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Die Stellung, welche der moderne Kulturmensch der Tatsache des Todes gegenüber einnimmt, kann unmöglich als richtig bezeichnet werden. Vergegenwärtigen wir uns, wie das gewöhnliche, offizielle oder durchschnittliche Denken über diese Naturerscheinung beschaffen ist, so kommt es auf ein haltloses und gedankenloses Grauen hinaus. Wir denken uns üblicherweise den Tod als ungefähr das Schrecklichste, was es im Leben gibt, und versäumen darüber ganz und gar, uns mit der Tatsache abzufinden oder besser in geordnete Beziehung zu setzen, daß der Tod für jeden von uns wie überhaupt für jeden Menschen eine völlig unvermeidliche, daher durchaus notwendige und also auch naturgesetzliche Erscheinung ist, um die wir gar nicht herumkommen können und daher auch nicht herumzukommen suchen sollen, mit der wir uns deshalb jedenfalls in irgendeiner Gestalt auseinander setzen müssen. Es geziemt einem denkenden und selbstbewußten Menschen nicht, einen derartigen notwendigen Faktor in seiner Existenz stehen zu lassen, ohne ihn gedanklich so weit- und tiefgreifend durchgearbeitet zu haben, als dies irgend möglich ist. Denn wenn wir die Tatsache ins Auge fassen, daß es kein Lebewesen gibt, das nicht dem Tode unterworfen wäre, so müssen wir daraus den unvermeidlichen Schluß ziehen, daß der Tod ein Bestandteil des Lebens ist, ebenso wie etwa die Sauerstoffaufnahme oder die Wärmeentwicklung in dem lebenden Körper.
Besondere Bedenken über die gegenwärtig vorherrschende Stellung zum Tode erregt der Umstand, daß die eigentümliche geistige Beschaffenheit jener allgemeinen Naturerscheinung gegenüber nur gewissen Gruppen von Menschen eigen ist, den Kulturmenschen mittlerer Beschaffenheit. Nämlich nicht den höchststehenden und führenden Geistern; denn diese sind im allgemeinen ziemlich unbefangen dem Tode gegenüber. Sondern dem ganz durchschnittlichen Kulturmenschen, der seine Anschauungen und Gefühle im allgemeinen nicht sorgfältig und persönlich prüft, sondern sie in derselben Weise aufnimmt und betätigt, wie er es in seiner Umgebung vorfindet.
Versuchen wir uns nun nach unserer Gewohnheit eine wissenschaftliche Anschauung über dieses Problem zu schaffen, indem wir uns die Frage stellen, in welchem Verhältnis überhaupt der Tod zum Leben steht, ob er etwas Zufälliges oder etwas Regelmäßiges ist, so erkennen wir ganz allgemein folgende Beziehung. Ein jedes Lebewesen fängt seine Existenz an mit einem Maximum von Lebensfähigkeit oder Lebenspotential, wie ich es wissenschaftlich nennen möchte, und verbraucht dieses Lebenspotential während seiner weitern Lebensdauer mehr und mehr. Infolgedessen altert es und verliert nach einer bestimmten Zeit, die sich von wenigen Stunden bis zu Jahrhunderten erstrecken kann, schließlich die Lebensfähigkeit auch unter Bedingungen, unter denen andre Organismen derselben Art, die sich von dem fraglichen nur durch ihre größere Jugend unterscheiden, ein reichliches und sicheres Auskommen finden. Das Leben besteht also von diesem Gesichtspunkt aus darin, daß das bei der Erzeugung oder Geburt aufgenommene Lebenspotential im Laufe eines Lebens von bestimmter durchschnittlicher Dauer, die von der Natur der Arten abhängt, verbraucht wird. Wenn der Verbrauch geschehen ist, so helfen alle andern Lebensbedingungen nicht mehr für die Fortsetzung der Existenz, sondern es tritt ein natürliches und unvermeidliches Ende ein.
Wir haben dieses natürliche Ende, welches durch den Aufbrauch des Lebenspotentials bedingt ist, auf das sorgfältigste von dem gewaltsamen Ende zu unterscheiden, welches eintritt, wenn irgendwelche andern Bedingungen des Lebens nicht erfüllt sind. Denn das Leben stellt eine recht verwickelte Maschinerie dar, in welcher eine große Anzahl von Faktoren genügend gut beschaffen sein müssen, damit es bestehen bleibt; wenn nur einer dieser Faktoren vermindert wird oder verschwindet, so hört die Lebensmöglichkeit auf. Deshalb hat Liebig das Leben sachgemäß mit einer Kette verglichen, die aus einer Anzahl Gliedern, eben diesen verschiedenen Faktoren, besteht und welche die Last des Lebewesens trägt. So stark auch jedes einzelne Glied sein mag, sowie eines von ihnen bricht, so bricht auch die Kette und die Last kann nicht mehr gehalten werden. So bald also einer der Faktoren ungenügend erfüllt ist, so kann das Leben nicht fortgesetzt werden. Während aber alle übrigen Lebensfaktoren, welche wesentlich aus den physikalischen und chemischen Umständen der Existenz und der Ernährung bestehen, bei den Lebewesen beliebig lange vorhanden sein und zur Geltung kommen können, ist das Lebenspotential ein Faktor, welcher an dem Lebewesen selbst derart haftet, daß er mit der Zeit kleiner und kleiner wird, ohne daß er ergänzt werden kann, daß also dieses Glied in der Kette der Lebensbedingungen im Laufe der Zeit mit naturgesetzlicher Notwendigkeit brüchig werden muß. Worauf diese besondere Eigentümlichkeit beruht, ob darauf, daß sich irgendwelche schädigenden Stoffe im Organismus anhäufen, die dieser auf die Dauer nicht beseitigen kann, oder ob es sich um etwa die Wirkung einer bestimmten Substanz handelt, die zwar durch den Zeugungsakt entstehen, die aber im Einzelindividuum sich nicht weiter zu vermehren vermag und deshalb einem allmählichen Verbrauch unterworfen ist, hierüber hat die Wissenschaft noch keine eindeutige Aufklärung geschafft. Festgehalten aber muß werden, daß durchaus und allgemein diese besondre Eigenschaft bei allen Lebewesen besteht, daß also das Lebenspotential eine durch das Leben selbst erschöpfbare Größe ist oder daß wir alle, wie der Dichter es gelegentlich anschaulich ausgedrückt hat, am Leben selber sterben müssen.
Es soll hier nicht auf die biologischen Voraussetzungen und Beziehungen dieser allgemeinen Tatsache eingegangen werden; denn wir brauchen von ihr nicht mehr, als ihr Vorhandensein, um den Gesichtspunkt zu gewinnen, den wir in unsrer Betrachtung vom Tode nötig haben.
Wir wenden uns mit der weiteren Frage, wie es mit dem persönlichen Verhältnis des einzelnen Lebewesen zur Tatsache des Todes steht, wie sich also die Organismen dem Tode gegenüber individuell zu verhalten pflegen. Wir beginnen systematisch mit den niedern Lebewesen, um dann die Erscheinung bis zum Menschen hinauf zu verfolgen. Dabei beobachten wir folgendes. In dem ganzen großen Gebiete der unbewußt lebenden Organismen, das wir so ziemlich als zusammenfallend mit dem Gebiet der Organismen ohne ein Zentralorgan, ohne ein Gehirn, betrachten können, ist natürlich von einer Todesfurcht überhaupt nicht die Rede. Wir werden keiner Pflanze, keinem Bakterium zuschreiben wollen, daß es vor dem bevorstehenden Tode sich irgendwie fürchten könnte, da es ja durchaus keine Vorstellung oder Voraussicht besitzt. Es werden Tod und Leben bei diesen Wesen wie ein vollkommen »selbstverständliches« Schicksal genommen, falls überhaupt eine Übertragung dieser menschlichen Vorstellungen auf die niedern Organismen möglich wäre. Aber auch bei den mit Gehirn begabten höhern Tieren sehen wir außerordentlich wenig von Todesfurcht existieren. Bei den weniger begabten Fischen und Reptilien ist davon gar nicht die Rede, aber auch bei den höher stehenden Wirbeltieren, den Vögeln und den Säugetieren, findet man nichts besonderes davon. Man darf nicht etwa hier die Flucht- und Verteidigungshandlungen solcher Lebewesen mit Todesfurcht verwechseln, diese haben mit irgendwelchen bewußten Todesvorstellungen gar nichts zu tun, sondern sind ganz unentbehrliche instinktive Eigenschaften, welche diese Lebewesen gegen Vernichtung durch Feinde oder irgend sonstige Schädigungen schützen. Ohne diese Flucht- oder Verteidigungsinstinkte müßten die entsprechenden Spezies längst untergegangen sein, und so sind diese Instinkte nicht etwa ein Ausdruck einer Beziehung dieser Lebewesen zum Tode, sondern ein Ausdruck ihrer Beziehung zum Leben, eine Lebensbedingung, die für ihre dauernde Existenz eine Notwendigkeit darstellt. Wie wenig selbst bei verhältnismäßig mehr entwickelten Wirbeltieren, etwa der Hausmaus, eine Idee von der Tatsache des Todes vorhanden ist, wurde mir schon recht früh, nämlich noch während meiner Studentenjahre außerordentlich deutlich, als ich gelegentlich eine entsprechende Beobachtung anstellen konnte. Meine Studentenwohnung war nicht frei von dem Besuche unwillkommner andrer Lebewesen, unter denen die Mäuse, die nicht nur bei Nacht, sondern auch häufig bei Tage dort ihrer Nahrung nachgingen, bei weitem nicht die unangenehmsten waren. So lag ich eines Nachmittags auf meinem Divan und beobachtete, wie zunächst eine Maus in die aufgestellte Falle, die nach dem Prinzip der Guillotine eingerichtet war, hineinging und dort prompt getötet wurde, bevor sie noch den aufgesteckten Speck hatte fressen können. Nach kurzer Frist kam eine andre Maus dazu und drängte sich neben dem Leichnam ihrer getöteten Gefährtin in die Falle hinein, um zu dem Speck zu gelangen, an dem sie sich gütlich tat. Es war also nicht der geringste Eindruck auf die zweite Maus von irgendwelcher Gefahr dadurch vorhanden, daß neben ihr ihre tote Mitmaus eben im Erkalten begriffen war. Vielmehr ging sie ganz ungestört und mit demselben Eifer, wie wenn es ein Stein gewesen wäre, ihrem Nahrungstrieb nach. Sie war somit vollkommen frei von irgendwelcher Todesfurcht.
Die Ursache dieses Verhaltens liegt natürlich bei den Mäusen in dem vollständigen Mangel an Voraussicht gegenüber derartigen Ereignissen. Ein entsprechender Instinkt, daß Todesgefahr dort droht, wo ein Leichnam eines Geschlechtsgenossen angetroffen wird, hat sich bei den Mäusen nicht entwickelt, offenbar, weil diese Situation eine so verhältnismäßig seltne ist, daß sie für die Aufrechterhaltung der Gattung keine besondre Berücksichtigung verlangt. Ob etwa beim Schlachtvieh, welches sich gelegentlich weigert, den Schlachthof zu betreten, wirkliche Todesfurcht vorhanden ist, mag dahinstehen. Ich für meine Person bezweifle es und meine nur, daß das gelegentliche Hören von Warnlauten seitens eben verletzter Genossen die Ursache ist, daß sich zuweilen die Tiere sträuben, an die Schlachtbank zu gehen. Ich habe nicht Gelegenheit gehabt, ihr Verhalten in solcher Beziehung genauer zu beobachten und überlasse es solchen, die mit diesen Vorgängen besser bekannt sind, bestimmte Angaben darüber zu machen, ob hier etwas wie wirkliche Todesfurcht nachweisbar ist und ob nicht die gewohnten menschlichen Vorstellungen sich hier vorgedrängt und Veranlassung gegeben haben, den Tieren Empfindungen zuzuschreiben, welche tatsächlich bei ihnen gar nicht vorhanden sind. Immerhin kann es zugegeben werden, daß durch die lange Beziehung zu den Menschen und durch die Häufigkeit eines gewaltsamen Endes bei den Haustieren, die zur menschlichen Nahrung verwendet werden, allmählich etwas wie ein Todesinstinkt sich ausbilden mag, wenn ich es auch für recht zweifelhaft halte, daß etwas derartiges existiert. Diese Zweifel werden vor allem dadurch begründet, daß auch bei den Menschen, falls keine besondere Beeinflussung vorliegt, eine Todesangst keineswegs in besonders starkem Maße vorhanden zu sein pflegt.
Insbesondre tritt eine Angst vor dem natürlichen Tode im hohen Alter so wenig unter normalen Verhältnissen ein, daß wir in den alten Berichten der Bibel, insbesondre im ersten Buche Moses über die Patriarchen wiederholt die Bemerkung finden: er starb alt und lebenssatt, d. h. er starb in einem Alter, wo sein Interesse am Leben so weit verschwunden war, daß ihn der Tod nicht als etwas Unerwünschtes, sondern als etwas Erwünschtes, etwa wie einen sehr ermüdeten Menschen der Schlaf erschien. In derselben Weise wird der normale Tod in Volkskreisen behandelt, welche den Wirklichkeiten des Lebens durch den Zwang ihrer Existenz näher geblieben sind, als die vielfach durch gedankenlos gepflegte äußere Formen verbildeten Angehörigen der »höheren« Schichten. Ich will nicht von dem russischen Bauern sprechen, dem der Tod vielfach die Erlösung aus einem beinah bis zur Unerträglichkeit qualvoll gestalteten Dasein ist, sondern von dem Tode bei unserer eignen Landbevölkerung, deren Angehörige ein zwar angestrengtes, aber doch im großen und ganzen von erdrückend schwerer Sorge freies Dasein führen. Bei diesen wird der Tod in dem angemessenen höhern Alter als eine vollkommen normale Angelegenheit behandelt, mit der man ebenso rechnet, wie mit dem Aufgehen des Kornes im Frühjahr und mit dem Schlagreifwerden des Holzes im Walde zu entsprechender Zeit. Und selbst wenn man ein vielleicht nicht ganz unberechtigtes Mißtrauen gegen die Schilderungen unserer Dorfnovellisten hegen sollte, so wird wohl jeder von uns aus seiner eigenen Erfahrung Beispiele erlebt haben, wie bei normalem Ablauf eines tätigen und inhaltreichen Lebens das Ende nicht nur mit Ruhe, sondern mit einem gewissen Behagen erwartet wird. Ich habe in dieser Beziehung unvergeßliche Eindrücke aus der Todeszeit meiner eigenen über 80 Jahre alt gewordenen Großmutter erlebt. Diese Frau hatte ein angestrengt tätiges Leben geführt, hatte ihre Kinder erzogen, ihrem nicht wohlhabenden Manne eine stetige und treue Hilfe geleistet und hernach ein ziemlich langes Wittum mit eifriger Arbeit ausgefüllt. Auf ihren Tod bereitete sie sich einige Wochen lang vor, da ihr Ende aus der Beschaffenheit ihrer Krankheit sich mit Sicherheit voraussehen ließ und sie dafür Sorge getragen hatte, daß nicht der kleinste Zweifel oder die geringste Verhehlung in dieser Beziehung sie von ihren Vorbereitungen abhielt. Sie bestimmte bis in jede Einzelheit, was mit ihren Sachen und mit ihrem Leichnam geschehen solle, und behandelte die ganze Angelegenheit mit derselben heitern Geschäftigkeit des Geistes, wie sie etwa eine Taufe oder eine Hochzeit in ihrem eigenen Hause behandelt haben würde. Und als dann der sehr zelotische Pfarrer des Sprengeis, zu dem sie gehörte und dem sie in bezug auf das Lebensalter um mehr als das Doppelte überlegen war, zu ihr den Zutritt erzwang (sie hatte ihn nicht sehen wollen), und sich nun in Bereitschaft gesetzt hatte, ihr die Sünden zu vergeben und die übrigen Dinge an ihr auszuführen, die ihm sein Amt vorschrieb, unterzog sie sich allerdings geduldig diesen Formen. Als er aber endlich davonging, warf sie ihm einen unbeschreiblichen heiter-ironischen Blick nach. Sie war bereits an ihrem Körper vielfach gelähmt und konnte sich nur wenig bewegen; so begnügte sie sich damit, mit einer charakteristischen Handbewegung sich ihre Haube vom Kopf zu ziehen und sie hinter ihm drein zu werfen, zum Zeichen, was sie von dieser Art der Vorbereitung zum Tode hielt. Die Worte, die sie dazu äußerte, gingen dahin, daß sie für sich beanspruchte, vom Sterben viel besser unterrichtet zu sein, als der eifrige Geistliche, der mit dem Amt den Verstand dazu überkommen zu haben glaubte.
Und noch von mancher andern Seite wird uns die innerliche Unehrlichkeit der üblichen Stellung dem Tode und den Toten gegenüber klar. Jeder von uns, der eine Beerdigung mitmachen muß, fühlt sich im Innern seines Gemüts abgestoßen durch die durchgängige Unwahrhaftigkeit, mit welcher diese ganze Feierlichkeit durchgeführt zu werden pflegt. Es ist niemandem möglich, während der Zeit die beanspruchte und durch Gebärden ausgedrückte traurige Stimmung beizubehalten. Sowie die geringste Möglichkeit gegeben ist, den Geist von den monotonen Betrachtungen des Todes abzuwenden, wird sie ergriffen und man braucht sich nur etwa die Gespräche zu vergegenwärtigen, die die Teilnehmer eines Leichenkondukts unterwegs führen, um sich zu sagen, daß es sich nur um eine vollständig äußerliche Zeremonie handelt. Die sachlichen Unwahrhaftigkeiten, welche in den üblichen Leichenreden vorgebracht werden, brauchen hier nicht einmal besonders betont zu werden. Auch hier kommen die groteskesten Erscheinungen vor, wie mir denn die Leichenpredigt eines hochangesehenen Kanzelredners in Erinnerung ist, der auf Grund persönlicher Verhältnisse bei der Beerdigung einer früheren langjährigen Dienerin eines befreundeten Hauses mitwirkte und am Grabe eine rührende Schilderung von ihrer Treue und ihren sonstigen Tugenden nicht nur während der Dienstzeit, sondern auch in ihrem späteren eigenen Heim, nachdem sie sich verheiratet und Kinder gehabt hatte, entwarf. Nach der Feierlichkeit mußte dem wohlwollenden Redner gesagt werden, daß diese ganze Schilderung das Gegenteil der Wahrheit gewesen war, da die betreffende Person sich dem Trunk ergeben und ihre häuslichen wie mütterlichen Pflichten auf das gröblichste vernachlässigt hatte. So wenig hatte der berühmte Geistliche es für notwendig gehalten, seine Rede den tatsächlichen Verhältnissen anzupassen, so sehr hielt er es für selbstverständlich, daß eine Leichenrede mit der Wahrheit nicht viel zu tun zu haben braucht.
Selbstverständlich habe auch ich persönlich unter dieser Unwahrhaftigkeit immer wieder gelitten, habe aber lange Zeit nicht Anlaß gefunden, mich mit diesen Widersprüchen auseinanderzusetzen, wie es sich doch eigentlich gehörte. Denn da meine ganze Umgebung ohne Widerrede diese Dinge hinnahm, so war ein unmittelbarer Anlaß zu einem gegenteiligen Verhalten nicht gegeben. Ein solcher aber trat mir einmal näher, als ich vor einigen Jahren mich selbst während einer kurzen Zeit in unmittelbarer Lebensgefahr befand. Ich war bei stürmischer See zu weit hinausgeschwommen und konnte bei der Rückkehr die Wirkung der Brandungswellen nicht mehr überwinden, so daß es mir nicht gelang, mich dem Ufer wieder zu nähern. Längere Zeit wurde meine bedrohliche Lage auch nicht bemerkt. Ich hatte den, wie mir schien, ziemlich hoffnungslosen Kampf gegen das Wasser aufgenommen und beabsichtigte ihn durchzuführen, solange meine Kräfte eben reichten. Ich bin ganz sicher, daß ich während dieser Zeit keineswegs den Kopf verloren, sondern im Gegenteil geistig in besonders bewußter Weise tätig gewesen bin, denn es war mir vollkommen klar, daß in dem Augenblicke, wo ich mich einer Todesangst hingeben würde, auch meine Fähigkeit verschwinden müsse, mich über Wasser zu halten. So kann ich mit wissenschaftlicher Genauigkeit berichten, daß eine eigentliche Todesfurcht mich während dieser ganzen Zeit durchaus nicht beschäftigt hat. Ich empfand vielmehr meine Situation als den gewissermaßen gewohnten Zustand einer besonders schwierigen, fast unlösbar erscheinenden Aufgabe gegenüber, in bezug auf welche man gern und selbstverständlich die Gesamtheit seiner Kräfte aufwendet, um sie in befriedigender Weise zu lösen. Und als dann endlich mein Zustand bemerkt und mir die erforderliche Hilfe gebracht wurde, empfand ich dieses Befreitwerden aus der schwierigen Lage keineswegs als eine Sache, die mich mit überwältigender Freude und Entzücken erfüllte, sondern als das befriedigende Ende einer angestrengten Tätigkeit, welche daneben noch die Beschaffenheit hatte, daß ich ihren Inhalt den Meinigen, welche glücklicherweise nichts davon wußten, nach Möglichkeit fernzuhalten bemüht war. So gab ich denn meinem Retter eine Geldsumme mit dem Auftrag, gar nichts darüber zu sagen. Es waren glücklicherweise auch andere Menschen nicht zugegen gewesen. Die einzige ungewöhnliche Folge, welche ich von diesem Erlebnis persönlich zu verzeichnen hatte, war angenehm und interessant. Als ich hernach in gewohnter Weise mit dem Malkasten auszog, um nach der Natur zu skizzieren, brachte ich für meine Verhältnisse ungewöhnlich gute Bilder zustande. Die Emotion während jener Zeit konzentrierter geistiger wie körperlicher Tätigkeit hatte noch einen so starken »Schwingungszustand« in meinem Gehirn zurückgelassen, daß auch den andern alltäglichen Aufgaben gegenüber eine vorübergehend stark gesteigerte Leistungsfähigkeit entstanden war.
Zu dieser damals noch wenig geordneten Gruppe von persönlichen Einzelerfahrungen über die Frage vom Tode gesellte sich dann nun die wissenschaftliche Aufklärung, welche ich in dem ausgezeichneten Buche von Metschnikoff, Studien über die menschliche Natur fand. Dort war von diesem hervorragenden Physiologen gleichfalls das Altern als eine durchaus typische und normale Erscheinung geschildert worden und er hatte von den verschiedensten Seiten her diesen grundsätzlichen Gesichtspunkt beleuchtet, daß der Tod als eine so notwendige und unvermeidliche Erfahrung für jedes Lebewesen eben durchaus als ein natürlicher Vorgang aufgefaßt werden muß. Hier fand ich also mit wissenschaftlichen Gründen bestätigt, was meine eigne Lebenserfahrung mir schon an die Hand gegeben hatte: daß der Tod als Ende des Lebens eine ebenso normale Erscheinung ist, wie jede andere den Verlauf des Lebens untrennbar begleitende Tatsache.
Somit erkennen wir, daß unsere übliche Stellung dem Tode gegenüber von Grund aus verfehlt ist. Wie diese falsche Auffassung entstanden ist und wie sie beseitigt werden kann, ist eine Frage, die uns später einmal beschäftigen wird.