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Fünfte Predigt.
Was ist Wahrheit?


Alle Religionen behaupten, daß nur der Inhalt ihrer Schriften und Lehren Wahrheit sei und daß insbesondere alles menschliche oder weltliche Wissen auf diese Bezeichnung nicht Anspruch erheben könne, da es jedenfalls Stückwerk sei. Nun widersprechen sich andererseits die verschiedenen Religionen, von denen eine jede für sich den Besitz der absoluten Wahrheit behauptet, in vielen und wichtigen Punkten; sogar die verschiedenen christlichen Konfessionen werden durch derartige Widersprüche getrennt und ihre Anhänger haben sich wegen dieser oft in recht unchristlicher Weise gegenseitig verfolgt und geschädigt. Leider hat das zwanzigste Jahrhundert sich auch noch nicht frei von solchen Unbrüderlichkeiten erwiesen. Daraus geht jedenfalls hervor, daß die Ansprüche der verschiedenen Religionen auf den Besitz der absoluten Wahrheit sich gegenseitig aufheben und unwirksam machen. So müssen wir uns doch wieder zum menschlichen Wissen wenden, und fragen, ob es zur Wahrheit, oder wenigstens in deren Nähe führen kann.

Hier nun beobachten wir gerade das entgegengesetzte Schauspiel. Während die religiösen Vorstellungen, die den Anspruch auf Wahrheit erheben, im Laufe der Zeit mehr und mehr auseinander zu gehen, pflegen -- man denke beispielsweise daran, daß aus dem ursprünglich einheitlichen Christentum drei große Gruppen entstanden sind, die griechisch-katholische, die römisch-katholische und die protestantische, und daß auch innerhalb dieser Gruppen weiterhin Spaltungen vorhanden sind -- so treten umgekehrt die Sätze und Gedanken, welche die Wissenschaft als wahr annimmt, im Laufe der Zeit immer näher zusammen. Während beispielsweise noch vor einigen Jahrzehnten über die wissenschaftliche Frage, ob die Arten der Tiere und Pflanzen absolut konstant oder ob sie umbildungsfähig seien, entgegengesetzte Meinungen bei sehr angesehenen Naturforschern bestanden, ist gegenwärtig die zweite Ansicht ganz allgemein angenommen. Und dies ist nicht geschehen, indem durch irgendwelchen Zwang, der mit der eigenen Ansicht der Betreffenden nichts zu tun hatte, diese Übereinstimmung durchgesetzt worden wäre, sondern indem sich die früher Widersprechenden mittels der Methoden der Wissenschaft davon überzeugt haben, daß die Veränderlichkeit der Arten tatsächlich vorhanden ist, daß es also zu gar nichts führt, widersprechen zu wollen. Der Widerspruch würde ja keine Wahrheit, sondern einen Irrtum ausdrücken.

Ebenso ließen sich noch zahlreiche weitere Fälle anführen, in denen sich eine bestimmte Wahrheit die allgemeine Anerkennung errungen hat. Besonders anschaulich sind solche Fälle dort, wo die Kirche, insbesondere die katholische, ursprünglich solche Behauptungen als falsch erklärt und ihre Annahme mit allen Mitteln bis zur Tötung der Andersdenkenden durchzusetzen sich bemüht hat. Es besteht bekanntlich in Rom eine besondere Organisation, durch welche solche mit der Kirchenlehre in Widerspruch stehende Sätze genau gekennzeichnet und unter Eintragung in den »Index der verbotenen Bücher« als falsch erklärt werden. Eine ganze Reihe solcher Sätze, wie z. B. die Bewegung der Erde um die Sonne, ist inzwischen von der Wissenschaft als zweifellos richtig anerkannt worden, und niemals ist ein solcher Satz von der Wissenschaft deshalb aufgegeben worden, weil die Kirche ihm widersprach. Die Wissenschaft hat vielmehr von jeher durchaus selbständig und aus eigenem Recht entschieden, und es ist immer die Kirche gewesen, die sich, zuweilen erst nach sehr langer Zeit, der Entscheidung der Wissenschaft gefügt hat.

Einen solchen Vorgang erkennen wir überall im Leben der Religionen. So sehr sich ihre Priester bemühen, den Inhalt des Glaubens unveränderlich zu erhalten, so unwiderstehlich muß dieser sich gemäß den Änderungen im Denken der Religionsangehörigen gleichfalls ändern. Auch der orthodoxeste Priester wagt heute nicht mehr, beispielsweise das Kopernikanische System zu leugnen, weil er sonst Gefahr laufen würde, selbst von den überzeugten Anhängern seines Glaubens nicht mehr ernst genommen zu werden. Und vielleicht auch, weil ein heutiger Mensch selbst bei recht mäßiger allgemeiner Bildung sich der Kraft der astronomischen Gründe für die Wahrheit dieser Auffassung nicht entziehen kann. Es liegt in der Natur des Einflusses der Wissenschaft auf die Lebensanschauung, daß die Religionen um so mehr von ihren alten Vorstellungen aufgeben müssen, je reichlicher diejenigen Menschen, auf die sie zu wirken bestimmt ist, vom Geiste der Wissenschaft durchdrungen sind. So ist also das Gesamtbild, das uns die Kulturgeschichte der Menschheit zeigt, eine stets in gleicher Richtung stattfindende Ersetzung der Religion durch die Wissenschaft, wenn es sich um die Erforschung der Wahrheit handelt.

Wir verstehen auch leicht, daß es nicht anders sein kann. Als die Menschheit die ersten Versuche zur gedanklichen Bewältigung des Chaos machte, sammelte sich die Gesamtheit derartiger Gedanken, die Anfangsformen von dem, was wir Wissenschaft, Religion, Poesie, Technik nennen, zunächst in ein einziges Gefäß. Die ältesten Träger der Kultur waren gleichzeitig Priester, Ärzte, Regenten, Richter usw. usw. Das konnte so sein, weil die Gesamtsumme der geistigen Güter nicht eben groß war und im Kopfe eines einzelnen sehr gut Platz fand. Dieses primitive Wissen wurde von den damit Versehenen als ein überaus wertvoller Schatz gehütet, denn er gewährte seinem Inhaber eine sehr weitgehende Überlegenheit über seine Mitmenschen. An eine systematische Vermehrung solcher Kenntnisse konnte noch nicht gedacht werden; wohl aber fanden durch besonders Begabte gelegentliche zufällige neue Erkenntnisse Verständnis und wurden dem allgemeinen Schatze zugefügt. Noch jetzt können wir bei primitiven Völkern derartige Persönlichkeiten, welche die gesamte Summe ihres Wissens verkörpern, in verschiedenen Gestalten antreffen.

Von diesem gemeinsamen Mutterstamm der erkannten Wahrheit zweigten sich nun allmählich einzelne Funktionen ab. Zuerst wohl die Regierung und Verwaltung, dann die Heilkunst und die Technik. Dies mußte in dem Maße geschehen, als die Verhältnisse und Kenntnisse mannigfaltiger und schwieriger wurden und sich daher der Bewältigung durch den einzelnen entzogen. Mit dem Vorrecht des Zuerstgekommenen blieb diejenige Gruppe des Wissens ausgestattet, von der die anderen sich einzeln abgezweigt hatten. Diese war immer bei der Priesterschaft geblieben, welche jene Geheimnisse verwaltete, die niemals durch weltliche Fertigkeiten und Kenntnisse erlangt werden konnten, sondern deren Erwerbung auf Tradition, auf unmittelbarer Übertragung durch den Eingeweihten beruhte, wie das noch heutigentages durch die katholische Priesterweihe symbolisiert wird.

Dadurch mußte gleichzeitig der Inhalt der religiösen Anschauungen sich immer mehr und mehr von dem Inhalte der anderen, positiven Wissensgebiete entfernen. Denn während diese sich einer unaufhörlichen Prüfung und Verbesserung durch den Umstand ausgesetzt sehen, daß man dieses Wissen beständig praktisch anwendet, und daher früher oder später auf falsche und unbrauchbare Ansichten aufmerksam gemacht wird, die dann aufgegeben oder verbessert werden können; während also die profanen Wissenschaften einer zunehmenden Vervollkommnung unterliegen, waren die religiösen Anschauungen grundsätzlich von solchen Beeinflussungen ausgeschlossen. Hier war eine jede Abänderung ein Frevel, da der Wert der Ansichten gerade in ihrem Alter und in ihrer Unveränderlichkeit gesehen wurde.

Da nun notwendigerweise jene im ersten Jugendalter der Menschheit gebildeten Vorstellungen außerordentlich unvollkommen sind, so muß mit naturgesetzlicher Notwendigkeit der Widerspruch zwischen Wissenschaft und Religion auftreten. War die Wissenschaft ursprünglich das Kind jener undifferenzierten Gesamtheit des Wissens (oder Glaubens) gewesen, und hatte sie sich noch durch lange Jahrhunderte der Mutter Religion gehorsam und dienstbar erwiesen, so mußte sich doch im Laufe der Zeit notwendig das Verhältnis ändern, denn die Wissenschaft nimmt an der Entwicklung des Menschengeschlechtes teil, ja ist der eigentlichste und reinste Ausdruck dieser Entwicklung, während die Religion im Gegenteil möglichst unverändert zu bleiben sucht und daher sich selbst zum Unterliegen verurteilt. Durch den früher geschilderten Irrtum, nach welchem das goldene Zeitalter in die Vergangenheit verlegt wurde, kamen die Priester zunächst überhaupt nicht auf den Gedanken, daß dieses Beharren auf dem Alten ein Selbstmord dessen sei, was sie vertraten, sondern sie betonten und unterstrichen gerade das, was ihre Stellung auf die Dauer unhaltbar machen mußte. Wenn dann einmal der notwendige Kontrast zwischen dem von den Priestern Festgehaltenen und dem Neuen, was das Leben inzwischen gebracht hat, besonders groß geworden ist, so entstehen Erscheinungen, welche »Reformation« genannt werden. So hat das Judentum seine Reformation durch Jesus (oder durch eine Gruppe von Reformatoren, die mit diesem Namen zusammengefaßt werden) gehabt, und das Christentum hat sie seinerseits durch Luther und Kalvin erfahren. Daß im Protestantismus keine ähnliche Reformation sich inzwischen wiederholt hat, liegt nur daran, daß der Einfluß der Wissenschaft seit der letzten Reformation auch innerhalb der Kirche so groß geworden ist, daß sie den Fortschritt auch ihrerseits als praktischen Grundsatz aufgenommen hat. So bewegt sich der Protestantismus, allerdings mit veränderlichem Abstande, in derselben Linie fort, welche die führende Wissenschaft geht. Zum Zeugnis dessen ist der erste Vorstand des Monistenbundes ein protestantischer Pastor gewesen, allerdings einer der fortgeschrittensten. Jedenfalls ist gegenwärtig innerhalb des ganzen Protestantismus die Wissenschaft als oberste Instanz anerkannt. Die Kirche versucht hier längst nicht mehr, zu bestimmen, was in der Wissenschaft Geltung haben, also wahr sein soll, sondern sie bemüht sich umgekehrt, ihre Lehren mit den gesicherten Ergebnissen der Wissenschaft im Einklange zu halten, oder wenigstens nachzuweisen, daß sie mit diesen nicht im Widerspruch stehen. Es gibt keine Tatsache, welche überzeugender den grundsätzlichen Wechsel der Geltung und Bedeutung zwischen Wissenschaft und Religion kennzeichnete.

So haben wir erkannt, warum der Anspruch der Religionen, die absolute Wahrheit zu besitzen, nach keiner Richtung haltbar ist, und praktisch auch von den Religionen selbst mehr oder weniger deutlich aufgegeben ist. Wenn gegenwärtig seitens des Papstes die rücksichtslosesten Anstrengungen gemacht werden, den katholischen Klerus dem Einflusse der Wissenschaft zu entziehen, selbst wenn diese in solcher Verdünnung gereicht wird, wie sie in der Tagespresse zur Geltung kommt, so ist dieses scheinbar so unzeitgemäße Verhalten durchaus ein Produkt der klaren Erkenntnis des unversöhnlichen Gegensatzes zwischen Offenbarungsreligion und Wissenschaft. Es gibt gar keinen anderen Austrag dieses Gegensatzes, als die Überwindung der einen durch die andere. Daß die schließliche Siegerin jedenfalls die Wissenschaft sein muß und wird, ist das unverkennbare Ergebnis der ganzen bisherigen Kulturgeschichte. So können wir die Anstrengungen der gegenwärtigen Römischen Kirche nur als die Zuckungen eines zum Tode getroffenen Organismus betrachten, wenn auch bei der Langlebigkeit, die diesen Gebilden eigen ist, die letzte Stunde noch in weiter Ferne liegen mag. Auch der aufrichtige Hinweis des königlichen Priesters Prinz Max, daß die katholische Kirche gegenüber den riesigen Verlusten, die sie im Westen von Europa erleidet, sich durch Erwerbungen im Osten schadlos halten müsse, daß mit anderen Worten die in niedriger Kultur lebenden Völker des Ostens das Gebiet darstellen, in welchem die Kirche noch zu herrschen hoffen darf, enthält eine ganz klare Anerkennung des Widerspruchs zwischen Kirche und Kultur.

Worauf beruht denn nun diese unwiderstehliche Gewalt der Wissenschaft, durch welche sie mit beständig wachsendem Erfolge der Kirche die Menschen streitig macht, die unter dem kirchlichen Einflusse gerade während der eindrucksfähigsten Zeit, nämlich während der Kinderjahre gestanden haben, bei denen also der kirchliche Einfluß psychologisch so fest verankert worden ist, als dies nur irgendwie geschehen kann? Sie beruht darauf, daß die Wissenschaft tatsächlich im Besitze der Wahrheit ist.

Zwar nicht aller Wahrheit und noch weniger der absoluten Wahrheit. Das letzte Wort ist kein Begriff, denn eine jede Wahrheit ist notwendig eine Wahrheit fürirgendeinen und daher eine relative Wahrheit. Aber alle Wahrheit, die in unserer Welt existiert, ist im Besitze der Wissenschaft, und dieser Bestand an Wahrheit hat die besondere Eigenschaft, daß er niemals mehr geringer werden, sondern durch alles und jedes, was in der Wissenschaft erreicht wird, immer nur zunehmen kann. Denn selbst wenn ein bisher von der Wissenschaft ohne Einschränkung angenommener Satz als unvollständig erkannt wird und eine Bedingtheit oder Einschränkung erforderlich macht, so wird ja der wahre Anteil des Satzes (und einen wahren Anteil enthalten solche Sätze immer, wie später bewiesen werden soll) nur noch wahrer, indem er vor falschen Anwendungen geschützt wird, und es wird außerdem der vorhandenen noch eine neue Wahrheit zugefügt.

Was ist Wahrheit?

Es gibt nicht wenig Menschen, auch wissenschaftlich gebildete, die sich auf den skeptischen Standpunkt des Pilatus stellen, und die Frage für unbeantwortbar halten. Da wir gesehen haben, daß der Optimimus für den Anhänger der Wissenschaft nicht nur eine persönliche Stimmung, sondern ein wissenschaftliches und ethisches Erfordernis ist, so haben wir Anlaß, auch über diese Frage optimistisch zu denken. Tatsächlich wissen wir nicht nur allgemein, was Wahrheit ist, sondern wir sind auch im Besitze einer großen Anzahl wirklicher Wahrheiten, wenn wir auch nicht selten, wie der Besitzer eines allzu großen Landgebietes, nicht genau erkennen können, wo die Grenze der gegenwärtig bekannten Wahrheiten liegt. Das aber wissen wir ganz bestimmt, daß diese Grenze immer weiter hinausgeschoben und daß unser Wahrheitsbesitz immer reicher und vollkommener wird.

Also was ist Wahrheit?

Das, was uns die Zukunft vorauszusagen gestattet.

Wenn ich sage: Vorgestern bin ich auf meinem einsamen Morgenspaziergange gestolpert und gefallen, so gibt es, wenn mich niemand gesehen oder photographiert hat, im Himmel und auf Erden kein Mittel, die Wahrheit oder Unwahrheit dieser Mitteilung festzustellen. Meine Erzählung muß also für alle Ewigkeit in jenem ungewissen Zwischenzustande bleiben, wo es keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit gibt. Sage ich aber: Übermorgen reise ich nach Jena, so haben beliebig viele Menschen die Möglichkeit, die Wahrheit dieser Behauptung zu prüfen, indem sie mein Verhalten übermorgen beobachten. Was diese alltäglichen Beispiele lehren, ist allgemein. Wahrheit im strengen Sinne gibt es immer nur für die Zukunft, weil nur die Zukunft zuverlässig kontrolliert werden kann. Auch für Geschehnisse der Vergangenheit haben wir ja mancherlei Zeugnisse und Überbleibsel, aber der Schluß aus ihnen auf die Wahrheit des Gewesenen ist immer nur ein Wahrscheinlichkeitsschluß, der zwischen Wahrheit und Falschheit schwebt, wenn auch zuweilen sehr nahe an der Wahrheit. Der Skeptizismus des Pilatus ist also soweit begründet, als es sich um Vergangenes handelt; die Wahrheit einer in die Zukunft reichenden Behauptung aber kann im allgemeinen eindeutig festgestellt werden.

Und es bedarf ja nur eines Augenblickes des Nachdenkens, um uns klar zu machen, daß wir an der Vergangenheit als solcher überhaupt kein Interesse haben, denn sie ist für alle Zeit unveränderlich und unserem Einflusse im Guten wie Bösen entzogen. Was wir beeinflussen können, ist einzig die Zukunft,und daher nennen wir das Wahrheit, was uns eine sichere Beeinflussung der Zukunft ermöglicht. Allerdings gibt es zahlreiche Fälle, wo wir über die Vergangenheit eine Wahrheit wissen wollen, handele es sich etwa um eine rechtsverbindliche Abmachung oder um geologische Verhältnisse eines Distriktes. Aber alle diese Wahrheiten haben für uns nur insofern ein Interesse, als die vergangenen Tatsachen irgendeinen bestimmenden Einfluß für künftige haben oder haben können. Ob am dritten Februar 1325 an dem Orte, wo jetzt mein Haus steht, Schnee gelegen hat oder nicht, ist mir völlig gleichgültig, da kein Faden irgendwelcher Art von jener Tatsache in meine Gegenwart oder Zukunft leitet. Und wenn ich es erfahren könnte, würde ich keinen Finger um solche Kenntnis rühren, denn es hängt für mich nichts davon ab. Wenn ich dagegen die Eigenschaften aller meiner Voreltern bis ins dritte oder vierte Glied erfahren könnte, so würde ich mir Mühe darum geben, weil ich daraus Hinweise auf mein geistiges und moralisches Erbgut entnehmen und mir damit meine Selbsterziehung erleichtern könnte, mit der ich leider trotz meiner bald achtundfünfzig Jahre noch immer nicht fertig bin. Selbsterziehung aber bedeutet Regelung meines Verhaltens in der Zukunft.

Alle Wissenschaft, die diesen Namen verdient, kommt nun in irgendeiner Weise auf die Erkenntnis der Zukunft hinaus. Die ungeheure Bedeutung eines solchen Vorwissens, eben der »Wissenschaft«, von dem ja ein jeder Schritt, ein jeder Atemzug unseres Lebens abhängt, ist bereits in den ältesten Zeiten der menschlichen Kulturentwicklung klar geworden. Daher haben die damaligen Gesamtkulturträger, die Priester, vor allen Dingen die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, als die Kunst in Anspruch genommen, über die sie im Gegensatz zu den Profanen verfügten. Und insofern sie im Besitze einer wenn auch noch so primitiven Wissenschaft waren, haben sie diese Fähigkeit auch besessen. Man hat sich so sehr daran gewöhnt, den Begriff des Prophezeiens mit Mystik, Aberglauben und Betrug zu verbinden, daß man gar nicht gewahr zu werden pflegt, daß alle unsere Mitmenschen, welche die Wissenschaft zu irgendeinem Zweck benutzen -- und das sind schließlich alle Kulturmenschen, allenfalls mit Ausnahme unmündiger Kinder und Geisteskranker -- in dem Maße zu prophezeien vermögen, als sie der Wissenschaft teilhaftig sind. Wenn das Dienstmädchen am Morgen früh den Ofen heizt, so vollzieht sie eine ganze Menge Operationen, die an sich durchaus keine Wärme geben, in der Voraussicht, daß hernach das Ergebnis aller ihrer Handlungen (Kohletragen, Aufschichten, Anzünden) ein warmes Zimmer sein wird. Und wenn, wie wir eben lesen, ein neuer Ozeandampfer für 40 Millionen Mark gebaut werden soll, so riskieren die Unternehmer ohne Zögern diesen großen Betrag auf die Prophezeiung ihrer Ingenieure, daß, wenn dies und jenes ausgeführt wird, schließlich der gewünschte Dampfer mit seinen ganz genau vorausbestimmten Eigenschaften entstehen wird.

Hier verfügen wir also über eine große Menge von Wahrheiten, ja über eine so große Menge, daß schon längst kein einzelner Mensch auch nur ein Hundertstel von all den Wahrheiten wissen kann, welche die Menschheit insgesamt besitzt. Wieaber solche Wahrheit zustande kommt und welche Grenzen sie hat, darüber müssen wir ein andermal eine eingehende Untersuchung anstellen.


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