Leopold von Ranke
Geschichtsbilder aus Leopold v. Rankes Werken
Leopold von Ranke

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10. Kaiser Karl V. nach seiner Abdankung.

Deutsche Geschichte V, Werke Bd. 5 S. 303 ff.

In Estremadura, in der Vera von Placencia, die einen alten Ruf gesunder Luft genießt, in der Mitte von Baumpflanzungen, die von frischen Quellen und Bächen vom Gebirge belebt sind, liegt das Hieronymitenkloster San Juste, das damals aus zwei Klostergebäuden und einer Kirche bestand, am Abhang eines Hügels, der es vor Nordwinden schützt, in vollkommener Einsamkeit. Dahin hatte sich der Kaiser bald nach seiner Ankunft in Spanien begeben. Man dürfte nicht glauben, daß er ein Klosterbruder geworden wäre. Er wohnte nicht in dem Kloster, sondern an der Kirche war ihm ein nicht etwa glänzendes und prachtvolles, aber nach seinen niederländischen Gewohnheiten und den Erfordernissen seines Gesundheitszustandes für Sommer und Winter eingerichtetes geräumiges Wohnhaus erbaut. Eine zahlreiche Dienerschaft, die noch den Apparat einer Hofhaltung darstellte, war bei ihm geblieben; sie wohnte zum Teil in benachbarten Ortschaften. Innerhalb der Klosterräume blieb das Bereich der Mönche und der fremden Gäste sorgfältig geschieden; der Haushofmeister liebte die Berührung mit den Mönchen nicht, er suchte sie von jedem kleinen Dienst auszuschließen. Dem Kaiser bekam das Landleben unter dem südlichen Himmel vortrefflich; niemals hatte er sich besser befunden als im Sommer des Jahres 1557, dort in der Mitte der Orangengärten, zwischen denen sein Haus lag, und in denen sein Gärtner Blumenpflanzungen nach seiner Anordnung anlegte. Seine Umgebung hatte Befehl, keine Besuche anzunehmen, und in dem Kloster war es so still, als wäre er nicht anwesend. Oder vielmehr, es ward noch stiller durch ihn; er bemerkte mit Mißfallen, daß zuweilen Frauen an die Pforte kamen und mit den Mönchen redeten; auf seinen Wunsch ward es abgestellt. Man hatte dafür gesorgt, daß der Blick aus seinen Zimmern, der über die Klostergärten hinführte, durch nichts Fremdartiges gestört wurde. Sein Vergnügen war, wenn er sich wohl befand, nach einer kleinen ein paar Armbrustschüsse entfernten Einsiedelei zu lustwandeln, unter dem Schatten dichtgepflanzter Kastanienbäume, welche vor der Sonne dieses Himmels schützten; zuweilen machte er den Weg auf einem Saumtier oder in seinem Tragsessel. Den gottesdienstlichen Handlungen beizuwohnen, war ihm religiöse Pflicht und zugleich Vergnügen. Er besaß Geschmack und Unterscheidungsgabe für die Musik; die Obern des Ordens hatten nicht versäumt, ihre besten Stimmen in dem Kloster zu vereinigen. Seine Wohnung war in eine solche Verbindung mit der Kirche gesetzt, daß er in den Tagen der Krankheit den Gesang und die Feier der Messe in seinem Schlafzimmer vernehmen konnte. Des Nachmittags wurden gelehrte Unterhaltungen gepflogen, Stellen aus den Kirchenvätern oder den Paulinischen Briefen gelesen, Predigten gehört; doch nahm sich der Kaiser nicht übel, auch wegzubleiben, wenn etwa eben Briefschaften von seinem Sohn oder von seiner Tochter, welche die Regentschaft in Spanien führte, eingelaufen waren. Es liegt ein idyllischer Reiz über dieser Verbindung von Landleben und Klostereinsamkeit, der Weltentsagung eines Fürsten, dessen Tun und Lassen beide Hemisphären erfüllt hatte. Aber seine Zurückgezogenheit war doch weit entfernt, eine absolute zu sein; sie wurde unaufhörlich durch die Geschäfte unterbrochen.

Solange der Mensch atmet und lebt, kann er sich dem Kampf der Elemente, welche die Welt bewegen, und den Wechselfällen desselben nicht entziehen. Indem der weltliche Bestand des Papsttums fester begründet wurde, als der Kaiser gewünscht hatte, wurde er inne, daß die Gegner der geistlichen Autorität desselben, in denen er seine eigenen Feinde sah, sich in seiner Nähe regten; plötzlich entdeckte man kleine Gemeinden protestantischer Tendenz in Valladolid und Sevilla. Augustin Cazalla, der während des schmalkaldischen Krieges um ihn gewesen und noch in Juste vor ihm gepredigt hatte, wies sich selbst als ein Lutherisch-Gläubiger aus. Der Kaiser war darüber betroffen, ja erschüttert. Am Ende seiner Tage mußte er erleben, daß ein Mann, der sein Gewissen eine Zeitlang geleitet, die Meinungen bekannte, mit denen er sein ganzes Leben gekämpft hatte. Seitdem sie durch ihre mächtige Wiedererhebung, vor fünf Jahren sein Glück zerstört hatten, waren sie ihm vollends unerträglich geworden. Mit dem Gefühl, als sei das geistliche und weltliche Heil von Spanien in Gefahr, forderte er seine Tochter und die InquisitionÜber die Einsetzung der Inquisition in Spanien, 1478 unter Königin Isabella, s. »Romanische und germanische Völker«, S.42 ff.; über ihre Wirkungen »Spanische Monarchie«, S. 195 ff. (Werke Bd.35 u. 36). auf, diese Regungen mit der Wurzel auszurotten, ohne Ansehen der Person und mit unerbittlicher Strenge, und zwar auf der Stelle, denn sonst würden sie unüberwindlich werden; ihn habe die Erfahrung belehrt, daß ohne Gleichförmigkeit der Religion weder Ruhe noch Wohlfahrt möglich sei. Die Inquisition schritt zu ihren Verhaftungen; der Kaiser sprach den Wunsch aus, diese Ketzer verbrannt zu sehen. Er soll in diesem Augenblick bereut haben, daß er an Martin Luther, trotz des sicheren Geleites, daß er ihm gegeben, nicht die Strafe der Ketzer vollstreckt habe.

Es ist die universalhistorisch größte Handlung Karls V., daß er damals das gegebene Wort höher stellte als die kirchliche Satzung. Aber die Stimmung und Sinnesweise jener Zeit, die Verflechtung der Angelegenheiten in Deutschland und in Italien, welche damals die Schonung zu einer Art von Notwendigkeit machte, waren in Vergessenheit geraten; man fühlte nur die widerwärtigen Folgen, die daraus für den ungeirrten Bestand der alten Kirche und die Machtstellung des Hauses Österreich-Burgund entsprungen waren. Der Kaiser soll gemeint haben, er hätte das Geleit brechen sollen, da Luther einen höhern Herrn beleidigt habe, als er selber sei. So ganz wäre er zur Identifizierung der göttlichen Dinge mit den kirchlichen Anordnungen auf Erden zurückgekehrt. Dazu mag der Aufenthalt in dem exklusiv rechtgläubigen Königreich Spanien beigetragen haben; selbst in dem Arzte des Kaisers erwachten Skrupel, daß er eine französische Bibel bei sich hatte. Dahin führte auch die tägliche unmittelbare Berührung mit den Hieronymiten des Klosters. Diese können nicht genug rühmen, mit welchem Eifer, der Kaiser, so oft es ihm möglich war, ihrem Gottesdienste beiwohnte; jeder Donnerstag war für ihn ein Festtag des Corpus Christi. Von dem Gefühl der Nichtigkeit des menschlichen Daseins zeigte er sich doppelt durchdrungen, als er auch das Kaisertum aufgegeben hatte; er war weder König noch Kaiser mehr, er wollte in der Messe nur noch mit seinem Taufnamen genannt sein. Die Beziehungen des Ewigen und des Vergänglichen, des individuellen Lebens zu Gott, wie sie die katholische Kirche faßt und in ihren Formen ausprägt, das Geheimnis des Jenseits beschäftigen sein Gemüt bis zu krankhafter Erregung. Er wurde nicht müde, die Exequien seiner Eltern, seiner Gemahlin, einer der verstorbenen Schwestern feiern zu lassen und ihnen beizuwohnen. Nicht unerhört war es. daß man noch bei seinen Lebzeiten seine eigenen Exequien beging; die Kirche hatte dafür eine Modifikation der Feierlichkeit eingeführt. Die Hieronymiten versichern mit der größten Bestimmtheit, daß er selbst eine solche Feier veranstaltet und ihr in Person beigewohnt habe.

Sehr charakteristisch ist es nun, daß er, in diese dunkeln geistlich-phantastischen Gedanken vertieft, in demselben Tagen doch auch den Interessen seines Hauses, die noch immer sehr gefährdet waren, die eingehendste Aufmerksamkeit gewidmet hat. Da es die niederländischen Geschäfte notwendig machten, forderte er seine Schwester Maria auf das dringendste auf, trotz alledem, was zwischen ihnen verabredet worden, noch einmal dahin zurückzugehen und die Regierung zu übernehmen; sie könne, sagte er ihr, dem allgemeinen Wohl und ihrem Hause keinen größeren Dienst leisten. Dazu kam es aber doch nicht. Seine Schwester war nicht geneigt, mit der Welt noch einmal anzuknüpfen, und ihn selbst rief das Geschick von hinnen. Die übermäßige Hitze des Sommers 1558, welche einer ganzen Anzahl seiner niederländischen Begleiter das Leben kostete, machte auch dem seinen ein Ende; er starb am 21. September 1558.

Sein dynastischer Ehrgeiz war immer zugleich ein kirchlicher gewesen. Am Ende seiner Tage hat er oft für die Einheit der Kirche gebetet; »in deine Hände, o Herr,« hörte man ihn sagen, »habe ich deine Kirche übergeben«. Er starb in dem Gedanken, der sein Leben ausgemacht hatte. Aber für eine Kirche von politisch-religiöser Einheit, die ganze abendländische Welt umfassend, wie er sie gedacht, war kein Raum mehr in Europa. Der Gedanke selbst ist niemals wieder so lebendig in die Seele eines Menschen gekommen, wie Karl V. ihn hegte. Schon genug, wenn die südlichen Nationen sich der vordringenden Bewegung nur selber erwehrten; von den nördlichen, einmal in der Abweichung begriffenen war keine Rückkehr zu erwarten. Und beruht denn, so darf man fragen, die Einheit der Christenheit wirklich so ausschließend auf dem gleichen religiösen Bekenntnis? Sehen wir weiter um uns, so hat sie sich auch unter den Gegensätzen behauptet, welche die gemeinsame Grundlage nicht verleugnen können, sich unaufhörlich aufeinander beziehen, einer ohne den andern nicht zu denken sind. Zuletzt ist der gleichartige Fortschritt der europäischen Kultur und Macht an die Stelle der kirchlichen Einheit getreten. Was diese verloren hatte, das Übergewicht über die Welt, ist durch jene im Laufe der Jahrhunderte wieder erworben worden.


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