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Deutsche Geschichte II. Werke Bd. 2 S. 55 ff.
Erst mit diesen Bewegungen kam die deutsche populäre Literatur zu allgemeiner Aufnahme und Wirksamkeit. Bis zum Jahre 1518 waren ihre Produktionen nicht zahlreich, der Kreis, in welchem sie sich bewegte, nur enge. Man zählte, wie in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts einige vierzig, so noch 1513 fünfunddreißig, in den folgenden Jahren 47, 46, 55, 37 deutsche Drucke, hauptsächlich Laienspiegel, Arzneibüchlein, Kräuterbücher, kleine Erbauungsschriften, fliegende Zeitungsnachrichten, amtliche Bekanntmachungen, Reisen: was der Fassungskraft der Menge ungefähr gemäß ist. Das Eigentümlichste waren immer die Schriften der poetischen Opposition, der Satire und des Tadels, deren wir oben gedachten. Wie gewaltig aber steigt die Anzahl deutscher Drucke, nachdem Luther aufgetreten ist. Im Jahre 1518 finden wir deren 71 verzeichnet, in den nächsten Jahren bis 1523: 111, 208, 211, 347, 498. Fragen wir, woher der Zuwachs kam, so ist Wittenberg der Ort, der Autor vor allem Luther selbst. Selbstherrschender, gewaltiger ist wohl nie ein Schriftsteller aufgetreten, in keiner Nation der Welt. Auch dürfte kein anderer zu nennen sein, der die vollkommenste Verständlichkeit und Popularität, gesunden treuherzigen Menschenverstand mit so viel echtem Geist, Schwung und Genius vereint hätte. Er gab der Literatur den Charakter, den sie seitdem behalten: der Forschung, des Tiefsinns und des Krieges. Er begann das große Gespräch, das die seitdem verflossenen Jahrhunderte daher auf dem deutschen Boden stattgefunden hat, leider nur zu oft unterbrochen durch Gewalttaten und Einwirkungen fremder Politik. Anfangs war er allein; allmählich aber, besonders seit 1521, erscheinen seine Jünger, Freunde und Nebenbuhler; im Jahre 1523 gehören außer seinen eigenen noch 215 Schriften von andern der Neuerung an, mehr als vier Fünftel der ganzen Hervorbringung; entschieden katholische lassen sich wohl nur 20 zählen. Es war das erste Mal, daß der nationale Geist ohne Rücksicht auf fremde Muster, nur wie er sich unter den Einwirkungen der Weltschicksale gebildet, zu einem allgemeinen Ausdruck gelangte, und zwar in der wichtigsten Angelegenheit, die den Menschen überhaupt beschäftigen kann; er durchdrang sich in seinem Werden, in dem Moment seiner Geburt, mit den Ideen der religiösen Befreiung.
Ein großes Ereignis war es, daß der Nation in diesem Augenblick des vollen geistigen Erwachens die Heiligen Schriften wie des Neuen so nun auch des Alten Testaments dargeboten wurden. Man kannte die Bibel, vorlängst gab es Übersetzungen; man muß sich aber einmal die Mühe nehmen sie anzusehen, um inne zu werden, wie voller Irrtümer, roh im Ausdruck und unverständlich sie sind. Luther dagegen ließ sich keine Mühe dauern, den Sinn unverfälscht zu begreifen, und verstand es sie deutsch reden zu lassen mit aller Reinheit und Gewalt, deren die Sprache fähig ist. Die unvergänglichen Denkmale der frühesten Jahrhunderte, in denen der Odem der jungen Menschheit weht, die heiligen Urkunden späterer Zeit, in denen sich die wahre Religion in aller ihrer kindlichen Ingenuität offenbart hat, bekam das deutsche Volk jetzt in der Sprache des Tages in die Hände, Stück für Stück, wie eine Flugschrift, deren Inhalt sich auf die unmittelbarsten Interessen der Gegenwart bezieht, und die man mit Begierde in sich aufnimmt.
Es giebt eine Produktion des deutschen Geistes, die aus eben diesem Zusammentreffen unmittelbar hervorging. Indem Luther die Psalmen übersetzte, faßte er den Gedanken, sie für den Gesang der Gemeinde zu bearbeiten. Denn eine ganz andere Teilnahme derselben an dem Gottesdienst als die bisherige machte die Idee der Kirche notwendig, wie er sie ausgesprochen hatte und ins Leben zu rufen begann. Bei der bloßen Bearbeitung jedoch, wie es wohl anderwärts geschehen, konnte man hier nicht stehen bleiben. Das gläubige Gemüt, beruhigt in der Überzeugung das geoffenbarte Gotteswort zu besitzen, gehoben durch das Gefühl des Kampfes und der Gefahr, in der man sich befand, angehaucht von dem poetischen Genius des alten Testaments, ergoß sich in eignen Hervorbringungen religiöser Lyrik, die zugleich Poesie und Musik waren. Denn das Wort allein hätte nicht vermocht, die Stimmung der Seele in ihrer ganzen Fülle auszudrücken oder das Gemeingefühl zu entbinden, festzuhalten; durch die Melodie erst geschah das, in der sich die alten Kirchentonarten mit ihrem Ernst und die anmutenden Weisen des Volksliedes durchdringen. So entstand das evangelische Kirchenlied. In das Jahr 1523 müssen wir seinen Ursprung setzen. Einzelne Lieder, von Spretten oder von Luther, fanden sogleich allgemeine Verbreitung; in diesen frühesten Bewegungen des reformatorischen Geistes wirkten sie mit; aber erst einige Jahrzehnte später entfaltete der deutsche Geist seinen ganzen Reichtum poetischer und besonders musikalischer Hervorbringungen in dieser Gattung.
Und auch übrigens widmete sich die volkstümliche Poesie mit dem Geiste der Lehrhaftigkeit und der Opposition, der ihr überhaupt eigen war, den aufkommenden Ideen. Schon Hutten hatte seine bittersten Anklagen in Reime geworfen; das Verderben der Geistlichkeit hatte Murner in langen anschaulichen Beschreibungen geschildert. Der Verwerfung und dem Tadel gesellte sich jetzt wenn nicht bei Murner, doch bei der Mehrzahl der anderen die positive Überzeugung, die Bewunderung des Vorkämpfers hinzu. Da ward der Mann gepriesen, der inmitten der roten Barette und Samtschauben die gerechte Lehre behauptet. In Fastnachtspielen erscheint der Papst, der sich freut, daß man seiner Büberei zum Trotz ihm die Macht zuschreibe, über den Himmel zu erheben oder in die Hölle zu binden; darum könne er auch manchen Vogel rupfen, ihm falle der Schweiß der Armen zu, und mit tausend Pferden könne er reiten. Er heißt Entchristelo; neben ihm erscheinen mit ähnlichen Expektorationen der Kardinal Hochmut, der Bischof Goldmund Wolfsmagen, der Vikarius Fabeler, der Kirchherr Meeher und wie sie sonst schon in diesen Namenbildungen dem Spott und der Verachtung preisgegeben werden; zuletzt aber tritt der Doktor auf, der die reine Lehre im Tone der Predigt verkündet.
Unter diesen Eindrücken bildete sich Burkard Waldis, der dann die alte Tierfabel mit so großem Erfolg auf die geistlichen Streitigkeiten angewendet hat. Unmittelbar aber stellte sich das große poetische Talent, das die Nation besaß, Luthern zur Seite: das Gedicht von Hans Sachs »Die Wittenbergisch Nachtigall« ist vom Jahre 1523. Er betrachtet darin die Lehre, die seit vierhundert Jahren geherrscht habe, wie den Mondschein, bei dem man in Wüsteneien irre gegangen, jetzt aber kündigt die Nachtigall Sonne und Tageslicht an und steigt über die trüben Wolken auf. Die Gesinnung eines durch das untrügliche Wort belehrten, seiner Sache gewiß gewordenen gesunden Menschenverstandes ist dann überhaupt die Grundlage der mannigfaltigen, wohl nicht vom Beigeschmack des Handwerks freien, aber sinnreichen, heiteren und anmutigen Gedichte, mit denen der ehrenfeste Meister alle Klassen der Nation erfreute.