Leopold von Ranke
Geschichtsbilder aus Leopold v. Rankes Werken
Leopold von Ranke

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6. Martin Luther.

Deutsche Geschichte I, Werke Bd. 1, S. 195 ff. 332.

»Ich bin eines Bauern Sohn,« sagt er selbst, »mein Vater, Großvater, Ahn sind rechte Bauern gewesen; darauf ist mein Vater gen Mansfeld gezogen und ein Berghauer worden; daher bin ich.« Das Geschlecht, dem Luther angehört, ist in Möhra zu Hause,Im Jahre 1536 zählte man fünf Familien Luther in Möhra; sie gehörten zu den echten Bauern, welche Haus, Hof, Land und Vieh besaßen, nicht zu den Hintersiedlern. Archiv für sächsische Geschichte 2, 53. R. einem Dorfe unmittelbar an der Höhe des Thüringer Waldgebirges, unfern den Gegenden, an die sich das Andenken der ersten Verkündigungen des Christentums durch Bonifatius knüpft; da mögen die Vorfahren Luthers Jahrhunderte lang auf ihrer Hofstätte gesessen haben, wie diese Thüringer Bauern pflegen, von denen immer ein Bruder das Gut behält, während die anderen ihr Fortkommen auf andere Weise suchen. Von diesem Los, sich irgendwo auf eigene Hand Heimat und Herd erwerben zu müssen, betroffen, wandte sich Hans Luther nach dem Bergwerk zu Mansfeld, wo er im Schweiß seines Angesichts sein Brot verdiente, mit seiner Frau Margret, die gar oft das Holz auf ihrem Rücken hereinholte. Von diesen Eltern stammt Martin Luther. Er kam in Eisleben auf die Welt, wohin, wie eine alte Sage ist, seine rüstige Mutter eben gewandert war, um Einkäufe zu machen. Er wuchs auf in der Mansfelder Gebirgsluft.

Wie nun Leben und Sitte jener Zeit überhaupt streng und rauh, so war es auch die Erziehung. Luther erzählt, daß ihn die Mutter einst um einer armseligen Nuß willen blutig gestäupt, der Vater ihn so scharf gezüchtigt habe, daß er sein Kind nur mit Mühe wieder an sich habe gewöhnen können. In der Schule ist er eines Vormittags fünfzehnmal hintereinander mit Schlägen gestraft worden. Sein Brot mußte er dann mit Singen vor den Türen, mit Neujahrsingen auf den Dörfern verdienen. Sonderbar, daß man die Jugend glücklich preist und beneidet, auf welche doch aus der Dunkelheit der kommenden Jahre nur die strengen Notwendigkeiten des Lebens einwirken, in der das Dasein von fremder Hilfe abhängig ist und der Wille eines andern mit eisernem Gebot Tag und Stunde beherrscht. Für Luther war diese Zeit schreckenvoll.

Von seinem fünfzehnten Jahre an ging es ihm etwas besser. In Eisenach, wo er eine höhere Schule besuchte, fand er Aufnahme bei den Verwandten seiner Mutter; in Erfurt, wohin er zur Universität ging, ließ ihm sein Vater, der indessen durch Arbeitsamkeit, Sparsamkeit und Gedeihen in bessere Umstände gekommen war, freigebige Unterstützung zufließen; er dachte, sein Sohn solle ein Rechtsgelehrter werden, sich anständig verheiraten und ihm Ehre machen.

Auf die Beschränkungen der Kindheit folgen aber in dem mühseligen Leben der Menschen bald andere Bedrängnisse. Der Geist fühlt sich frei von den Banden der Schule, er ist noch nicht zerstreut durch die Bedürfnisse und Sorgen des täglichen Lebens; mutvoll wendet er sich den höchsten Problemen zu, den Fragen über das Verhältnis des Menschen zu Gott, Gottes zur Welt. Indem er ihre Lösung gewaltsam zu erstürmen sucht, ergreifen ihn leicht die unseligsten Zweifel. Es scheint fast, als sei der ewige Ursprung alles Lebens dem jungen Luther nur als der strenge Richter und Rächer erschienen, der die Sündhaftigkeit mit der Qual der Höllenstrafen heimsuche und den man nur durch Buße, Abtötung und schweren Dienst versöhnen könne. Als er einst im Juli 1505 von dem väterlichen Hause zu Mansfeld wieder nach Erfurt zurückging, ereilte ihn auf dem Felde eines jener furchtbaren Gewitter, wie sie sich nicht selten hier am Gebirge lange ansammeln und endlich plötzlich über den ganzen Horizont hin entladen. Luther war schon ohnedies durch den unerwarteten Tod eines vertrauten Freundes erschüttert. Wer kennt die Momente nicht, in denen das stürmische verzagte Herz durch irgend ein überwältigendes Ereignis, wäre es auch nur eben der Natur, vollends zu Boden gedrückt wird. In dem Ungewitter erblickte er, in seiner Einsamkeit auf dem Feldweg, den Gott des Zornes und der Rache; ein Blitz schlug neben ihm ein; in diesem Schrecken gelobte er der h. Anna, wenn er gerettet werde, in ein Kloster zu gehen.

Noch einmal ergötzte er sich mit seinen Freunden eines Abends bei Wein, Saitenspiel und Gesang; es war das letzte Vergnügen, das er sich zugedacht; hierauf eilte er sein Gelübde zu vollziehen und tat Profeß in dem Augustinerkloster zu Erfurt. Wie hätte er aber hier Ruhe finden sollen, in alle der aufstrebenden Kraft jugendlicher Jahre hinter die enge Klosterpforte verwiesen, in eine niedrige Zelle mit der Aussicht auf ein paar Fuß Gartenland, zwischen Kreuzgängen, und zunächst nur zu den niedrigsten Diensten verwandt. Anfangs widmete er sich den Pflichten eines angehenden Klosterbruders mit der Hingebung eines entschlossenen Willens. »Ist je ein Mönch in den Himmel gekommen,« sagt er selbst, »durch Möncherei, so wollte ich auch hineingekommen sein.« Aber dem schweren Dienst des Gehorsams zum Trotz ward er bald von peinvoller Unruhe ergriffen. Zuweilen studierte er Tag und Nacht und versäumte darüber seine kanonischen Horen; dann holte er diese wieder mit reuigem Eifer nach, ebenfalls ganze Nächte lang. Zuweilen ging er, nicht ohne sein Mittagbrot mitzunehmen, auf ein Dorf hinaus, predigte den Hirten und Bauern und erquickte sich dafür an ihrer ländlichen Musik; dann kam er wieder und schloß sich tagelang in seine Zelle ein, ohne jemand sehen zu wollen. Alle früheren Zweifel und inneren Bedrängnisse kehrten von Zeit zu Zeit mit doppelter Schärfe zurück.

Wenn er die Schrift studierte, so stieß er auf Sprüche, die ihm ein Grauen erregten, z. B.: Errette mich in deiner Gerechtigkeit, deiner Wahrheit; »ich gedachte,« sagt er, »Gerechtigkeit wäre der grimmige Zorn Gottes, womit er die Sünder straft.« In den Briefen Pauli traten ihm Stellen entgegen, die ihn tagelang verfolgten. Wohl blieben ihm die Lehren von der Gnade nicht unbekannt; allein die Behauptung, daß durch dieselbe die Sünde auf einmal hinweggenommen werde, brachte auf ihn, der sich seiner Sünde nur allzuwohl bewußt blieb, eher einen abstoßenden, persönlich niederbeugenden Eindruck hervor. Es kamen Momente, wo die angstvolle Schwermut sich aus den geheimen Tiefen der Seele gewaltig über ihn erhob, ihre dunkeln Fittiche um sein Haupt schwang, ihn ganz darnieder warf. Als er sich einst wieder ein paar Tage unsichtbar gemacht hatte, erbrachen einige Freunde seine Zelle und fanden ihn ohnmächtig, ohne Besinnung ausgestreckt. Sie erkannten ihren Freund; mit schonungsvoller Einsicht schlugen sie das Saitenspiel an, das sie mitgebracht; unter der wohlbekannten Weise stellte die mit sich selber hadernde Seele die Harmonie ihrer inneren Triebe wieder her und erwachte zu gesundem Bewußtsein.

Liegt es aber nicht in den Gesetzen der ewigen Weltordnung, daß ein so wahres Bedürfnis der Gott suchenden Seele dann auch wieder durch die Fülle der Überzeugung befriedigt wird? Der erste, der Luthern in seinem verzweiflungsvollen Zustande, man kann nicht sagen Trost gab, aber einen Lichtstrahl in seine Nacht fallen ließ, war ein alter Augustinerbruder, der ihn in väterlichem Zuspruch auf die einfachste erste Wahrheit des Christentums hinwies, auf die Vergebung der Sünden durch den Glauben an den Erlöser, auf die Lehre Pauli Römer am dritten, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben: Lehren, die er wohl auch früher gehört haben mochte, die er aber in ihrer Verdunklung durch Schulmeinungen und Zeremoniendienst nie recht verstanden, die erst jetzt einen vollen, durchgreifenden Eindruck auf ihn machten. Er ward inne, daß die ewige Gnade selbst, von welcher der Ursprung des Menschen stammt, die irrende Seele erbarmungsvoll wieder an sich zieht und sie mit der Fülle ihres Lichtes verklärt, daß uns davon in dem historischen Christus Vorbild und unwidersprechliche Gewißheit gegeben worden; er ward allmählich von dem Begriff der finstern, nur durch Werke rauher Buße zu versöhnenden Gerechtigkeit frei. Er war wie ein Mensch, der nach langem Irren endlich den rechten Pfad gefunden hat und bei jedem Schritt sich mehr davon überzeugt: getrost schreitet er weiter. So stand es mit Luther, als er von seinem Provinzial im Jahre 1508 nach Wittenberg gezogen ward.

Wenn Luther nichts anderes getan, als die Mißbräuche des römischen Hofes angegriffen hätte, so konnte er von den Ständen des Reiches nimmermehr verlassen werden; die Gesinnung, die er in dieser Hinsicht ausgesprochen, war die allgemeine, den Ständen selber eigen. Wahrscheinlich hätte ihr auch der Kaiser nicht widerstehen können; sein Beichtvater hatte ihm die Züchtigung des Himmels angekündigt, wenn er die Kirche nicht reformiere. Man könnte sich fast zu dem Wunsche versucht fühlen, daß Luther fürs erste hierbei stehen geblieben sein möchte. Es würde die Nation in ihrer Einheit befestigt, zu einem Bewußtsein derselben erst vollkommen geführt haben, wenn sie einen gemeinschaftlichen Kampf wider die weltliche Herrschaft von Rom unter seiner Anführung bestanden hätte. Jedoch die Antwort ist: die Kraft dieses Geistes würde gebrochen gewesen sein, wenn eine Rücksicht ihn gefesselt hätte von einem nicht durchaus religiösen Inhalt. Nicht von den Bedürfnissen der Nation sondern von religiösen Überzeugungen war er ausgegangen, ohne die er nie etwas gemacht hätte, und die ihn nun freilich weiter geführt hatten, als es zu jenem politischen Kampfe nötig oder auch nützlich war. Der ewig freie Geist bewegt sich in seinen eigenen Bahnen.

Luther in Worms, Deutsche Geschichte 1, 333-337, Melanchthon 1, 274 ff. 287. Religionsgespräch zu Marburg 3, 121-127. Luther in Koburg, 3, 189-192. Die Wittenberger Concordie 4, 58-60. Luthers Tod 4, 292 f.


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