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Dritte Predig.
Alt und jung.


In der vorigen Besprechung haben wir gesehen, in welchem Maße die ganze Auffassung der Welt und unserer Stellung darin dadurch verfälscht worden ist, daß die ersten dauernden Festlegungen dessen, was man als die Anfänge der Naturphilosophie bezeichnen kann, nach dem natürlichen Lauf der Dinge durch alte Leute erfolgt ist. Die persönliche Perspektive, in der sie unvermeidlich die Welt ansehen mußten, verfälschte in ähnlicher Weise die sachgemäße Auffassung der vorhandenen Zusammenhänge, wie die sachgemäße Auffassung des Verhältnisses zwischen Sonne und Erde durch die »natürliche« Auffassung der anschaulichen Erscheinungen verfälscht worden ist.

Damit sind aber die Fehler des Greisenstandpunktes noch nicht erschöpft. Heute werden wir uns über einen zweiten derartigen Fehler klar werden, der nicht minder weitreichende und schädliche Folgen gehabt hat. Hatte jener durch die Hervorrufung eines grundsätzlichen Pessimismus unabsehbares Mißgefühl und Unglück über die Menschheit gebracht, so hat dieser die gesamten Werturteile, die unser praktisches und gefühlsmäßiges Verhalten den Dingen und Personen gegenüber bestimmen, in nicht geringerem Maße verkehrt. Auch hier handelt es sich um eine Kopernikanische Tat, durch welche wir unsere geistige Sehrichtung vollständig in ihr Gegenteil umwenden müssen.

Es soll die Rede sein von der Wertschätzung des Alten und des Neuen.

Wir werden grundsätzlich in einer unbedingten Verehrung des Alten erzogen. Zwar bewirkt hernach das praktische Leben einerseits und auf allgemeinem Gebiete die Naturwissenschaft und Technik andererseits, daß wir das Alte zwar theoretisch verehren, tatsächlich es aber als geringerwertig beiseite lassen und uns durchaus bemühen, die neuesten Gedanken, Erfahrungen, Maschinen und Methoden überall dort anzuwenden, wo es sich um reale Dinge handelt, d. h. um Dinge, von denen unser Wohlergehen unmittelbar abhängt. Aber diese Wirkung der praktischen Vernunft erstreckt sich nicht sehr weit über ihr unmittelbarstes Anwendungsgebiet hinaus. Schon im Rechtsleben, in der Verwaltung und der Staatsregierung macht sich der Anspruch geltend, das Alte deshalb zu verehren, weil es alt ist, und es aus diesem Grunde auch in seinem Bestande unangetastet zu erhalten. Es gibt große politische Parteien, die sich die Erhaltung des Alten, das sie gerne das »bewährte Alte« nennen, zur Hauptaufgabe machen. Und wenn man ihnen die Betrachtung vorlegt, zu der wir alsbald übergehen wollen, so erhält man die Antwort: Wir sind keineswegs abgeneigt, auch Neues einzuführen, wenn es gut ist; nur wollen wir es nicht aufs Geratewohl einführen, sondern erst, nachdem es sich bewährt hat. Das heißt: man will nicht ins Wasser gehen, bevor man schwimmen kann.

Diese Verehrung des Alten hängt auf das engste mit jener allgemeinen Tendenz zusammen, in der Vergangenheit die wertvollere und schönere Zeit zu sehen, den wir bereits als allgemeinen optischen Greisenfehler erkannt haben. Hierzu kommt noch verstärkend eine andere, naheliegende und an sich gerechtfertigte Denkweise, die nur in ihrer Anwendung durch einen grundsätzlichen Fehler entstellt und in ihr Gegenteil verkehrt wird. Wir sind gewohnt, unsere Eltern zu verehren. Erstens schulden wir ihnen im allgemeinen einen mehr oder weniger großen Dank; außerdem aber sind sie während einer geraumen Zeit unseres Lebens, nämlich von der ersten Kindheit ab bis in die erwachsenen Jahre hinein, besser, klüger, erfahrener, mit einem Worte vollere und wertvollere Menschen, als wir selbst. So ist ein Gefühl der Wertschätzung, das sich oft bis zur Verehrung, d. h. bis zu einem freiwilligen Verzicht auf alle und jede Kritik steigert, durchaus natürlich. Soweit ist alles in bester Ordnung.

Nun aber beginnt der Denkfehler. Weil die Eltern um zwanzig, dreißig und mehr Jahre früher in die Welt gekommen sind, als wir, so verbinden wir den Gedanken ihres höheren Wertes unwillkürlich mit dem Bewußtsein, daß sie bereits auf der Welt gewesen waren, als von unserer eigenen Existenz noch gar nicht die Rede war. Andere ältere Leute, etwa die Freunde der Eltern, die wir als Kinder kennen lernten, haben auf uns einen ähnlichen Eindruck gemacht, und so wird ebenso unwillkürlich wie zunächst richtig der Schluß gezogen, daß die Menschen um so weiser sind, je älter sie sind. Existiert vielleicht noch ein Großvater oder sonst ein sehr alter Verwandter, den wir seitens unserer Eltern verehrt sehen, so wird dieser Eindruck noch mehr gesteigert. Schließlich entsteht das unbewußte Urteil, daß überhaupt ein Mensch um so weiser, reifer und wertvoller ist, je weiter sein Geburtsjahr zurückliegt. Ob er inzwischen gestorben ist oder nicht, hängt, wie wir wissen, innerhalb einer gewissen Zeitspanne von Zufälligkeiten ab; wir lassen es also außer Betracht. Und damit ist denn der Boden für den populären Irrtum vorbereitet, daß auch die Dinge, welche die Menschen getan oder gesagt haben, um so wertvoller seien, je weiter die Jahreszahl zurückliegt, in welcher sie zu Tage getreten sind.

Durch die bereits betrachteten Ansichten in allen Religionen, denen gemäß die goldene Zeit in die fernste Vergangenheit verlegt wird, tritt eine natürliche Verstärkung dieser Auffassung ein. Demgemäß ist es von jeher und überall eine große Sorge jeder Priesterschaft gewesen, das Alter ihrer heiligen Überlieferungen und Bücher so weit zurückzulegen, als sich irgend tun läßt. Ebenso haben die Fürsten und Könige auf ein möglichst großes nachweisbares Alter ihrer Geschlechter immer einen außerordentlichen Wert gelegt, obwohl vernünftigerweise ein jeder von uns mit vollem Recht behaupten darf, daß sein Geschlecht mindestens ebenso alt ist, wie das des ältesten Fürstenhauses. Denn für jeden Menschen geht notwendig seine persönliche Ahnenreihe bis in die unerkennbaren allerersten Anfänge des Menschengeschlechtes zurück und der einzige denkbare Unterschied liegt darin, daß möglicherweise die verschiedenen Menschenrassen zu verschiedenen Zeiten sich von den noch ausgeprägt tierischen Vorfahren losgelöst hatten, falls man nämlich die Gründe, welche für eine gesonderte Entstehung der Menschenrassen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten sprechen, für wahrscheinlicher hält, als die Gründe für das Gegenteil.

Halten wir nun diesen Vorstellungen, deren Verzweigungen wir überall bis in die verstecktesten Winkel des alltäglichen, des politischen, ja sogar des wissenschaftlichen Denkens hinein verfolgen können, die Tatsache der aufsteigenden Entwicklung der Menschheit entgegen, so erkennen wir, wie grob, wie kindisch, kurzsichtig die Täuschung gewesen ist, die uns zu solcher bedingungslosen Wertschätzung des Alten geführt hat. Wir erkennen, daß die Ehrfurcht vor dem Alter sich sachgemäß auf unsere Eltern und Großeltern zu beschränken hat, wobei allenfalls aus Rücksicht für diese deren Freunde anzuschließen sind. Daß aber irgendein Mensch von uns deshalb Ehrfurcht verlangen könne, weil er erheblich älter ist, als wir, ist eine ganz und gar unbegründete Forderung, der wir tatsächlich auch praktisch nicht nachkommen. Nur der Umstand, daß sehr häufig ältere Leute aus gleicher Umgebung wie wir auf der wirtschaftlichen oder sozialen Stufenleiter mehr oder weniger erheblich höher gestiegen sind, als wir uns zurzeit befinden, bringt eine scheinbare Wirkung jener Forderung mit sich. Aber wo dieser Faktor ausscheidet, wird tatsächlich auch keine Rücksicht auf das Alter genommen. Erst wenn dieses so weit vorgeschritten ist, daß eine ausgeprägte Hilfsbedürftigkeit eingetreten ist, beginnt die natürliche menschliche Teilnahme sich geltend zu machen, und man wird die ethische Kultur eines jeden Menschen, sei es Mann oder Frau, an der freundlichen Rücksicht und Hilfsbereitschaft abschätzen können, die er dem schwachen Alter gegenüber zur Geltung bringt.

Soviel ist über alte lebende Menschen zu sagen. Dem gegenüber, was von den früher Geborenen nach ihrem Tode zurückgeblieben ist, also etwa ihre Gedanken, Bücher, Einrichtungen, Ehrfurcht zu üben, etwa weil wir den betreffenden Menschen Ehrfurcht bezeugen würden, wenn sie jetzt noch lebten, ist eine gedankenlose Übertragung jener Gefühle, die ganz und gar nur der Persönlichkeit galten, auf leblose Objekte. Diese Dinge wird man genauso hoch einzuschätzen haben, als sie gegenwärtig wert sind. Ja, legt man Wert auf eine ganz richtige Wirksamkeit solcher überbleibenden Leistungen, so wird man sie eher niedriger, als höher zu bewerten haben. Denn jener Denkfehler, von dem eben die Rede war, wird noch heute von der Mehrzahl der Menschen begangen, und man muß daher stets mit einer ganz bedeutenden Überschätzung des Alten rechnen, die noch überall vorhanden ist.

Dies sind alles so einfache und unmittelbare Überlegungen, daß sich wirklich nichts Verständiges dagegen sagen läßt; wenigstens ist es mir bisher nicht gelungen, haltbare Widersprüche dagegen kennen zu lernen. Nun vergleiche man aber die gewohnten persönlichen Empfindungen mit diesen Forderungen des einfachen, unbeeinflußten Verstandes! Ich fühle es förmlich dem Leser dieser Zeilen nach, wie sich immer wieder seine Gefühle gegen die »Entheiligung«, »Verächtlichmachung« oder doch mindestens gegen die »poesielose, dürre Nüchternheit« aufgebäumt haben, als der »kalte Verstand« es wagte, in den mystisch-poetischen Dämmer solcher Gefühle hineinzuleuchten. Ja, es wird nicht wenige Menschen geben, welche erklären, daß denen kein Gutes, sondern ein Böses zugefügt wird, die man derart ihrer Illusionen, wenn es überhaupt Illusionen sind, beraubt. Man wird sagen: selbst wenn solche Verehrung des Alten unbegründet ist, so ist es doch ein Unrecht, den Menschen, die sie empfinden, die Poesie zu nehmen, die mit solchen Empfindungen verbunden ist.

Wir können die große Frage nach dem Verhältnis der Poesie, im allgemeinen der Kunst zum praktischen wie theoretischen verstandesmäßigen Denken hier nicht zu behandeln unternehmen, denn diese Dinge verlangen eine besondere, eingehende Betrachtung. So sei hier nur gesagt, daß man sich ja alle poetischen Gefühle vorbehalten kann, daß man aber vor allen Dingen als bewußter Monist, d. h. als bewußter Gegner aller Mystik eine moralische Pflicht empfindet, mit der Fackel der Verstandes überall hineinzuleuchten, wohin ihr Licht nur reichen mag. Hernach, nachdem man seinem intellektuellen Gewissen genügt hat, kann man ja immer wieder der Poesie soviel Herrschaft einräumen, als man für wünschenswert hält, ebenso wie man beim Besuch eines Theaters oder beim Betrachten einer Statue bewußt auf die Forderungen des Verstandes in weitem Umfange verzichtet, um sich ganz den hervorgerufenen Gefühlen hinzugeben. Aber da solche Dinge, von denen oben die Rede war, ihren Einfluß nicht auf die Poesie oder Kunst beschränken, sondern überall in ernsthaftester Weise die Gestaltung unseres praktischen Lebens beeinflussen, so bleibt uns, wenn wir überhaupt auf die Anwendung unseres Verstandes auf diese Dinge, für die er doch zweifellos da ist, nicht verzichten wollen, nichts übrig, als in sorgfältiger Untersuchung jenen allgemeinen Gesichtspunkt von der relativen Minderwertigkeit des Alten, die mit dem zunehmenden Alter entsprechend zunimmt, auf die Beurteilung aller praktischen Verhältnisse anzuwenden, wo sich bisher jener perspektivische Fehler geltend gemacht hatte.

Wiederholen wir zunächst noch einmal das allgemeine Ergebnis in aller Kürze. Da die Menschheit fortschreitet, so sind im allgemeinen ihre Leistungen um so besser und wertvoller, je näher dem gegenwärtigen Augenblicke die Zeit liegt, in der sie geschaffen worden sind.

Es soll sofort darauf hingewiesen werden, daß der menschliche Fortschritt ja nicht in stetiger Weise ohne jeden Abfall dazwischen verläuft. Wir haben gesehen, daß er vielmehr durch ein beständiges Auf und Ab gekennzeichnet ist, das um so stärker sich geltend macht, je weiter die betreffenden Zeiten zurückliegen. So wird denn auch der Wert der Leistungen nicht immer streng mit der zunehmenden zeitlichen Entfernung abnehmen, sondern es wird vorkommen, daß einzelne wertvollere Leistungen weiter zurückliegen, als andere wertlosere. Dieses Verhältnis wird noch dadurch gesteigert, daß im allgemeinen die wertvollsten Leistungen die längste Lebensdauer haben. Vergleicht man daher diejenigen Dinge, die aus alten Zeiten sich erhalten haben, mit dem Durchschnitt einer späteren Zeit, so entsteht leicht die Vorstellung, daß das Alte durchaus besser sei. Ein gerechter Vergleich kommt aber erst zustande, wenn man nur die besten Leistungen der verschiedenen Epochen mit einander vergleicht. Alsdann tritt das Gesetz des Fortschrittes viel deutlicher zutage, die mehrfach erwähnten Schwankungen immer vorbehalten.

Wie radikal diese einfache Anerkennung des Entwicklungsgesetzes in die üblichen Anschauungen eingreift, zeigt alsbald das vielgebrauchte Wort vom »bewährten Alten«. Selbst wenn wir voraussetzen, daß es sich wirklich um etwas Gutes handelt, das seiner Zeit gemäß durch eine ungewöhnliche Höhenleistung eines weitschauenden Organisators in die Wirklichkeit gebracht worden ist, so müssen wir doch schließen, daß es gerade deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit gegenwärtig schlecht ist. Denn wenn es gut gewesen ist, so ist es gut für die Verhältnisse gewesen, unter denen es entstanden ist. Solche Verhältnisse bleiben aber nicht unverändert, und je mehr das gute Ding den damaligen Verhältnissen angepaßt gewesen war, um so sicherer wird es für die gegenwärtigen Verhältnisse nicht mehr taugen. Natürlich gestalten sich hier die Einzelfälle sehr verschieden, denn es gibt Verhältnisse, die sich langsam, und solche, die sich schnell ändern. Man wird sich also im Einzelfalle weiter fragen, in welchem Tempo die maßgebenden Verhältnisse sich geändert haben, und daraus bereits wichtige Anhaltspunkte über die voraussichtliche Brauchbarkeit jenes »bewährten Alten« entnehmen können.

Ein besonders deutliches Beispiel für die Wirksamkeit dieser allgemeinen Faktoren bilden die praktischen Rechtsverhältnisse.

Man darf mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die praktischen Römer sich ihr Recht so gut eingerichtet hatten, als sie irgend konnten, und so mag es für seine Zeit ganz gut gewesen sein. Allerdings macht man nie ein Gesetz, bevor irgendwelche Schäden eingetreten sind, die man dadurch beseitigen will; alle Gesetze kommen also schon an und für sich zu spät. Aber als man in blinder Überschätzung des Alten dieses römische Recht auf die ganz anders gewordenen Verhältnisse neuerer Völker anzuwenden begann, da ist jene üble Wirkung des Alters immer mehr und mehr zutage getreten, und heute wagt selbst der leidenschaftlichste Verehrer jener alten Leistung nicht mehr, ihre unbedingte Vortrefflichkeit zu behaupten. Aber wenn man die vielen und schweren Schäden unseres heutigen Rechtslebens auf ihre Ursachen verfolgt, so findet man immer und überall wieder das römische Recht als den eigentlichen Feind, als den Meister aller Hindernisse, der uns verbieten will, ein modernes Recht zu haben, wie es das so unendlich viel reicher gewordene soziale Leben des zwanzigsten Jahrhunderts verlangt.

Ein anderer schwerer Fehler aus gleicher Quelle ist die unzweckmäßige Erziehung der Jugend, insbesondere des Teiles, der zu weiterer und höherer intellektueller Ausbildung berufen ist. Bis vor einigen Jahrzehnten hat auch hier die verkehrte Schätzung des Alten unbedingt geherrscht, und die Jugend sollte »im Geiste der Antike« statt gemäß den Bedürfnissen ihrer Zeit erzogen werden. Es soll Kaiser Wilhelm nie vergessen werden, daß er durch seine entschlossene Gleichsetzung aller mittleren Schulen, vom Lateingymnasium zur Oberrealschule eines der schlimmsten Hindernisse aus jener verkehrten Perspektive beseitigt hat. Der Erfolg läßt sich inzwischen immer deutlicher erkennen, da das Verhältnis der Schüler des Lateingymnasiums zu denen der moderneren Anstalten sich mit zunehmender Geschwindigkeit zugunsten der letzteren verschiebt. Nur noch ein Jahrzehnt, und jene »bewährte alte« Pädagogik wird ihrem Verdienst gemäß in die dritte Stelle zurückgedrängt sein, falls dann solche Schulen überhaupt noch bestehen sollten.

Am wenigsten von dem großen Denkfehler beeinflußt erweisen sich Naturwissenschaft und Technik. Hier gewährt das Experiment und die praktische Ausführung so unzweideutige Möglichkeiten, das Brauchbare vom Unzweckmäßigen zu scheiden, daß es bereits vollkommen »selbstverständlich« geworden ist, das Neue als das Bessere anzusehen. Keinem Chemiker fällt es ein, Chemie aus dem Lehrbuche von Berzelius zu lernen, obwohl kaum je in der Geschichte der Wissenschaften sich ein Werk so »bewährt« hat, wie dieses Meisterwerk seiner Zeit. Aber seine Zeit liegt eben um bald ein Jahrhundert zurück, und in der Chemie bedeutet ein Jahrhundert soviel, wie in den älteren Wissenschaften, z. B. in der Mathematik ein Jahrtausend.

Ebensowenig fällt es einem Techniker ein, eine Dampfmaschine nach irgendeinem klassischen Muster zu bauen, obwohl er weiß, daß jene alten Konstruktionen eine enorme Summe technischer Genialität ihren Vorgängern gegenüber enthalten hatten. Aber alle die Fortschritte, welche jene Meister erdacht hatten, sind in den regelmäßigen Bestand der Technik übergegangen und auf dieser Grundlage hat inzwischen eine riesige Weiterentwicklung stattgefunden. So würde er es als eine grobe Pflichtverletzung ansehen, wenn er sich nicht bemühte, bei seiner Neukonstruktion die allerneuesten Fortschritte, soweit sie ihm irgend zugänglich sind, zu benutzen, und der Gedanke, daß er aus irgendeinem gefühlsmäßigen Grunde wie Pietät oder Ehrfurcht eine veraltete Konstruktion beibehalten sollte, findet überhaupt keinen Platz in seinem Kopfe.

Leute, welche noch tief in jenem Denkfehler versunken und durch ihn an der Erfassung der wirklichen Verhältnisse verhindert sind, pflegen solchen Tatsachen gegenüber über den Mangel an historischem Sinne zu klagen. Der historische Sinn ist ein Unsinn, wenn er einen absoluten Wert der Dinge daraufhin annimmt, daß sie alt oder sehr alt sind. Man erschrickt, wenn man insbesondere mit dieser Leuchte in den Universitätsbetrieb hineinleuchtet, wo infolge des gleichen Denkfehlers noch in unserem zwanzigsten Jahrhundert eine unglaubliche Menge Scholastik dürrster Art getrieben wird. Man frage sich solchen Betätigungen gegenüber, wenn man über ihren Wert zweifelhaft ist: wird durch solche Arbeit irgendein Teil der Menschheit besser, klüger, glücklicher? Und wenn man mit nein antworten muß (abgesehen vielleicht von dem Inhaber des betreffenden Lehrstuhls), so weiß man, womit man es zu tun hat.


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