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Deutsche Geschichte V, Werke Bd.5 S.348 ff.
Ein herrliches Werk würde sein, wenn einmal die Teilnahme, welche die Deutschen an der Fortbildung der Wissenschaften überhaupt genommen haben, im Lichte der europäischen Entwicklung jedes Jahrhunderts mit gerechter Würdigung dargestellt werden könne.Diese Anregung Rankes ist in Erfüllung gegangen durch die von der historischen Kommission auf seinen Antrag herausgegebene »Geschichte der Wissenschaften in Deutschland«. Zu einer allgemeinen Geschichte der Nation wär es eigentlich unentbehrlich. Denn nicht allein in den Bildungen des Staats und der Kirche, oder in Poesie und Kunst tritt der Geist eines großen Volkes hervor; zuweilen werfen sich die besten Kräfte auf die wissenschaftlichen Gebiete. Man muß wissen, was sie da schaffen und vollbringen, wenn man die Bestrebungen einer Epoche überhaupt verstehen will. Die Zeit, die wir hier betrachten, würde eine der fruchtbarsten sein. Schon erscheinen, z. B. bei Paracelsus,Theophrastus Paracelsus von Hohenheim, geboren 1493 zu Einsiedeln im Kanton Schwyz, 1526-28 Stadtarzt in Basel, gestorben 1541 in Salzburg. die Anfänge der Chemie. Es kommen die feinsten und eingreifendsten physikalischen Beobachtungen vor. Georg Hartmann zu Nürnberg, der sich mit Verfertigung von Kompassen beschäftigte, hat dabei die Inklination des Magnets entdeckt; er bemerkte, wie der Nordmagnetismus beim Streichen südliche Polarität hervorbringe; er scheint noch mehr gewußt zu haben, als er ausdrücklich ausspricht. Gern unterhielt er teilnehmende Fürsten, den König Ferdinand mährend des Reichstags, oder den Herzog Albrecht von Preußen in Briefen, von der geheimnisvollen Tugend und Kraft des Magneten. Die Wißbegier Karls V., die von seiner Stellung zu beiden Hemisphären genährt ward, veranlaßte zu Arbeiten der mathematischen Geographie, welche allen Nationen zu statten gekommen sind. Aus Duisburg, von Mercator, rührt die erste durchgreifende Verbesserung der Zeichnung der Land- und Seekarten her. An den östlichen Grenzen, wo die deutschen Elemente sich mit den polnischen berühren, ging aus einer der geschildertenRanke hat im Vorhergehenden (S. 336 ff,) dargestellt, wie unter dem fortdauernden Einflusse des Humanismus Theologie, Rechtswissenschaft, Medizin, Naturwissenschaft sich in Deutschland entwickelten. S. 343 auch Näheres über Paracelsus. ähnlichen Beschäftigung mit dem Altertum, gleichsam unter dieser geistigen Atmosphäre, eine der größten Entdeckungen hervor, die das Jahrhundert auszeichnen, die des wahren Sonnensystems.Hier folgt bei Ranke Näheres über Kopernikus. Es gereicht der Schule von Wittenberg zur Ehre, daß einer ihrer jungen Professoren, Rhäticus,Von ihm berichtet Gassendi, Vita Copernici, Paris 1654, zitiert in Humboldts Kosmos 2, 498 f. durch das Gerücht in Kenntnis gesetzt, sich zu Kopernikus begab, der Welt die erste sichere Nachricht über die Entdeckung mitteilte und wirklich den Druck des von dem Autor beinahe bei Seite gelegten Werkes veranlaßt hat.
Den Vorwurf dürfte man überhaupt der Wittenberger Schule damaliger Zeit nicht machen, daß ihre Theologie sie abgehalten hätte, sich auch mit anderen Wissenschaften zu beschäftigen. Wir finden die eifrigsten Theologen, wie Wigand zu Eisleben, die benachbarten Berge durchstreifen, um die Wunder Gottes in den seltenen Kräutern zu schauen; Michael Neander zu Ilfeld verband mit der Kräuterkunde selbst medizinische Einsichten, er wird als der ChironVgl. Ilias 11, 832; 4, 219. des Harzes gepriesen; Johann Mathesius besaß eine treffliche Kenntnis der Metalle und Erdgewächse. In hohem Ansehen bei seinem Leben und unvergänglichem Gedächtnis nach seinem Tode stand Kaspar Cruciger, Professor der Theologie,Luthers Gehilfe bei der zweiten Ausgabe der Bibelübersetzung, um 1540; s. Ranke S. 322. den aber physikalische und besonders mathematisch-astronomische Einsichten persönlich fast noch mehr auszeichneten. Melanchthon, der sich immer in lebendiger Teilnahme an allen diesen Fortschritten zu halten suchte, in dessen Vorlesungen z. B. Valerius CordusEin junger Gelehrter in Wittenberg, dessen frühen Tod auf einer italienischen Reise Cruciger in einem lateinischen Gedicht beklagte; Ranke S. 347. Anregung zu seinen botanischen Ausflügen empfing, widmete doch seinen besten und fruchtbarsten Fleiß den philosophischen Studien.Hier folgt bei Ranke Näheres über Melanchthons philosophische Schriften, dann über die historischen Studien jener Zeit (Sleidanus, die große Kirchengeschichte der Magdeburger Centuriatoren, die mit Erfolg Kritik übten, z. B. an den falschen päpstlichen Dekretalen).
Wir überschauen die Arbeit, in welcher der deutsche Geist begriffen war. In allen Gebieten reißt er sich von der Überlieferung los, welche sich im Laufe der Zeit in hohem Grade verfälscht und mit Aberglauben erfüllt hatte. Aber indem er zu echteren Quellen der Belehrung aufsteigt, bemerkt er doch, was auch diese zu wünschen übrig lassen. Er ist überall bemüht, die Kenntnis, welche die Alten besaßen, zu erweitern und zu ergänzen. Gegen die Systeme, die sie gebildet, ruft er den fragmentarischen Widerstand zu Hilfe, der sich unter ihnen selbst geregt hat, und schickt sich an, aus eigener Kraft zur Anschauung der Natur der Dinge hindurchzudringen. Die gewonnene religiöse Überzeugung flößt ihm Vertrauen und Furchtlosigkeit ein; Forschung und Kritik werden ihm Natur. Wir nehmen nicht ein Bestreben wahr, daß aus dem Schoße der Nationalität ohne fremde Einwirkung hervorgegangen wäre; der deutsche Geist sucht vielmehr den Boden der schon vor Zeiten gegründeten Wissenschaft nun auch seinerseits vollständig zu gewinnen und an der Arbeit der Jahrhunderte tätigen Anteil zu nehmen.
Wenn es eben daher rührt, daß Latein die ausschließende Sprache der Wissenschaft blieb, so ward doch auch die auf die Muttersprache angewiesene Bevölkerung von der Teilnahme an der Bewegung nicht ausgeschlossen. Schon die theologischen Flugschriften, die Predigten, die immer schwerere Fragen in Anregung brachten, nahmen die Aufmerksamkeit der Ungelehrten in Anspruch. Ein großen Teil der alten Literatur ward ihnen in deutschen Übersetzungen zugänglich gemacht; es ist bezeichnend, was man übersetzte, was man beiseite ließ. Man nahm z. B. die Aeneide, die Metamorphosen, nicht Horaz noch Catull; es war hauptsächlich der Stoff, den man sich anzueignen suchte. Man beschäftigte sich viel mit Terenz, seines lehrreichen Inhalts wegen, der gleich auf dem Titel gerühmt ward, wenig mit Plautus; man übersetzte nicht die Reden Ciceros, sondern seine populären philosophischen Schriften. Am sorgfältigsten sind vielleicht diejenigen Werke bearbeitet, die zu unmittelbarem Gebrauch bestimmt waren. Vitruvius erscheint »als ein Schlüssel aller mathematischen und mechanischen Künste, die zur Architektur gehören, aus rechtem Grund und sattem Fundament, so daß jeder Kunstbegierige einen rechten Verstand fassen möge«: einer der schönsten Drucke jener Zeit,Vitruvius, erstmals verteutscht durch G. H. Rivium, Nürnberg 1548. Folio. Den Terenz bearbeitete Johann Rivius (Bachmann), geboren 1500 zu Attendorn in Westfalen, Rektor der Schule in Freiberg, 1545 Konsistorialassessor zu Meißen und Inspektor der Fürstenschule daselbst; gestorben 1553. mit trefflichen Holzschnitten, unter denen auch das Bildnis Albrecht Dürers prangt.
Fehlt es auch nicht durchaus an freier Produktion, so ist es doch noch mehr Aneignung, Popularisierung schon vorhandener fremder Stoffe, was auch der deutschen Literatur jener Zeit ihren Charakter gibt. So recht eigen ist dies das Element, in welchem sich die umfangreichen Werke des »sinn- und kunstreichen, wohlerfahrenen« Meister Hans Sachs bewegen. Einen großen Teil der heiligen Bücher alten und neuen Testaments gibt er in Reimen wieder; daran schließen die Historien von den Märtyrern, dann folgen die weltlichen Geschichten, wo dann bei der alten Welt »der griechische Weise Herodotus« oder Justin oder Johann Herold abwechselnd als Gewährsmänner genannt werden, in der neueren die Chronisten, die französisch Chronika, die hochburgundisch Chronika. Weiter finden sich die Erzählungen der Volksbücher, wie vom hörnen Siegfried oder der schönen Magelone; die Sprüche der alten Philosophen und die Tierfabel fehlen nicht; zuweilen werden theologische Fragen aufgeworfen, wo dann jeder Teil seine Zeugnisse aufführt, Propheten und Apostel gewissermaßen redend erscheinen.
Indem sich aber Hans Sachs fast überall früheren Autoren anschließt, weiß er sich doch ihrer Form zu erwehren. Sein Verfahren steht anderer Poesie beinahe entgegen. Während andere dem überlieferten Stoffe neue Gestalt zu geben suchen, führt er das Gestaltete auf den Stoff zurück. Er nimmt zuweilen alte Komödien herüber, aber gleichsam auszugsweise; ihm gewinnen hauptsächlich nur die Situationen, ihre Aufeinanderfolge und das daraus hervorgehende Ergebnis Teilnahme ab. Seine dramatischen Arbeiten sind höchst sonderbar; man könnte sagen, sie entbehren des Dialogs; wenigstens arbeitet sich derselbe aus der Erzählung nur eben erst hervor. Und selbst mit seiner Erzählung verhält es sich oft ähnlich; er epitomiert die Volksbücher. Den großen Inhalt der Literatur, der ihm selbst zu Händen gekommen, rückt er in einen seinen Lesern entsprechenden Gesichtskreis. Nur da entwickelt er dichterische Gaben, wo er sich entweder in diesem Kreise schon bewegt, wie in den Schwänken, oder wo er das Anmutige, Heitere, Unschuldig-Sinnliche berührt. Die grüne Tiefe der Wälder, die Maienluft der Wiesen, Schönheit und Schmuck der Jungfrauen weiß er mit unnachahmlicher Anmut und Zartheit zu schildern. Überhaupt muß man ihm Zeit lassen und ihm nachgehen. Seine Anfänge pflegen prosaisch und uneben zu sein; weiterhin wird die Sprache fließender und die Gedanken treten mit voller Deutlichkeit hervor; mit treuherziger Einfalt spendet er besonders die Lehre aus. Es ist ihm nicht genug, in seinem Garten die schönsten und würzigsten Blumen gepflanzt zu haben; er will auch kräftige Wasser, heilsame Säfte daraus abziehen zur Stärkung der geistig Schwachen. Religiöse Überzeugung und moralische Absicht sind aber in ihm eins und dasselbe. Mögen die Theologen über einzelne Punkte noch hadern, ihn berühren diese Streitigkeiten nicht. Er hat eine sichere Weltanschauung gewonnen, die alles umfaßt, der sich alles, was in sein Bereich kommt, von selbst unterwirft. Er hat Gefühl für den Reiz der irdischen Dinge, und oft beschäftigt ihn die Vergänglichkeit derselben; man sieht wohl, daß dieser Gegensatz inneren Eindruck auf ihn hervorbringt, aber er hat dafür einen ewigen Trost ergriffen, an dem ihn nichts irre machen kann.
Diese Bildung, die doch auch von ihrem Standpunkt aus die Welt umfaßt, und diese Gesinnung flößen uns Hochachtung ein gegen den damaligen Stand der deutschen Handwerker, aus dem sie hervorging. An vielen Orten, wo von jeher die Poesie geblüht, fand man noch Meistersänger. Um Hans Sachs hatten sich deren, wie man sagt, über zweihundert in Nürnberg gesammelt, und noch oft hielten sie ihre Singschule zu St. Katharina. Sie wiederholten gern die Sage ihrer Altvordern, wie ihre Gesellschaft einst bei ihrem Ursprung von allem Verdacht der Ketzerei freigesprochen und von Kaiser und Papst bestätigt worden sei; wenn dann aber das Hauptsingen begann, welches immer schriftmäßig sein mußte, hatte der Vorderste, der Merker, die lutherische Bibel vor sich und gab Acht, ob das Lied wie mit dem Inhalt des Textes so auch mit den reinen Worten, deren sich Doktor Luther bedient hat, übereinstimmte.
Von den künstlerischen und poetischen Hervorbringungen dieser Zeit haben wohl diejenigen überhaupt den meisten Weit, welche die religiöse Gesinnung aussprechen. Das Kirchenlied, dessen Ursprung wir berührten, bildete sich von Jahr zu Jahr mannigfaltiger und eigentümlicher aus; es vereinigt die Einfalt der Wahrheit mit dem Schwung und der Tiefe des auffassenden Gemütes; es ist zugleich von dem Gefühl des Kampfes, dessen verschiedene Epochen sich darin ausgedrückt haben, und der Gewißheit des Sieges durchdrungen; es ist oft wie ein Kriegsgesang gegen den noch immer drohenden Feind. Und mit dem Liede ist zugleich die Melodie hervorgegangen, häufig ohne daß man sagen könnte, wie das geschehen ist. Nur geringe Anfänge enthalten die ersten Liederbücher von 1524; im Jahre 1545 erscheinen schon 98 Melodien, im Jahre 1573, denn mit der Zeit wuchs auch die Gabe, 165. Biblische Texte hatten eine besondere Kraft, die Musiker anzuregen; zu dem Magnifikat finden sich vier verschiedene Weisen, alle gleich trefflich. Und hieran knüpfte sich die kunstgerechte Ausbildung des Chorals. Das Unechte und Überladene, das sich der früheren Musik beigesellt hatte, ward ausgestoßen; man bemühte sich, nur die Grundtonart streng und harmonisch zu entfalten; die evangelische Gesinnung gewann im Reich der Töne Ausdruck und Darstellung.
Gewiß schloß man sich auch hier an das Vorhandene an. Es hat Kirchenlieder vor Luther gegeben; die neue Musik gründete sich auf die alten Gesänge der lateinischen Kirche, aber alles atmete doch einen neuen Geist. So beruhte seinerseits auch der gregorianische Gesang auf den Grundsätzen der antiken Kunstübung. Eben darin liegt die Eigentümlichkeit der ganzen Bewegung, daß sie das Konventionelle, Abgestorbene oder doch nicht zu weiterem Leben zu Entwickelnde von sich stieß und dagegen die lebensfähigen Momente der überlieferten Kultur unter dem Anhauch eines frischen Geistes, der nach wirklicher Erkenntnis strebte, zu weiterer Entfaltung brachte. Dadurch ward sie selbst ein wesentliches Glied des universalhistorischen Fortschritts, der die Jahrhunderte und Nationen verbindet.
Es bedurfte noch geraumer Zeit, ehe die erwachten Ideen sich durcharbeiten, bewähren konnten; auf Kopernikus mußte erst Kepler folgen. Die Einwirkungen der mitstrebendenden Nationen der europäischen Gemeinschaft mußten erst, wo sie fördernd waren, aufgenommen, wo aber das Gegenteil, was doch auch geschah, überwunden werden. Die Wissenschaften waren noch zu streng an den Gebrauch der lateinischen Sprache gebunden, als daß der Geist der Nationen neuerer Zeit sich mit voller Freiheit darin hätte bewegen können. Die Tiefe und Ursprünglichkeit der eigentümlich germanischen Anschauungen war gleichsam zu stark zurückgedrängt. Es ist eine Zeit gekommen, wo der deutsche Geist das Altertum noch lebendiger begriffen hat, dem Geheimnis der Natur noch einen Schritt näher getreten und zugleich zu eigner und doch allgemein gültiger Darstellung gelangt ist. Dazu gehörte aber freilich, denn auch der wissenschaftliche Fortschritt beruht auf dem langsam reifenden allgemeinen Leben, eine Entwicklung der politischen Verhältnisse, die es möglich machte. Und für diese standen, trotz alledem was bereits erreicht war, noch die schwersten Kämpfe bevor. So viel hatte Karl V. doch bewirkt, daß sich der protestantische Geist nicht der ganzen deutschen Nation und ihrer großen Institute bemächtigen konnte.