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Zwischen der unaufhörlichen Umwandlung der Gedanken und Begriffe und der verhältnismäßig großen Beständigkeit, ja Unveränderlichkeit der Sprache besteht ein großer und dauernder Gegensatz, welcher sehr üble Folgen für den ersten und wesentlichen Anteilnehmer dieses Kompagniegeschäftes, nämlich den Gedanken, hat. Dieser ist wegen der Schwierigkeit und zuweilen Unmöglichkeit, die neuen gedanklichen Bildungen alsbald durch neue Wörter zu bezeichnen, beständig genötigt, sich mit alten zu begnügen, so daß er im Kleide der Sprache als jemand erscheinen muß, dem seine Kleider nicht auf den Leib zugeschnitten sind, sondern der die abgelegten Kleider früherer Besitzer (nämlich der älteren Gedanken, die durch die betreffenden Wörter ausgedrückt waren) tragen muß. So ist ein jeder Forscher und Denker in beständigem Kampfe gegen die Schwierigkeiten begriffen, die ihm seitens der Sprache in den Weg gelegt werden, und er kann von den Ergebnissen seines Denkens nur einen Teil der anderen Menschheit zugänglich machen. Daraus entsteht die Notwendigkeit, gewisse Hauptgedanken immer wieder in den verschiedensten Einkleidungen und Beleuchtungen auszusprechen und vorzuführen, damit endlich auf solche Weise eine einigermaßen richtige Auffassung zustande kommt.
So hat sich denn auch der Begriff der Wissenschaft in den letzten Jahrhunderten (und am allermeisten im allerletzten Jahrhundert) ungemein stark geändert, während das Wort immer noch dasselbe geblieben ist. Da natürlich das, was früher als Wissenschaft angesehen und benannt wurde, seinen alten Anspruch auf diesen Namen nicht aufgeben mag, der neue Gedanke aber andererseits auf seinen Anspruch, das zu sein, was jene alte Wissenschaft gar nicht oder nur sehr unvollkommen war, nicht verzichten kann, so benutzen beide Gebiete, so verschieden sie auch sind, doch gemeinsam den landläufigen Namen, wobei es natürlich nicht ausbleiben kann, daß sich Besitzstreitigkeiten geltend machen, die durch eine bestimmte Abgrenzung des Gedankens tunlichst zu beseitigen sind.
Der Name Wissenschaft bezieht sich seiner früheren Bedeutung gemäß auf das, was man weiß, wobei unter Wissen eine Kenntnis des Gewesenen und des Gegenwärtigen verstanden wird. In seiner neuen Bedeutung soll Wissenschaft dagegen solches Wissen genannt werden, das aus der Kenntnis der Vergangenheit und der Gegenwart die Vorhersagung der Zukunft ermöglicht. Erst dieses letzte Kennzeichen macht ein Wissen zu einer Wissenschaft, und alles Wissen ist nicht wert, Wissenschaft genannt zu werden, wenn es diese Anwendbarkeit auf die Zukunft nicht hat.
Es soll sofort betont werden, daß es sich hierbei nicht um eine unmittelbare, heute oder morgen vorzunehmende Anwendung zu handeln braucht. Wir treiben vielmehr mancherlei Wissenschaft, deren Anwendung erst in sehr weiter Ferne erkennbar ist. Aber die Möglichkeit des Prophezeiens muß dem Wissen anhaften und im Hinblick auf diese Möglichkeit muß es gesammelt oder erworben werden, wenn es Wissenschaft genannt werden soll. Denn da alles Leben und Denken irgendeiner Zeit, etwa der Gegenwart, sicherlich nicht ausreicht, um ein vollständiges Wissen auch nur über eine beschränkte vergangene Zeit bezüglich aller Dinge ohne Ausnahme, die damals bestanden haben, zu erwerben und zu erhalten, so sind wir ohne jede Frage dazu genötigt, eine bestimmte Auswahl des Wissenswürdigen aus dem Wissensmöglichen zu treffen. Welches Kennzeichen hätten wir nun, nach dem eine solche Auswahl zu treffen wäre? Ich finde überall kein anderes, als daß uns dies Wissen irgendwie soll interessieren können, und da im letzten Grunde nur unsere Zukunft uns interessieren kann, da wir nur auf sie einen Einfluß auszuüben vermögen, so ergibt sich jener allgemeine Wertmaßstab des Wissens aus seiner Anwendbarkeit auf die Zukunft.
Ein solches Wissen um die Zukunft ist ein jedes, welches zu der Erkenntnis von allgemeinen Naturgesetzen oder Gesetzen des Geschehens führt. Denn nur das, was sich gesetzmäßig, d. h. in bestimmter, wiederholt beobachteter und daher im Zusammenhange vorausbekannter Folge vollzieht, kann vorausgesehen werden. So haben wir in der unendlichen Mannigfaltigkeit aller Geschehnisse, die beständig um uns ablaufen, nur den Teil zu vernünftiger Lebensgestaltung frei, den wir als gesetzmäßig erkannt haben und dessen künftigen Ablauf wir daher in kleinerem oder größerem Umfange mitbestimmen können. Also führt uns unsere erste Bestimmung des Begriffes Wissenschaft, wonach sie ein Wissen um die Zukunft ist, zu der zweiten, gleichwertigen, daß sie ein Wissen um Gesetze ist.
Nun haben wir allerdings wieder einmal mit einem vieldeutigen und daher bedenklichen Wort zu kämpfen, nämlich dem Worte Gesetz. Ursprünglich war seine Anwendung auf Befehle beschränkt, die von solchen Stellen ausgingen, die Gewalt über andere hatten; was von diesen befohlen wurde, war »Gesetz«, unabhängig davon, durch welche Mittel jene Gewalt erworben war und erhalten wurde. Gegenwärtig, wo wir in einem Rechtsstaate leben (der freilich auch nur ein idealer Grenzbegriff ist, dessen Verwirklichung noch vielerlei zu wünschen übrig läßt), werden solche Gesetze durch das Zusammenwirken der Volksvertretung und der Regierung aufgestellt und ihre Durchführung wird durch die staatliche Gewalt erzwungen, soweit die Staatsbürger sie nicht freiwillig befolgen. Mit diesem Gesetzesbegriff ist also einerseits die Vorstellung von Gewalt, andererseits aber doch die Möglichkeit des Zuwiderhandelns verbunden.
Die Gesetze der Wissenschaft haben einen ganz anderen Charakter. Zunächst gibt es gegen sie keine Möglichkeit eines Zuwiderhandelns. Wie man sich auch stellen mag: ein jeder Körper wird durch eine Kraft gegen die Erde getrieben, die seiner Masse proportional ist und auch der verwegenste Wille hilft nichts gegen dieses Gesetz. Andererseits werden die wissenschaftlichen Gesetze nicht gegeben, sondern gefunden oder entdeckt. Es besteht also bezüglich ihres Inhaltes durchaus keine Möglichkeit, daß sie so oder auch anders sein könnten: ein Naturgesetz ist so und nicht anders. Allerdings kommt es oft genug vor, daß wir den Inhalt eines wissenschaftlichen Gesetzes nur unvollkommen kennen und bei genauerer Untersuchung seine bisher angenommene Form ändern müssen. Das liegt aber nicht am Gesetze, sondern an uns, denn wir zweifeln nicht, daß das Gesetz in seiner Weise in den Erscheinungen bestanden hat, auch als wir es nur in der unvollkommenen Gestalt kannten. Und ebenso wenig zweifeln wir, daß es noch zahllose wissenschaftliche Gesetze gibt, denen gemäß wir handeln (weil wir gar nicht anders können), ohne daß wir doch etwas von ihnen wissen.
Also: während ein Gesetz im alten Sinne etwas willkürlich anbefiehlt, was auch anders sein könnte, und manchmal auch anders ist oder wird, gibt ein Gesetz im neuen Sinne oder ein wissenschaftliches Gesetz uns Auskunft, in welchem Rahmen die Dinge verlaufen werden, ohne daß wir auch nur daran denken können, daß sie auch außerhalb desselben verlaufen würden. Im alten Sinne gibt es daher gute und schlechte Gesetze, und die Betroffenen werden sich bemühen, etwa vorhandene schlechte Gesetze irgendwie abzuändern. In der Wissenschaft gibt es nur Gesetze, welche gut oder schlecht bekannt sind, und im zweiten Falle wird man sich bemühen, sie genauer kennen zu lernen, ohne jemals auf ihre sachliche Abänderung zu verfallen, weil eine solche ausgeschlossen ist.
Kann man ein Gesetz im alten Sinne etwa mit einem vorgeschriebenen Wege in einem Garten vergleichen, den jeder Benutzer einhalten muß und dessen Verlassen bestraft wird (wenn man des Sünders habhaft wird), so kann man die wissenschaftlichen Gesetze mit Wegweisern oder vielleicht noch besser mit Landkarten vergleichen, welche Auskunft darüber geben, wohin man gelangen wird, wenn man diese oder jene Richtung einhält. Während die Wege im ersten Falle auch ganz anders sein könnten und es von dem, der die Gewalt hat, abhängt, ob das Einhalten der Wege verlangt wird oder nicht, kann eine Landkarte immer nur das darstellen, was wirklich vorhanden ist, und von der Vollkommenheit und Genauigkeit der Darstellung hängt es ab, wie schnell und leicht der Wanderer seinen Weg nach dem gewünschten Ziele findet. Mit einem Worte: das Gesetz im alten Sinne ist ein Hindernis, das Gesetz im neuen eine Hilfe.
Noch ein wichtiger Punkt muß bei den wissenschaftlichen Gesetzen hervorgehoben werden. Ein jedes Geschehnis ist seiner Natur nach unbegrenzt verwickelt. Die Unzulänglichkeit unserer Sinnesapparate und die Unvollständigkeit unserer Aufmerksamkeit bewirkt, daß uns jedesmal nur ein begrenzter Anteil dieses unendlich mannigfaltigen Gesamtgeschehnisses zum Bewußtsein kommt. Noch viel beschränkter als unsere Aufnahmefähigkeit ist aber die bisherige wissenschaftliche Zerlegung der Geschehnisse und die Bestimmung der zahllosen einzelnen Gesetze, welche für die verschiedenen Seiten des Ereignisses wesentlich sind. Wenn wir auch annehmen oder vielmehr hoffen, daß alle diese Einzelheiten gesetzmäßig erfassbar sind, so kennen wir von diesen vorausgesetzten Gesetzen nur einen winzigen Bruchteil, und alles übrige erscheint uns unter dem Schleier des Unbestimmten. Demgemäß können wir ja auch immer nur Bruchteile und bestimmte Seiten der Geschehnisse voraussagen, und alles übrige hat für uns die Beschaffenheit, als ob es willkürlich geschähe. Wir nennen diesen den uns bekannten Gesetzen nicht unterworfenen Teil der Vorgänge den zufälligen Anteil.
Solche zufällige oder noch nicht gesetzmäßig erkannte Anteile sind überall vorhanden und daher ist auch unsere Fähigkeit, die Zukunft willensgemäß zu gestalten, so beschränkt. Aus diesem Grunde ist der Streit über die Willensfreiheit oder Gebundenheit gegenwärtig gegenstandlos. Auch wenn wir annehmen, daß ein jedes Ereignis bis in seine allerletzten Eigentümlichkeiten gesetzmäßig (im wissenschaftlichen Sinne) bestimmt ist, so ändert dies doch nichts an der Tatsache, daß für unsere Kenntnis der allergrößte Teil davon unbekannt ist und daher unbestimmt erscheint. Ferner verläuft bei den von uns beeinflußten Geschehnissen ein Teil der Ursachenkette durch unser Bewußtsein und dieses nimmt daher, wie uns die tägliche Erfahrung lehrt, einen entsprechenden Anteil an der willensgemäßen Gestaltung der Zukunft. Diese Tatbestände bilden den sachlichen Inhalt dessen, was man die Lehre von der Willensfreiheit nennt. Wie man sieht, stehen die Tatsachen nirgend im Widerspruch mit der Annahme, daß ein immer größerer und größerer Anteil der Geschehnisse als naturgesetzlich geregelt erkannt wird und daß auch unser Wille naturgesetzlich geregelt ist. Der Widerspruch gegen diesen wissenschaftlichen Determinismus beruht hauptsächlich auf dem Irrtum, daß der Begriff des Naturgesetzes in dem Sinne gefaßt wird, wie das Wort für staatliche oder juristische Gesetze gebraucht wird. Solche bestehen allerdings nicht bezüglich weder der äußeren Geschehnisse, noch bezüglich unserer inneren Welt.
Diese Betrachtungen haben unwillkürlich darauf geführt, daß der Begriff des wissenschaftlichen Gesetzes mit dem des Naturgesetzes sachlich zusammengefallen ist. Hieraus würde sich die für manche erschreckende Folgerung ergeben, daß alle Wissenschaft überhaupt Naturwissenschaft ist.
Auch hier kommen wir in Schwierigkeiten wegen der mehrfachen Begriffe, die durch ein und dasselbe Wort Natur bezeichnet werden. Verstehen wir sachgemäß unter Natur die Gesamtheit aller Geschehnisse, so kann es selbstverständlich keine anderen Gesetze geben, als Naturgesetze, denn alles, was je einen Inhalt unseres Wissens bilden kann, auch unsere geheimsten Gedanken, gehören schließlich in diesem Sinne zur Natur. Und insofern in allen diesen Geschehnissen Anteile vorhanden sind, die sich ähnlich oder teilweise übereinstimmend wiederholen, so haben die Naturgesetze ihren normalen Anteil an allen diesen Geschehnissen. Auch wissen wir ja, daß beispielsweise unsere Gedanken, Sinnesempfindungen und Gefühle sehr bestimmten Naturgesetzen unterliegen, welche von der modernen experimentellen und beobachtenden Psychologie mit großem Eifer erforscht werden. Nicht weniger ist uns bekannt, daß auch die wirtschaftlichen und politischen Ereignisse mehr oder weniger bestimmt von solchen, die mit ihnen genau vertraut sind, vorausgesehen werden können (wenn sie auch nicht immer, z. B. von Finanzleuten voraus gesagt werden), so daß sie jedenfalls auch ihre gesetzmäßigen Anteile haben, welche solche Voraussichten ermöglichen. Hatte doch beispielsweise der geniale Mathematiker Gauß, der zunächst die Bewegungen der Börsenkurse als Gegenstand wissenschaftlichen Nachdenkens studiert hatte, nach einiger Zeit den gesetzmäßigen Anteil darin so klar erkannt, daß er sein Privatvermögen durch die praktische Anwendung der gefundenen Gesetze sehr beträchtlich vermehren konnte.
Man erkennt an diesen Beispielen, denen man noch zahllose aus verwandten Gebieten, wie Sprachwissenschaft, Mythologie usw. anreihen könnte, daß wirklich alle Gebiete bis zu den höchsten geistigen Betätigungen hinauf der wissenschaftlichen Analyse und Gesetzesbildung unterliegen. Es ist also eine willkürliche Einteilung, wenn man etwa die Naturwissenschaften den Geisteswissenschaften oder den Kulturwissenschaften oder endlich den Willenswissenschaften entgegensetzen will, als wären ihre Methoden von Grund aus verschieden. Die einzige Verschiedenheit beruht in der Vollkommenheit und Genauigkeit, mit welcher die besonderen Gesetze des Gebietes erkannt worden sind. Hier liegt es in der Natur der Sache, daß die verhältnismäßig einfachen Seiten der Geschehnisse, mit denen sich die Mathematik, die Physik, die Chemie beschäftigt, früher und genauer nach ihrer Gesetzlichkeit erkannt werden konnten, als dies in den sehr viel verwickelteren Gebieten des Lebens und des Geistes bisher möglich gewesen ist. Hieraus ist niemand ein Vorwurf zu machen, am wenigsten den kühnen Forschern, die sich ungeachtet der viel größeren Schwierigkeiten nicht gescheut haben, ihre Arbeit an diese mühseligeren Probleme zu setzen, statt vom alten wohlbearbeiteten Felde bequeme Ernten einzufahren. Noch weniger liegt ein Grund vor, die Wissenschaften von der Natur der Lebewesen, von der Natur der Menschen, von der Natur der Völker und schließlich von den natürlichen Vorgängen zwischen ihnen nicht auch Naturwissenschaften nennen zu wollen. Denn eine Wissenschaft vom Übernatürlichen oder Unnatürlichen kann es nirgend geben, weil dieses nur in unserer Einbildung, oder genauer gesprochen überhaupt nicht besteht. Es handelt sich nur um formal gebildete Worte, denen Begriffe nicht entsprechen.
Wohl aber gibt es noch große Gebiete des Wissens, die auf den Ehrennamen der Wissenschaft im heutigen Sinne keinen oder nur einen sehr beschränkten Anspruch haben. Es ist dies der Teil des Wissens, den ich Papierwissen nenne, weil er zum allergrößten Teile in einer Kenntnis dessen besteht, was sich zufällig in gedrucktem oder geschriebenem Zustande aus älterer Zeit erhalten hat. Vermöge jenes Fehlers der Greisenperspektive, dessen Einfluß auf unsere praktischen Lebensanschauungen wir bereits an einer Anzahl von Beispielen kennen gelernt haben, besteht die Vorstellung, daß solche zufällige Reste der Vergangenheit, die sich bis auf unsere Tage erhalten haben, allein aus diesem Grunde wertvoll seien, weil sie alt sind. So gibt es noch gegenwärtig sehr große Wissensgebiete, für welche der Gesichtspunkt der möglichen Voraussagung künftiger Geschehnisse überhaupt noch nie einen Gegenstand wissenschaftlichen Nachdenkens gebildet hat, die vielmehr ihre gesamten Interessen in einer möglichst genauen Feststellung dessen, »wie es eigentlich gewesen ist«, erschöpfen.
Verfolgen wir diese Erscheinung rückwärts, so führt sie uns auf Zustände zurück, die viele Jahrhunderte hinter uns liegen. Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches, das bereits seinerseits die Kultur eines politisch unterworfenen Volkes, nämlich der Griechen mangels eigener Kultur auf vielen Gebieten übernommen hatte, wiederholte sich ein ähnlicher Aufnahmevorgang gegenüber den römischen Kulturüberresten durch die aufstrebenden neuen Völker aus dem Norden und Osten. Hier galt demgemäß ein jeder Rest der älteren Kultur als an sich wertvoll und diese zunächst einigermaßen richtige Ansicht wurde alsbald durch den nicht richtigen Greisenfehler der unbedingten Verehrung des Alten sehr verstärkt. Daher ist es gekommen, daß wir selbst in unserer Zeit, deren kulturelle Überlegenheit über alle Vergangenheit keinem objektiv Urteilenden zweifelhaft sein kann, noch so große Überreste jener falschen Wertschätzung des Alten um des Altertums willen vorfinden. Daß eine solche Denkweise dem allgemeinwissenschaftlichen, d. h. naturwissenschaftlichen Maßstab für die wahre Wissenschaft durchaus nicht genügen kann und daß die Vertreter jener alten Auffassung die neue als tödlich für die eigene leidenschaftlich bekämpfen, ist durchaus zu erwarten. Nicht weniger aber ist zu erwarten, daß die Vertreter des Alten in absehbarer Zeit werden aussterben müssen, ebenso wie zahllose Geschlechter von Lebewesen ausgestorben sind, nachdem sich die Existenzbedingungen, auf die sie angewiesen waren, soweit geändert hatten, daß ihnen eine Anpassung nicht mehr möglich war.
Als ich einmal durch die Bibliothek der alten Fürstenschule zu Schulpforta ging, wo sich ungeheure Mengen philologischer Litteratur aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert befinden, in welche heute niemand mehr einen Blick wirft, hatte ich den Eindruck einer Bank von Muschelkalk oder einer anderen geologischen Schicht, in welcher die Schalen einstiger Lebewesen eine nunmehr alles Lebens bare Masse bilden. Ich will nicht sagen, daß aus diesem Material nicht auch einmal wirkliche Wissenschaft gemacht werden könnte, ebenso wie man aus Muschelkalk moderne Gebäude herstellen kann, wenn man es z. B. für eine Erkenntnis der Gesetze menschlicher Irrtümer verwendet. Aber das einstige Leben des Wissens, das noch keine Wissenschaft war, ist aus diesen Bänden verschwunden. Und ebenso wird es mit den mancherlei Dingen gehen, welche ebenso als Zeugnisse einer vergangenen Epoche noch gegenwärtig ein Scheinleben führen, indem sie das bilden, was wir als »Papierwissenschaft« seiner natürlichen regressiven Entwicklung überlassen können.