man zu seiner Ehre und zum Nutzen der Menschen unmittelbar studieren muß; von den Sinnen und der Erfahrung soll man ausgehen, um im Umgang mit den Dingen die Ursachen der Erscheinungen zu entdecken. Er würde an sich lieber der Baumeister der allgemeinen Wissenschaft werden, wie er denn schon einen Aufriß zu einer solchen verfaßt hat; aber er besitzt die Zurückhaltung, davon fürs erste abzusehen, im kleinen zu arbeiten, Experimente zu machen; wie er einmal sagt, Ziegel und Steine herbeizuschaffen, die in Zukunft zu dem großen Werke dienen können. Hätte er das nur mit vollkommener Hingebung und hinreichender Kenntnis der Sache getan! Seine Methode ist unvollkommen, seine Resultate im einzelnen unzuverlässig; sein Ziel ist großartig. Die Einsicht, nach der er trachtet, bezeichnet er mit dem heraklitischen Ausdruck des trockenen Lichts, d. i. eines solchen, welches durch keine Neigung und keinen Nebenzweck getrübt wird; wer sie besitze, stehe gleichsam auf einer Bergeshöhe, zu deren Füßen die Irrtümer wie Nebel treiben. Und nicht allein auf eine Befriedigung des Geistes kommt es ihm an, sondern auf solche Entdeckungen, welche die Tätigkeit des Menschen anregen, seine Wohlfahrt befördern; die Natur ist zugleich das große Warenhaus Gottes; die Herrschaft über die Natur, welche die Menschen ursprünglich besaßen, muß ihnen zurückgegeben werden.

Bei dieser Betrachtung stellt sich dem Philosophen die Gefahr vor Augen, daß man auch das Wesen Gottes auf diesem Wege zu erkennen vermeinen werde. Bacon fordert eine vollkommene Trennung beider Gebiete, denn nur die zweiten Ursachen könne der Mensch erreichen, nicht die erste, welche Gott sei; nur den natürlichen Dingen sei der Geist des Menschen gewachsen; die göttlichen verwirre er vielmehr. Selbst die Natur der menschlichen Seele will er nicht untersuchen, denn sie stamme nicht von den hervorbringenden Naturkräften, sondern von dem Hauche Gottes her. Wenn es die Tendenz der romanisch-germanischen Philosophie auf der Grundlage des Altertums von Anfang an gewesen war, den Glauben mit wissenschaftlichem Verständnis zu durchdringen, so leistet Bacon von vornherein darauf Verzicht. Die Paradoxien, welche der Christ glauben müsse, hebt er mit einer fast anstößigen Schroffheit hervor; er erklärt es für den Flug des Ikarus, diese Geheimnisse durchdringen zu wollen. Aber einen um so stärkeren Antrieb sucht er dem menschlichen Geist auf die Erforschung der natürlichen Dinge zu geben.

Zu diesen gehören ihm denn auch die Zustände der menschlichen Gesellschaft, denen er sein ganzes Leben hindurch eine aufmerksame und eindringende Beobachtung gewidmet hat. Seine Essays sind nicht etwa skeptisch wie die französischen, von denen er diese Bezeichnung hergenommen haben mag; sie sind durch und durch dogmatisch. Es sind Bemerkungen über die Lebensverhältnisse, wie sie damals vorlagen, namentlich über die Berührungen des Privatlebens mit dem öffentlichen, und Ratschläge, die aus der Wahrnehmung der entgegengesetzten Eigenschaften der Dinge hervorgehen, überaus belehrend für das Innere der englischen gesellschaftlichen Verhältnisse, von weiter Umsicht und ruhiger Weisheit; ebenfalls ein Schatz der englischen Nation, deren Lebensanschauungen sich daran aufgebaut haben.

Was kann eine Generation der anderen Besseres hinterlassen als die Summe ihrer Erfahrungen, die dann über den flüchtigen Moment hinaus Bedeutung haben, in einer Form, welche sie für alle Zeiten wirksam macht? Darin liegt die irdische Unsterblichkeit des Geistes. Aber noch ein andrer Besitz von noch umfassenderem Inhalt und unvergleichlichem Wert ward der englischen Nation durch die Ausbildung der dramatischen Bühne zuteil, die eben in diese Epoche fällt. Von jeher hatte es theatralische Vorstellungen gegeben, in den Palästen der Könige und der Großen, den Universitäten, den juridischen und städtischen Genossenschaften; sie machten einen Teil der Vergnügungen des Karnevals aus oder trugen zum Glanze anderer Festlichkeiten bei. Zu rechtem Leben aber gelangten sie erst, als die Königin sie durch eine allgemeine Erlaubnis ihrem Volke gestattete. Früher hatten die Scholaren der höheren Schulen oder die Mitglieder der gelehrten Innungen, die Handwerker in den Städten, die Hausgenossen der Großen und der Fürsten die Darstellung selbst ausgeführt; jetzt bildeten sich Schauspieler von Gewerbe, sie ließen sich bezahlen und spielten das ganze Jahr. Eine Anzahl kleiner Theater kam auf, welche, da sie geringe Eintrittspreise setzten, die Menge anzogen und mit ihr in Wechselwirkung traten. Die Regierung konnte nichts dagegen haben, da die vornehmste Opposition, welche sie zu fürchten hatte, die des Puritanismus, durch die Abneigung dieser Partei gegen das Theaterwesen sich selbst von allem Einfluß darauf ausschloß. Die Theater wetteiferten miteinander; ein jedes suchte etwas Neues zu bringen und dies dann für sich selbst zu behalten. Die Autoren, unter denen sich ausgezeichnete Talente fanden, waren nicht selten zugleich Schauspieler. Alle Stoffe der Fabel und der Geschichte, wie denn die Literatur durch alteinheimische Produktion und Aneignung aus dem Auslande bereits großen Umfang gewonnen hatten, wurden ergriffen und durch wiederholte Bearbeitung einem empfänglichen Publikum nahe gebracht.

Unter diesem wetteifernden Emporstreben der städtischen Bühnen und ihrer Produktion hat sich Wilhelm Shakespeare ausgebildet, der damals unter der Menge der Mitstrebenden verschwand, bei der Nachwelt aber von Epoche zu Epoche zu größerem Ruhme gelangt ist. Was uns besonders nahe liegt, erbrachte, wie das keineswegs ungewöhnlich war, eine Reihe von Ereignissen aus der englischen Geschichte selbst auf die Bühne. In das Lob, welches ihm freigebig gespendet worden, daß er sie mit historischer Treue wiedergegeben habe, kann man nicht so geradehin einstimmen. Oder wer wollte behaupten, das sein König Johann und Heinrich VIII., sein Glocester und Winchester oder gar seine Pucelle den Originalen gleichen, deren Namen sie tragen? Der Autor ergreift die großen Fragen, um die es sich handelt; indem er der Chronik so nahe wie möglich folgt und ihre charakteristischen Züge aufnimmt, teilt er doch den Personen eine seiner besonderen Auffassung entsprechende Rolle zu. Er belebt die Handlung mit Beweggründen, welche die Geschichte nicht finden würde oder nicht annehmen dürfte; die Charaktere, die sich in der Überlieferung nahe stehen und in der Wirklichkeit wahrscheinlich nahe standen, treten bei ihm auseinander, ein jeder in seinem besonders ausgebildeten, in sich homogenen Dasein. Natürlich menschliche Momente, die sonst nur im Privatleben erscheinen, durchbrechen die politische Handlung und gelangen dadurch zu verdoppelter poetischer Wirksamkeit.

Aber wenn sich im einzelnen Abweichungen von dem Tatsächlichen herausstellen, so zeigt die Wahl der Ereignisse, welche auf die Bühne kommen, von hohem Sinne für das Historisch-Große. Es sind fast immer Situationen und Verflechtungen der bedeutendsten Art: das Eingreifen der geistlichen Macht in den inneren politischen Hader in König Johann; der plötzliche Sturz eines wohlgegründeten Königtums, sowie es sich einmal von der strengen Linie des Rechts entfernt, in Richard II.; der Widerstand, den ein usurpatorischer Fürst, Heinrich IV., bei den großen Vasallen, die ihn eingesetzt haben, findet, welcher ihn dann durch unaufhörliche Sorge und geistige Arbeit vor der Zeit zum Tode führt; das Glück einer gelingenden auswärtigen Unternehmung, die wir von entschlossener Vorbereitung zu gefährlichem Kampf und vollendetem Siege begleiten, und dann wieder die unselige Lage, in die ein von der Natur nicht zum Regenten gebildeter Fürst zwischen den gewaltsamen Parteien gerät, bis er so weit kommt, daß er den Schäfer beneidet, dem sich bei seiner Herde ruhige Tage abrollen, in Heinrich V. und VI., endlich der Weg der greuelvollen Missetat, welchen der zum Thron nicht bestimmte Königssohn beschreitet, um ihn dennoch zu besteigen. Alles große Momente der Geschichte der Staaten, nicht allein für England bedeutend, sondern symbolisch für alle Völker und ihre Fürsten. Die parlamentarischen oder religiösen Fragen berührt der Dichter überaus selten, und es darf bemerkt werden, daß er in König Johann der großen Tendenzen, die zur Magna Charta führten, so gut wie nicht gedenkt; dagegen lebt und webt er in den persönlichen Gegensätzen des alten Vasallenstaates, den gegenseitigen Rechten und Pflichten in demselben. Ein Wort wie dies: Wenn du König bist, so bin ich Bolingbroke, enthüllt die Rechtsanschauung des Mittelalters. Die Rede, welche er dem Bischof von Carlisle in den Mund legt, ist gültig für alle Zeiten. Das Diadem, das die oberste Unabhängigkeit gewährt, erscheint dem Dichter als das wünschenswürdigste aller Besitztümer; aber das ehrenreiche Gold zehrt den auf, der es trägt, durch die unruhige Sorge, die es mit sich bringt.

Die populären Stürme, die eine freie Verfassung zu begleiten pflegen, schildert Shakespeare an einigen römischen Ereignissen, bei denen er statt Holinshed Plutarch zugrunde legt. Mit Recht entnimmt er sie aus der Fremde, da die näherliegenden ein anderweites Interesse angeregt und doch nicht eine gleiche universale Bedeutung gehabt habe würden. Man könnte, um ein Beispiel anzuführen, dramatischer zugleich und beziehungsreicher sein als der Gegensatz jener Reden, durch welche zuerst die Ermordung Cäsars gerechtfertigt und dann das Andenken seiner Verdienste erneuert wird? Der Begriff der Freiheit, den die eine zum Bewußtsein bringt, wird mit dem Andenken an die Tugenden und Wohltaten dessen, der die Gewalt besaß, in Gegensatz gebracht und dadurch in den Hintergrund gedrängt; ebendies aber sind die tiefsten und wirksamsten Gefühle aller Zeiten und Nationen.

Aber die beglaubigten Überlieferungen aus alter und neuer Zeit genügen dem Dichter noch nicht, um alle Tiefen des menschlichen Daseins aufzuschließen; er führt uns in die nebelhaften, nur der Sage bekannten Regionen des britischen und nordischen Altertums, in denen noch andre Gegensätze der Persönlichkeit und der öffentlichen Dinge zur Erscheinung kommen. Ein König tritt auf, der aus der Fülle des Genusses und der Macht durch übereiltes Zutrauen zu den ihm zunächst Angehörigen in das äußerste Elend gerät, das Menschen betreffen kann; ein Thronerbe, der durch den Mörder seines Vaters und seine eigene Mutter aus seinem Rechte gesetzt, durch geheimnisvolle Impulse angewiesen wird, ihn zu rächen; ein Magnat, der sich durch verruchten Mord des Thrones bemächtigt hat und im Kampfe dafür unterliegt. Der Dichter führt uns in die unmittelbare Nähe des Verbrechens, seiner Vollziehung und seiner Rückwirkung; es erscheint als eine Eingebung der Hölle und ihrer trügerischen Prophezeiungen; wir wandern auf den Konfinien der sichtbaren und einer andern von jenseit her in dieselbe eingreifenden Welt, welche zugleich die Grenzen zwischen Bewußtsein und Wahnsinn sind. Die Abgründe des menschlichen Gemütes tun sich auf, wo es durch unbewußt ihm innewohnende Naturgewalten gefesselt und zugrunde gerichtet wird; alle Fragen über Sein und Nichtsein, Himmel, Hölle und Erde, Freiheit und Notwendigkeit werden in diesen Kämpfen um das Diadem angeschlagen. Selbst die zartesten Gefühle, welche menschliche Seelen aneinander fesseln, liebt er auf dem Hintergründe politischen Lebens erscheinen zu lassen; dann folgt man ihm aus den Nebeln des Nordens in das sonnige Italien.

Shakespeare ist eine geistige Naturkraft, die den Schleier wegnimmt, durch welchen das Innere der Handlung und ihre Motive dem gewöhnlichen Auge verborgen werden. Seine Werke bieten eine Erweiterung des menschlichen Gesichtskreises über das geheimnisvolle Wesen der Dinge und der menschlichen Seele dar, durch die sie selbst zu einer großen historischen Erscheinung werden. Wir erörtern hier nicht die Art und Kunst Shakespeares, ihre Vorzüge oder Mängel; sie hing ohne Zweifel mit den Bedürfnissen, Gewohnheiten und der Sinnesweise seines Publikums zusammen; denn wo gäbe es eine stärkere Wechselwirkung zwischen Autor und Publikum als in einer auf freier Teilnahme beruhenden jungen Bühne? Ihre Regellosigkeit erleichterte sogar die sinnliche Vergegenwärtigung, durch welche hier das Großartigste und Gewaltigste in der Verflechtung großer und kleiner Dinge, die dem menschlichen Wesen eigen ist, wie in unmittelbarer Erscheinung vor die Augen gebracht wird. Der Genius ist eine unabhängige Gabe Gottes; daß er aber zur Entfaltung kommt, dazu gehört die Empfänglichkeit und der Sinn der Zeitgenossen.

Nichts Geringes ist es fürwahr, wenn bald nach der Thronbesteigung Jakobs I., der das Theater liebte wie seine Vorgängerin, König Lear auf die Bühne gebracht wurde und Franz Bacon ihm sein Werk über die Förderung der Wissenschaften widmete, beides 1605. Von diesen Geistern prägte der eine Tradition, Poesie und Weltanschauung der Vergangenheit in unvergänglichen Gestalten aus; der andere bannte die Analogien derselben von dem Gebiete der Wissenschaft und brach der die Natur überwindenden Tätigkeit der folgenden Jahrhunderte und einer neuen Weltanschauung Bahn.

Ihnen zur Seite arbeiteten viele andre. Die Naturforschung hatte bereits auf dem von Bacon angegebenen Wege begonnen und fand besonders in den höheren Ständen lebendige Teilnahme; neben Shakespeare hat man auch die minder namhaften Poeten der Zeit niemals vergessen. In manchen andern Zweigen wurden gediegene Werke geschrieben, welche die Grundlage späterer Studien gebildet haben. Ihr Charakter liegt in der Vereinigung der Kunde des Einzelnen, das in seiner Besonderheit festgehalten wird, mit einem auf das Allgemeine gerichteten wissenschaftlichen Bestreben.

Es waren die Tage der Meeresstille zwischen den Stürmen, wie man wohl gesagt hat, halcyonische Zeiten,Vgl. Aristophanes Vögel 1549; Ovid Metam. 11, 754: Perque dies placidos hiberno temopore septem in denen der Genius Freiheit der Stimmung genug behielt, um sich mit aller seiner Kraft großen Schöpfungen zu widmen. Wie der deutsche Geist im Zeitalter der Reformation, so nahm der englische im Anfang des 17. Jahrhunderts seine Stelle unter den wetteifernden Nationalitäten ein, die auf dem Boden der abendländischen Christenheit sich voneinander sonderten, und auf deren Anstrengungen der Fortschritt des menschlichen Geschlechts beruht.


 << zurück weiter >>