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Neunte Predigt.
Tolstoi.


Der unter besonders tragischen Umständen erfolgte Tod Leo Tolstois hat den tiefen Eindruck, den diese eigenartige Persönlichkeit auf die ganze Kulturwelt gemacht hatte, noch bedeutend verstärkt. Da dieses Leben und dieses Ende im engsten Zusammenhange mit unserer Grundfrage über das Verhältnis der Wissenschaft zum Leben ein eigenartiges und scharfes Licht wirft, so wollen wir unsere Grundgedanken über dieses Verhältnis in diesem besonderen Lichte noch einmal prüfen.

Tolstoi gehörte bekanntlich durch seine Geburt einer der höchststehenden Familien des russischen Reiches an und hatte das leidenschaftlich-wüste Genußleben der Jugend dieser Kreise allseitig kennen gelernt. Aus einer reichen persönlichen Erfahrung heraus und mit ungewöhnlichen dichterischen Gaben ausgestattet, erwarb er sich zunächst einen hohen Ruhm als einer der allerersten russischen Romanschriftsteller. Insbesondere durch die eigentümlich lebensvolle Darstellung der inneren Gefühlsvorgänge in ihren Wandlungen hat er die Dichtkunst um eine große Anzahl neuer Anschauungen bereichert. Denn in der Kunst verhält es sich ganz ähnlich wie in der Wissenschaft. Die schöpferischen Geister wissen den bisher erreichten Bestand an Gesetzen einerseits, an anschaulichen Typen, sei es von Personen, sei es von Erlebnissen innerer und äußerer Art andererseits, um neue Entdeckungen zu bereichern, die hernach stufenweise in den Allgemeinbesitz des betreffenden Gebietes übergehen. Ein solcher schöpferischer Dichter war Tolstoi in hohem Maße.

Infolge einer regelmäßigen und starken inneren Entwicklung wendete sich der Dichter immer energischer vom Hergebrachten und als »selbstverständlich« nicht weiter Geprüften ab und erschütterte seine Leser durch die Behandlung von Problemen, an die bisher noch niemand in solcher Weise zu rühren gewagt hatte. Derart machte seine »Kreutzersonate«, in der er gewisse Probleme des Ehelebens mit schonungsloser Schärfe beleuchtete, einen noch tieferen Eindruck, als seine früheren Schöpfungen, weil zu dem künstlerischen Interesse noch das menschlich-soziale trat.

Auf diesem Wege entwickelte er sich dann schnell und stetig weiter, und zwar haben hierbei die Eindrücke seiner Jugendjahre auf das stärkste mitgewirkt. Das gedankenlose und rücksichtslose Genußleben einer sozialen Schicht, welche niemals den Begriff der Güte, Arbeit, Pflicht kennen gelernt und noch weniger sich angeeignet hatte, erweckte in ihm eine genau entgegengesetzte Rückwirkung, derzufolge er alles, was irgendwie mit der Kultur dieser Schicht zusammenhing, als zum Verderben führend und somit verwerflich empfand. Aus dem Studium der Bibel, insbesondere des Neuen Testaments entnahm er den Grundgedanken, daß alles Irdische unrein und sündhaft sei mit Ausnahme der Erfüllung der allerprimitivsten Lebensbedürfnisse auf die allerprimitivste Weise, und daß der Mensch vor allen Dingen an das Heil seiner Seele zu denken habe, wobei ihn die mannigfaltigen Ansprüche des heutigen Kulturlebens nur stören können. Das Verhalten zu den Nebenmenschen soll durch die Anweisung geregelt sein, daß man den Nächsten wie sich selbst lieben müsse. Was aber insbesondere das viele Böse betrifft, das man überall in der Welt (in Rußland vielleicht merklich stärker und öfter, als anderswo) antreffen muß, so soll man nach der Anweisung handeln: »Gibt dir einer einen Streich auf die rechte Backe, so biete ihm auch die linke dar«. Man solle also alles Böse gewähren lassen und es durch Sanftmut zu entwaffnen suchen.

Tolstoi versuchte, sein eigenes Leben in solchem Sinne einzurichten. Er kleidete sich wie ein Bauer, machte Feldarbeit wie ein solcher, nährte sich nicht besser und reduzierte auch die Einrichtung seiner Wohnräume auf ein Minimum. Aber ganz vollständig sich auf den Standpunkt des Bauern zu versetzen, gelang ihm nicht. Er gab nicht, wie es Jesus vorgeschrieben hatte, all seine Habe den Armen, sondern ließ sich von seiner Familie überreden, den ererbten Grundbesitz seiner Frau oder seiner Familie als Eigentum zu überschreiben. Auch setzte er seine schriftstellerische Tätigkeit fort, wobei er allerdings das Hauptgewicht darauf legte, den »Armen im Geiste« solche geistige Speise zuzubereiten, die sie aufnehmen konnten. Als dann jene große revolutionäre Bewegung in Rußland ausbrach, die durch einen absoluten Mangel an führenden Persönlichkeiten schließlich doch der Beamtenschaft unterlag, nicht weil diese irgendwie hervorragend gut beschaffen war, sondern weil sie den einzigen tatsächlich organisierten Teil der russischen Bevölkerung bildet, wendete sich Tolstoi mit flammenden Worten gegen die ungeheuerlichen Grausamkeiten der Vertreter der »Ordnung«, unter welcher Unschuldige mehr und schrecklicher zu leiden hatten, als die Schuldigen. Er tat dies auf die Gefahr seines Lebens hin; doch war die Verehrung, die er überall genoß, bereits so groß und allgemein, daß die siegreiche Reaktion ihm kein Haar zu krümmen wagte. Der Heilige Synod, die oberste Kirchenbehörde, hatte ihn dagegen wegen seiner Bemühungen um die Herstellung des reinen Evangeliums von der Kirche ausgeschlossen.

Im Dezember 1910 wurde plötzlich die Welt durch die Nachricht überrascht, daß der achtzigjährige Greis zu harter Winterzeit in dürftiger Kleidung und mit den Geringsten Sitz und Raum auf der Eisenbahn teilend, seine Wohnung verlassen hatte, ohne den Seinen davon etwas zu sagen. Ein gleichgesinnter Freund begleitete den bereits Erkrankten. Auf einer kleinen Eisenbahnstation konnte er nicht weiter, weil ihn die Krankheit ganz darniedergeworfen hatte. Wenige Tage darauf ist er gestorben, ohne sich mit der Kirche und seiner Familie ausgesöhnt zu haben.

Unter den Zusammenfassungen und Wertungen seines Lebens, die alsbald nach seinem Tode überall veröffentlicht wurden, findet sich sehr oft die Bemerkung, daß in ihm eines der religiösen Genies dahingegangen sei, nach Art des Augustin, Franz, Kalvin, Luther usw. Bei nüchterner Prüfung erscheint ein solcher Vergleich nicht berechtigt, wenigstens soweit man bisher sehen kann, da erstens Tolstoi keineswegs neue religiöse Gedanken gefunden hat -- beschränkte sich doch seiner eigenen Auffassung gemäß sein Anteil auf eine möglichst reine und unverfälschte Erneuerung der christlichen Lehre -- und da er zweitens durch diese Auffassung keineswegs eine an Zahl oder Kraft erhebliche Gemeindebildung unter seinen Zeitgenossen bewirkt hat. Man darf allerdings nicht behaupten, daß nicht etwa in naher oder ferner Zukunft das vorhandene schwache Reis sich zu einem weltumschattenden Baum entwickeln könnte; denn große religiöse Bewegungen haben so selten stattgefunden und die letzten insbesondere liegen unseren Tagen schon so fern, daß uns ihre Eigenschaften überaus fremd sind und eine sichere wissenschaftliche Voraussagung nicht gestatten. Aber soviel läßt sich doch anführen, daß ähnliche Versuche zur Wiedergewinnung des »ursprünglichen reinen Christentums« sehr häufig in den verschiedensten Formen angestellt worden sind, ohne jemals zu einer weltumfassenden Bewegung geführt zu haben. Daraus läßt sich die Vermutung entnehmen, daß die menschheitswerbenden Gedanken des Christentums sich bereits bei der ersten Ausbreitung vor bald zweitausend Jahren im wesentlichen erschöpft haben.

Wohl aber kann sich niemand, der nur ein wenig vermag, sich in die Seele dieses großen Slaven hineinzuversetzen, dem tieftragischen Eindrucke entziehen, den dieses Ende eines reichen Lebens hervorrufen muß. Denn es handelt sich um eine eigentliche, große Tragik, ein Ende, wie es nicht anders sein konnte, da die Vorbedingungen es mit unabweisbarer Notwendigkeit hervorbringen mußten. Es handelt sich um einen mit dem eigenen Herzblut durchgeführten großen Versuch, ein in der Vergangenheit liegendes Ideal zu verwirklichen. Und das Scheitern dieses Versuches ist uns ein kostbares, weil mit so überaus schweren Opfern erkauftes Zeugnis für die Wahrheit der grundlegenden Erkenntnis der Entwicklungslehre, daß kein mögliches Menschenideal in der Vergangenheit liegen kann, sondern daß ein jedes mögliche und lebensfähige Ideal in der Zukunft liegen muß. An dieser Unmöglichkeit, die trotz ihrer Offenkundigkeit nur erst von so wenigen eingesehen wird, ist auch der grandiose Versuch Leo Tolstois zugrunde gegangen, und das Opfer, das er seinem Ideal gebracht hat, wird nicht vergeblich gebracht sein, wenn wir die Lehre daraus zu ziehen wissen.

Vergegenwärtigen wir uns nochmals Tolstois Ausgangspunkt. Von der Kultur hatte er zunächst nur die halbasiatische Seite kennen gelernt, wie sie sich in der russischen Hauptstadt entwickelt hat, wo ungeheurer geerbter oder gestohlener Reichtum rücksichtslos für Genüsse vergeudet wird, deren niedere Beschaffenheit dem Durchschnittsniveau der geistigen Bedürfnisse der Genießenden entspricht. Unmittelbar an Reichtum, Genußsucht, Gewaltsamkeit der oberen Klasse stößt dort die unmenschlichste Armut, Qual und Unterwürfigkeit der niederen. Das ganze Leben scheint durch die grausame Willkür solcher bestimmt, die auf irgendeine Weise die Macht in Händen haben und von einer inneren Gerechtigkeit im menschlichen Schicksal tritt den Angehörigen der goldnen Jugend nichts, auch gar nichts entgegen. Und wenn auch dieses Bild sich später um einige Züge wirklicher Kultur bereichert, so bleibt es doch als Unterlage für die allgemeine Lebensanschauung bestehen, zumal gerade Tolstoi durchaus auf dem russischen Standpunkt befangen bleibt, nach welchem alles Heil aus dem Osten kommen muß und der Westen nichts ist, als eine verfaulte Masse.

Und nun schlagen die Töne menschlicher Not und Schuld, menschlicher Kämpfe und Leiden an das intensiv mitschwingende Herz des Dichters, der bald erkennt, daß es nicht genug ist, wenn ihm »ein Gott gegeben hat, zu sagen, was er leidet«. Denn wird dadurch irgendwie das Leiden erleichtert, das Unglück abgewendet? Zumal da Leiden und Unglück viel weniger aus den Notwendigkeiten des menschlichen Lebens heraus zu entstehen scheinen, als aus Leichtsinn oder Bosheit der Mitmenschen, weiche ihre Umgebung in den abgründigen Strudel ihrer Taten ziehen. Es bleibt nichts anderes übrig, als diese größte und ausgiebigste Quelle des Leidens in der Welt, die menschliche Schlechtigkeit, zu verstopfen. Und da ihm diese Quelle nirgend so stark und unglückbringend zu fließen scheint, wie gerade in den sogenannten höheren Schichten der Gesellschaft, so bietet sich die Antwort auf die Frage: wie ist das Böse in die Welt gekommen? scheinbar von selbst an: durch die Kultur, denn wo die Kultur am höchsten ist, ist auch die menschliche Verworfenheit am bösartigsten.

Hier treten nun die religiös-mystischen Tendenzen ein, die bei den Slaven entsprechend ihrer viel tieferen Entwicklungsstufe (die Slaven haben nur einen sehr geringen Anteil an der Entwicklung der Wissenschaften genommen, wie sich aus der Statistik der Ernennungen der führenden wissenschaftlichen Akademien ergibt) noch in größter Kraft und Mannigfaltigkeit tätig sind. Finden doch in Rußland die verschiedenartigsten Sekten einen reich tragen den Boden für die Anhängerschaft. Die primitive Theologie der griechisch-katholischen Kirche läßt der gestaltenden Kraft des hochgebildeten Dichters allen Spielraum und die Frage: wo suche ich Anweisung zum Guten? ist in dem Augenblicke, wo sie gestellt wurde, auch beantwortet: in der heiligen Schrift. Genau so, wie Faust nach den aufwühlenden Erinnerungen des Osterspazierganges zur Bibel greift, um das heilige Original in sein geliebtes Deutsch zu übertragen, und alsbald am ersten Satz solange herumdeutet, bis er das, was ihn noch unbewußt bewegte, den Drang nach allgemeiner Betätigung über den engen Rahmen des Professors hinaus, gewaltsam genug in seinem Ersatz des: Im Anfange war das Wort durch: Im Anfang war die Tat zum Ausdruck bringt, genau so greift Tolstoi nach der Bibel und liest in sie seine Lebenserfahrungen hinein. In dem anspruchslosen Zustande des Wanderpredigers, der nicht nach morgen fragt: was werden wir essen, was werden wir trinken, wo werden wir übernachten? sondern heiter nimmt, was die Stunde unter einer milden Sonne bringt, entdeckt er ein Lebensideal, an das die menschlichen Schlechtigkeiten, durch welche der Mensch des Menschen schlimmster Feind geworden ist, anscheinend nirgend heranreichen. Und er vergißt ganz, daß nach der gleichen Geschichtserzählung auch in dieses harmlose Leben die anderen Menschen mit ihrer Herrschsucht und Grausamkeit hineingreifen, bis der Wanderprediger ans Kreuz geschlagen ist, weil er das »bewährte Alte« anzugreifen und auf seine Verbesserung zu dringen gewagt hat. Nicht eingedenk der Moral aus diesem Gesamtereignis erfüllt sich der Poet mit der Überzeugung, daß ein solches einfaches Leben das eigentliche Leben ist, wie es der Mensch auf Erden führen soll, und daß in allem, was ihn von solchem Leben entfernt, Sünde und Unglück steckt.

Tolstoi hat offenbar niemals tiefer über jenes Problem, wie die Sünde in die Welt gekommen ist, nachgedacht, als bis zu dem Punkte, den wir soeben bezeichnet haben. Von den Folgen der Kultur waren ihm nur die schlimmsten und häßlichsten zu Gesicht gekommen, wie sie dort auftreten, wo ihre äußeren Ergebnisse auf einen noch ganz unvorbereiteten Boden fallen und statt regelmäßiger Früchte eine wilde Wucherung hervorbringen. Peter der »Große«, dem zum Großen im Gebiete des Menschenführens gerade das Wichtigste fehlte, nämlich die Geduld, hatte sich nicht entschließen können, den Russen die fehlende Kultur organisch, von unten herauf, zuzuführen, da er alsdann nicht hätte hoffen dürfen, die Früchte solcher rationeller Arbeit noch selbst zu sehen. Sondern er wollte, wie die Kinder, die eine eben gepflanzte Erbse alsbald wieder ausgraben, um zu sehen, ob sie schon gekeimt hat, seine Untertanen binnen Jahr und Tag auf dem Standpunkte der Entwicklung sehen, den er bei seinen Reisen im Westen angetroffen und beneidet hatte. Dadurch ist jener schädliche Kulturfirnis entstanden, der unsäglich viel Unheil über das arme Rußland gebracht und seine wahre Kulturentwicklung um ein Jahrhundert verzögert hat. Das war das Bild, welches Tolstoi sich von der Kultur machen zu müssen glaubte, und da er diese Pseudokultur sich immer schlimmer übersteigern und immer giftigere Früchte bringen sah, so schien sein Schluß, daß alles Menschenwerk durchaus böse sei und nur die Rückkehr zur »Natur« das Heil bringen könne, zweifellos richtig zu sein. Es war dieselbe kurze Perspektive, aus welcher ein Jahrhundert früher Jean Jaques Rousseau den Bannstrahl seiner Schriften gleichfalls gegen die verdorbene Kultur seiner Zeit (von der er auch nur die unerfreuliche Außenseite kannte) geschleudert hatte. Die Geschichte schien ihm Recht zu geben, als die französische Revolution jene Kultur von Grund aus erschütterte; aber die weitere Geschichte hat doch gezeigt, daß die Menschheit nicht mehr rückwärts zur Harmlosigkeit gehen kann, sondern sich vorwärts durch alle Formen der Kultur bis zur Menschenliebe und Güte steigern muß.

Tolstoi hat das nicht gesehen und nicht sehen können, denn auch seine Umgebung zeigte diese Seite der Menschheitsentwicklung am allerwenigsten. So wirkte die uralte Paradiessage mit den Erfahrungen der eigenen Umwelt in gleichem Sinne und bewirkte in ihm den Eindruck, daß der Weg der Menschheit nicht aufwärts, sondern abwärts führt, und daß deshalb nur in einer radikalen Umkehr das Heil liegen könne. Und so richtete er seinen leidenschaftlich -- überzeugten Kampf gegen alles, was ihm ein Träger jener schlechten Menschenkultur zu sein schien, gegen Geld, Staat, Militarismus, Industrie. In diesen Gebilden sah er am allerschlimmsten die Bedrückungen ausgeprägt, durch welche die Menschen einander das Leben zur Hölle machen. Er hat hierbei die Hand auf manche schwärende Wunden unserer Kultur gelegt, die dort an den Grenzen ihrer Ausbreitung besonders häßliche und schreckliche Formen angenommen haben. Aber er ließ es hieran nicht genug sein. Um in sich selbst die vielleicht zuweilen heimlich aufsteigenden Zweifel zu bekämpfen, zwang er sich zu den äußersten theoretischen Konsequenzen seines Standpunktes und versuchte sich und seinen Gesinnungsgenossen zu beweisen, daß auch die als schön und groß anerkannten Ergebnisse der Kultur, daß Wissenschaft und Kunst nur übertünchte Gräber seien, in denen auch nur Unheil für die Seele lauert. So erklären sich seine Angriffe gegen diese Dinge, die vor einigen Jahren die Welt in Erstaunen setzten, zumal sie aus dem Munde eines Mannes kamen, der selbst als Dichter Großes geleistet hatte, wenn auch nichts in irgendeinem Gebiete der Wissenschaft.

Und nun ist der unlösbare Zwiespalt da. Er selbst entwickelt sich, den Naturgesetzen gemäß, innerhalb deren sich alles Sein bewegt, vorwärts und mochte sich doch rückwärts entwickeln. Statt alles von sich zu werfen und auch seinerseits als Wanderprediger dem Christusvorbilde zu folgen, muß er sich sagen, daß ihm dies durch die klimatischen Verhältnisse seines Landes unmöglich gemacht wird. Und seine weiche slavische Natur gibt auch soweit den andauernden Einflüssen der von ihm geliebten Familie nach, daß er überall die Reform seines eigenen Lebens gemäß dem erfaßten Ideal nur halb sein läßt. In einem Brief, den die Gräfin nach Tolstois Tode veröffentlicht hat und der schon etwa zehn Jahre vor dem tragischen Ende geschrieben war, kommt dieser Widerspruch erschütternd zum Ausdruck: das Heil seiner Seele verlangt von ihm, daß er alles von sich wirft und er kann doch den geliebten Kreis zu verlassen sich nicht entschließen; so drückt er wenigstens seine Absicht aus, es später einmal zu tun.

Und als endlich die Schatten des Todes nahen und in ihm die gebieterische Forderung erwacht, nun endlich Ernst mit seinem Glauben, seiner Überzeugung zu machen, rafft er die letzten Kräfte zusammen, um auszuführen, was er längst gern getan hätte, aber nie mit der ganzen Härte und Strenge gegen sich, die den wahren Reformator kennzeichnet, wirklich gewollt hat. Er zerreißt die letzten Fäden, die ihn an die so schwer verurteilte Kultur binden, der er sich doch bis dahin nicht hatte entziehen können, und sucht das Heil seiner Seele in eiliger Flucht. Es war zu spät. Nicht innere Sammlung mehr konnte er erreichen, sondern nur die Agonie des verlöschenden Lebens. Um sein Sterbelager wie um Faustens Grab kämpften noch immer die Geister, denen er angehört hatte und in deren Gewalt er bis zuletzt geblieben war. Nun ruht er in Frieden.

Uns aber ist dieses Menschenschicksal ein Maßstab, um uns daran zu messen. Nicht die Sage vom verlorenen Paradies, sondern das Ideal vom künftigen Garten der Menschheit ist uns Führer und darum dürfen wir uns zu dem Geschlechte zählen, das aus dem Dunkeln ins Helle strebt.


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