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Vierzehnte Predigt.
Liebet euch untereinander.


Mit Recht pflegt man an der Ethik des Neuen Testamentes die dort verordnete allgemeine Nächstenliebe als ihren Höhepunkt zu preisen. Wir wollen auch nicht die Frage erörtern, wieweit dort der Begriff des »Nächsten« geht; seine Auffassung ist durchaus von der jeweiligen Entwicklung des Weltverkehrs abhängig und der Begriff erstreckt sich daher im allgemeinen so weit, als man von Menschen weiß, die man als seinesgleichen anzuerkennen bereit ist. Wohl aber soll uns eine andere Frage beschäftigen: kann ein Gefühl wie die Liebe überhaupt den Gegenstand einer Vorschrift bilden? Ist nicht umgekehrt Liebe gerade das Ungebundenste und Persönlichste, das nur aus unserem Wesen frei entstehen, nicht aber durch äußere Vorschrift uns abverlangt werden kann?

Diesen Einwand müssen wir von vornherein als begründet anerkennen. Die monistische Ethik, wie sie sich aus unserem Bestreben ergibt, überall die Dinge im Lichte der Wirklichkeit und frei von jedem Mystizismus zu sehen, muß auch den Begriff des Gesetzes in ganz derselben Weise ändern, wie die Wissenschaft ihn geändert hat. In der Wissenschaft ist das Gesetz bekanntlich nicht eine Vorschrift, wie die Dinge sich verhalten sollen, sondern eine Nachricht, wie sie sich tatsächlich verhalten. Denn wir wissen ja nichts von einem Gesetzgeber, der solche Vorschriften erlassen hätte, wohl aber erkennen wir überall Regelmäßigkeiten im Geschehen, die wir benutzen können, um uns in der Wirklichkeit heimisch zu machen. Ebenso, wie ein ordentlicher Stadtplan uns Irrgänge und ergebnisloses Fragen erspart, erspart uns die Wissenschaft unzählige Mißgriffe, welche unsere Vorfahren nicht zu vermeiden wußten, denn sie ist imstande, uns zu sagen: wenn Du dies tust, so sind das die Folgen davon.

Also auch unsere Ethik, das heißt die Gesamtheit der Lehren, wie sich der Mensch zum Menschen verhalten soll, wird nicht den Charakter eines juristischen Gesetzes, sondern den eines Naturgesetzes haben. Sie wird uns nicht zwingen, dies zu tun und jenes zu lassen, weil eine übermächtige Gewalt ohne uns nach unseren Wünschen und Neigungen, unseren Fähigkeiten und Unzulänglichkeiten zu fragen, uns Fremdartiges und Widerwärtiges auferlegt hat, sondern sie wird uns mitteilen, wie wir uns zu verhalten haben, daß wir als Menschen neben Menschen ein friedliches, erfolgreiches, ein glückliches Leben führen können. Und wenn wir auf diesem Wege der Liebe begegnen, so wird sie uns nicht als Vorschrift entgegentreten, sondern als natürlicher Vorgang, als etwas, was uns gar nicht anders zu tun einfällt, sobald wir nur eingesehen haben, daß es wirklich nicht anders ist. Allerdings ist der Weg von einer Einsicht zu einem Gefühl nicht immer kurz. Da tritt dann eben die Erziehung ein, um ihn zurücklegen zu helfen, die Selbsterziehung bei den ethisch schöpferischen Menschen, die Gemeinschafts- und Kindererziehung bei den anderen.

Fragen wir uns zunächst, wo überall die Liebe bereits vorhanden ist, so daß wir ihr Dasein nur zu erkennen haben, ohne daß wir sie zu befehlen oder anzuerziehen brauchen. Da liegt vor allen Dingen die Selbstliebe vor, die jedem Lebewesen eigen ist. Sie ist die Grundlage, auf welcher die Existenz eines jeden Lebewesens beruht, denn ein Wesen, das kein Interesse an seinem eigenen Dasein nimmt, muß alsbald zugrunde gehen. Wo wir also etwas wie Gefühl bei einem Lebewesen erkennen, da erkennen wir auch zunächst die Selbstliebe, die Neigung, alles Gute und Wertvolle tunlichst sich selbst zuzuwenden.

Diese Selbstbetätigung wird auch der anspruchsvollste Ethiker nicht beanstanden, solange keine anderen Lebewesen in Frage kommen, solange also das Gebiet des individuellen Lebens von denen aller anderen Individuen getrennt bleibt. Unter dieser Voraussetzung gibt es aber auch keine Ethik im allgemeinsten Sinne. Denn wenn niemand da ist, gegen den man sich so oder anders verhalten kann, so besteht auch kein Anlaß, Regeln über ein solches Verhalten aufzustellen. Wir erkennen hier eine Bestätigung für die Begriffsbestimmung der Ethik, die wir oben festgestellt haben.

Sowie die Lebenskreise sich überschneiden, tritt alsbald bei den primitiven Lebewesen der Kampf ein. Sei es ein blutiger Kampf, der auf die unmittelbare Zerstörung des Konkurrenten gerichtet ist, sei es ein trockener, der darin besteht, daß man von den vorhandenen Lebensnotwendigkeiten soviel als irgend möglich (und daher mehr, als für das eigene Leben unbedingt erforderlich ist) für sich selbst in Anspruch nimmt und den Konkurrenten durch deren Entziehung möglichst weitgehend schädigt, so daß er entweder vernichtet oder vertrieben wird und sich an anderer Stelle ansiedelt. Einen solchen Kampf führt beispielsweise die Buche gegen die anderen Pflanzen, indem sie ihr Laub so vollkommen schließt, daß fast keine Sonnenstrahlen hindurch gelangen. Dadurch kann denn auch die Buche alle anderen Pflanzen von ihrem Boden verdrängen und dieser ist nur mit den trockenen Blättern vom vorigen Jahr bedeckt, die sie noch bis auf das letzte für ihre Zwecke ausnutzt.

Das ist der Kampf ums Dasein, dessen allgemeine Verbreitung in der Natur uns seit Darwins grundlegenden Betrachtungen bekannt und geläufig ist. In diesem Tatbestande können wir noch nicht das geringste ethische Moment erblicken. Er stellt im Gegenteil die eigentliche Quelle alles dessen dar, was wir an Bösem in' der Welt antreffen. Hier können wir auch ein wenig genauer die früher gestellte Frage beantworten, wie denn das Böse in die Welt gekommen sei. Es ist mit dem Leben hinein gekommen; allerdings nicht unmittelbar mit diesem, wenn wir annehmen, daß das Leben anfangs nur an einzelnen Stellen entstanden sei. Wohl aber ist das Böse dort zum ersten Male aufgetreten, wo sich der Lebensraum des einzelnen Wesens begann, mit dem Lebensraume seiner Nebenwesen zu überschneiden. Aber gleichzeitig mit dem Bösen begann das Gute zu entstehen.

Die Lebewesen mußten, um sich dauernd der Art nach zu erhalten, mit der Fähigkeit zur Fortpflanzung begabt sein. Wir haben noch keine bestimmten Möglichkeiten, uns die Ursachen und Umstände für die Entwicklung dieser wesentlichen Eigenschaft vorzustellen; wohl aber können wir einsehen, daß oh nie diese Fähigkeit die vorhandenen Lebewesen früher oder später zugrunde gehen müssen. Vielleicht sind ungezählte erste Ansätze zum dauernden Leben durch diesen Umstand wieder der Vernichtung anheimgefallen. Wir wissen es nicht. Wir wissen aber, daß das hier bestehende Problem auf eine seltsam widerspruchsvolle Weise gelöst worden ist. Nämlich derart, daß durch die eigene Tätigkeit des Lebewesens gerade das gebildet wird, was es als den nächsten Feind behandeln sollte, nämlich ein zweites, konkurrierendes Lebewesen, das auf den gleichen Lebensraum und die gleichen Lebensmittel Anspruch erhebt.

Rätselvoller Widerspruch! Um eine dauernde Existenz als Art fortzuführen, muß das Wesen gerade das tun, was ihm am sichersten den Daseinskampf schafft!

Und um dem Widerspruch die Krone aufzusetzen: gerade die Tätigkeit um die Fortführung der Art, um die Fortpflanzung, also um die Erzeugung des eigenen Konkurrenten findet sich mit Instinkt- und Gefühlsverbindungen ausgestattet, welche alle anderen Gefühle und Instinkte, ja sogar die primäre Sorge um die eigene Existenz bei weitem übertreffen. Pflege und Verteidigung der Brut nach leidenschaftlichen Kämpfen bei der Paarung unter Verzicht auf alle gewöhnlichen Verhaltungsweisen finden sich so häufig bei den höheren Tieren, daß sie durchaus als naturgemäß und notwendig angesehen werden müssen.

Hier ist endlich auch die Stelle, wo wir am ehesten geneigt sein werden, den Tieren etwas wie ein ethisches Empfinden zuzusprechen. Wenn eine Katze dem sonst gefürchteten Hofhunde siegreich entgegentritt, da sie ihre Jungen verteidigen muß, wenn das Rebhuhn sich flügellahm stellt, um den Jäger von seinen Jungen fortzulocken, wenn die Henne ganz und gar ihr gewohntes Leben aufgibt, um mit unermüdlicher Geduld die Eier auszubrüten, dann betrachten wir diese Handlungen mit Gefühlen, wie wir sie guten menschlichen Handlungen gegenüber empfinden. Tatsächlich werden wir uns alsbald überzeugen, daß an gleicher Stelle auch beim primitiven Menschen das beginnt, was man Ethik zu nennen berechtigt ist.

Die Rätsel, deren auffallende Beschaffenheit vorher betont worden ist, lösen sich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es sich bei der Fortpflanzung um Vorgänge handelt, bei denen der Begriff des Einzelwesens unbestimmt wird.

Wenn ein aus einer Zelle bestehender Elementarorganismus sich teilt, so redet man wohl von Mutter- und Tochterzelle, aber die Bezeichnung ist oft willkürlich, da die beiden neuen Zellen gleich groß sind und man von keiner sagen kann, welche die alte Zelle ist und welche die neue. Hätten solche Zellen Selbstbewußtsein, so würden sie in einem jeden Falle erst durch neue Erfahrungen lernen müssen, daß sie zwei statt einer geworden sind. Dieses Identitätsgefühl mit dem Kinde ist denn auch in einem sehr weiten Grade in der Mutter bei den höheren Tieren und dem Menschen vorhanden, bei denen sich der neue Organismus doch sehr wesentlich von dem alten unterscheidet. Solange Mutter und Kind ein Wesen mit einheitlichem Blutumlauf und Stoffwechsel bilden, erstreckt sich natürlich die Selbstliebe ohne jeden Zweifel auf den Gesamtorganismus. Wenn dann das neue Wesen eigene Atmung beginnt, ist es in seinem Stoffwechsel noch längere oder kürzere Zeit so eng mit dem Mutterorganismus verbunden, daß das Einheitsgefühl noch lange bestehen bleibt. So ist die erste und elementarste Liebe die der Mutter zum Kinde. Hierin liegt in keiner Weise ein Geheimnis oder etwas Übernatürliches; es gibt im Gegenteil nichts Natürlicheres, und man überdenkt mit tiefer Bewegung diese Lösung des Problems der Versöhnung zwischen zwei nebeneinander bestehenden Wesen gleicher Art, die unter allen anderen Umständen Feinde hätten sein müssen.

Daß diese Betrachtungen nicht willkürlich sind, sondern das Wesen der Sache berühren, erkennt man, wenn man die Verhältnisse bei Tieren weiter verfolgt. Die Katzenmutter, die ihre hilfsbedürftigen Jungen mit äußerster Selbstaufopferung verteidigt, wird zunehmend unfreundlicher gegen sie, je mehr sie heranwachsen und sich selbständig machen können, und schließlich muß man gelegentlich den Nachwuchs gegen allzu schlechte Behandlung seitens der Mutter schützen. In dem Maße also, als die jungen Wesen vom Organismus der Mutter unabhängig werden, in dem Maße verliert sich auch die Mutterliebe und das Bewußtsein der Sonderexistenz macht sich mit instinktiver Gewalt geltend. Dies tritt um so stärker ein, je mehr das betreffende Tiergeschlecht einsam zu leben gewohnt ist. Gesellig lebende Tiere finden ein besseres Auskommen, wenn sie beieinander bleiben, sei es der Verteidigung wegen, sei es aus anderen Gründen; dort bleibt auch das liebevolle Verhältnis zwischen Mutter und Jungen viel länger bestehen. Jedenfalls aber tritt jedesmal bei hinreichend vorgeschrittenem Alter die Verselbständigung und damit ein Wechsel der Gefühle oder Instinkte ein. Erkennen wir derartige Vorgänge sogar unzweifelhaft bei den Menschen!

Hier nun liegen die Quellen der Liebe offen vor uns. Mutterliebe oder je nach den Verhältnissen Elternliebe sind elementare Erscheinungen, die durch das vom Einzelwesen auf die Spezies übergegangene Erhaltungsbedürfnis bedingt sind. Aus gleicher Quelle stammt die Liebe zwischen den beiden Geschlechtern, die beim Menschen gleichzeitig die größte Stärke und die größte Unabhängigkeit von der bloßen physiologischen Bedingtheit angenommen hat. Hieraus entsteht dann die gegenseitige Zuneigung und Opferbereitschaft zwischen den Angehörigen einer ganzen, durch jene Verhältnisse gebildeten und zusammengehaltenen Familie.

Über die Familie hinaus aber entwickeln sich bei gesellig lebenden Menschen Beziehungen, die nicht minder auf Lebensnotwendigkeiten beruhen. Der Stamm, das Volk, das Reich, schließlich die Menschheit sind die immer weiter reichenden Kreise, welche das Leben des einzelnen gleichzeitig fördern und binden, welche es bereichern und dafür beanspruchen. Folgen wir diesen Entwicklungen Schritt für Schritt nach, so werden wir auch Schritt für Schritt die Ethik entstehen sehen.

Hier tritt allerdings noch ein anderer fundamentaler Faktor ein, den wir soeben von ganz anderer Seite kennen gelernt haben, nämlich der energetische Imperativ. Wir müssen uns nämlich fragen, aus welchem Grunde die gesellig lebenden Tiere und insbesondere die Menschen beieinander bleiben, auch wenn die Gruppe über die unmittelbar zusammenhängenden Teilnehmer: Mutter, Vater, Kind sich ausgedehnt hat. Die Antwort ist, daß dadurch Vorteile für das Leben erlangt werden. Was aber sind Vorteile im allgemeinsten Sinne? Wir können uns alsbald überzeugen, daß sie sich überall als Ersparnis von Energie (oder Erwerbung neuer Energie) erweisen. Sei es, daß die Gruppe zu gemeinsamer Jagd oder gemeinsamer Verteidigung, zu gemeinsamer Viehzucht oder zwecks Arbeitsteilung zusammenbleibt: immer handelt es sich darum, aus den verfügbaren Energien ein besseres Güteverhältnis herauszubekommen und dadurch das Leben besser zu gestalten.

Sowie nun die Gruppe sich gebildet hat, muß das Verhalten des einzelnen sich den Bedürfnissen der Gesamtheit anpassen. Solche Persönlichkeiten, die der Gruppe in hervorragendem Maße nützlich sind, werden besonders gewertet und ihr Verhalten erscheint als Muster und Vorbild für die anderen. Solche Angehörige dagegen, deren Einzelinstinkte sich noch nicht genügend den Gruppenbedürfnissen angepaßt haben, werden schlechter behandelt, bestraft, wohl gar ausgeschlossen. Dazwischen erscheint auch oft ein einzelner, der starke Einzelinstinkte mit großer Kraft und Rücksichtslosigkeit verbindet. Ein solcher wird unter Umständen es soweit bringen, daß er die anderen Angehörigen der Gruppe sich selbst hörig macht und sie zwingt, vorwiegend in seinem persönlichen Interesse tätig zu sein. Hier haben wir also die mannigfaltigen Elemente für das verschiedenartige gegenseitige Verhalten der Menschen und aus diesen Elementen entwickeln sich die entsprechenden moralischen Beziehungen.

Die Moral wird durchaus verschieden ausfallen, je nach dem Standpunkte, von dem aus sie gebildet worden ist. Ist es der Gruppe gelungen, ohne einen Gewaltherrscher sich soweit zu entwickeln und ihre Sitten festzulegen, daß ein stabiler Zustand erreicht wird, so werden die Sitten durchaus in solchem Sinne ausgebildet sein, daß die Betätigung im Interesse der Gemeinschaft als gut und eine entgegengesetzte Betätigung als schlecht gilt. Doch mag man begründete Zweifel hegen, ob eine solche friedlich-rationelle Entwicklung die Regel gewesen ist, ja ob sie sich überhaupt je vollzogen hat. Viel wahrscheinlicher und allgemeiner ist wohl die andere Form gewesen, daß ein Herrscher den größten Teil des Gruppenertrages für sich beansprucht hat. Die dauernde Festhaltung eines solchen Zustandes bedingt dann die Entwicklung einer Moral, in welcher der Gehorsam gegen den Herrscher als erste Pflicht erscheint und Widerstand gegen dessen Willen als das strafwürdigste Unrecht. Die allgemeinen Verhältnisse sind dieselben, ob es sich um einen persönlichen Gewaltherrscher oder eine herrschende Priesterschaft handelt, welche Gehorsam gegen einen unsichtbaren Herrscher oder Gott predigt, oder wohl auch eine Kombination von beiden. In solchem Falle entsteht neben der auf den Herrscher bezüglichen Moral noch eine andere, welche das gegenseitige Verhältnis der Beherrschten regelt. Beide gestalten sich notwendig und unwiderstehlich gemäß den Regeln des energetischen Imperativs, nur daß in einem Falle die Bestimmungen dieses Imperativs auf die Interessen des Herrschers, im anderen auf die der Gesamtheit angewendet werden. Dies sind die Verhältnisse, unter denen sich die Moral des Christentums ausgebildet hatte. Im Gotte des Alten Testaments erkennt man noch überall die Züge des despotischen Wüstenscheichs, der stets und überall mit seinem Zorne droht und mit blutiger Rache schnell bei der Hand ist. Die Moral des Neuen Testaments hat ihre wesentlichen Züge aus der Moral der Bedrückten, die dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und gegenüber dem freudlosen Dasein auf dieser Erde sich auf ein in kürzester Frist erhofftes erhöhtes Dasein im Jenseits vorbereiten, indem sie untereinander die Liebe betätigen, die den Ewigkeitsgenossen ziemt. Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst, ist die Summe dieser Moral. Gott soll über alles geliebt werden, weil von ihm das ewige selige Leben abhängt, und den Nächsten zu lieben, wie sich selbst, fällt nicht schwer, da ja die irdischen Dinge, um welche sonst Streit und Feindschaft entstehen, dies alles ja nicht wert sind, weil sie gegenüber der bald beginnenden Ewigkeit überhaupt keine Bedeutung haben.

Die Grundlagen dieser Moral sind dann durch den Umstand ganz und gar erschüttert worden, daß inzwischen das so bald erwartete Reich Gottes noch immer nicht eingetreten ist. Durch die Notwendigkeit, wieder allmählich die Forderungen dieser Welt zu berücksichtigen, hat eine seltsam widerspruchsvolle Umbiegung der christlichen Moral stattgefunden, deren Ergebnis sich mehr und mehr, namentlich in unseren Tagen, als unhaltbar erweist. Aber die Gegenwart läßt sich ihr ungeheures Recht nicht rauben, und so hat sich unter ihrem Zwange eine neue Moral ausgebildet, die praktisch als Ideal in unserem Verhalten besteht, wenn sie auch noch keine allgemein anerkannte schriftliche Festlegung gefunden hat. Diese Moral oder Ethik der Gegenwart enthält natürlich den lebendig gebliebenen Teil der christlichen, geht aber in vielen Stücken, den ganz geänderten Bedingungen des gegenwärtigen Gemeinschaftsleben gemäß, über sie hinaus.

Und die Liebe?

Die Liebe ist das Instinkt gewordene moralische Bedürfnis. Wir haben bereits mehrfach erkannt, wie sich die Lebensnotwendigkeiten zum Lebensglück wandeln. Haben wir die sozialen Lebensnotwendigkeiten so vollkommen in uns aufgenommen, daß wir sie instinktmäßig ausüben, so haben sie eben dadurch den Charakter der Liebe erworben. Und so nimmt die alte neutestamentische Festlegung der ethischen Grundgesetze heute die neue Gestalt des ethischen Ideals an:

Liebe Deinen Nächsten gemäß seinem sozialen Werte.
Liebe Dein Volk und die Menschheit mehr als Dich selbst
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