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Religion, Kunst und Wissenschaft werden gewöhnlich als die drei Formen der menschlichen Kultur bezeichnet, und die Meinungen, ob sie nebeneinander zu ordnen sind, oder ob eine Über- und Unterordnung zwischen ihnen besteht, sind je nach der Bildung und der Weltanschauung des Urteilenden sehr verschieden. Daß die Gläubigen ohne jeden Zweifel die Religion an die oberste Stelle setzen und sogar die ganze Frage als eine Herabsetzung derselben empfinden, erklärt sich ohne weiteres aus der übermenschlichen Rolle, die sie der Religion zuschreiben. Aber wenn wir auch diesen einseitigen Standpunkt ausschließen, so einigen sich die anderen keineswegs ohne weiteres auf die eine oder die andere Form als die oberste. Wir erinnern uns des Wortes von Schiller:
Im Fleiß kann Dich die Biene meistern,
In der Geschicklichkeit der Wurm Dein Lehrer sein;
Dein Wissen teilest Du mit vorgezognen Geistern:
Die Kunst, o Mensch, hast Du allein!
Hier hat der Dichter den Anspruch der Religion auf die höchste Stelle soweit mißachtet, daß er sie unter den Mitbewerbern um den Preis der Menschlichkeit überhaupt nicht genannt hat, auf den sie doch mindestens soviel Anspruch hat, als der Fleiß, den er mit Recht als auch bei Tieren vorhanden in seiner ersten Zeile kennzeichnet.
Minder bestimmt kann man sich über das äußern, was Schiller »Geschicklichkeit« nennt. Da er hier dem Wurm die Überlegenheit über den Menschen zuspricht, scheint er besonders künstliche Insekten- und Spinnenbaue im Auge gehabt zu haben. Hier macht sich allerdings die Mangelhaftigkeit seines technischen Wissens geltend, denn auch zu seiner Zeit sind die menschlichen Werke der Geschicklichkeit, wie Uhren, Spitzen, Stickereien, Gemälde usw. um eine Weltenweite den höchsten Leistungen der begabtesten niederen Organismen überlegen. Also auch der zweite Satz schließt einen Irrtum ein.
Noch schlimmer steht es mit dem dritten. Es konnte dem Dichter nicht entgehen, daß in der Tat die Wissenschaft von allen menschlichen Vorzügen der menschlichste ist, derjenige, von dem die geringsten Spuren oder Anfänge sich im Tierreich finden und auf dem daher am meisten das beruht, was den Menschen um eine weite Strecke von den Tieren scheidet. Um sich hier zu helfen, greift er zu einem verzweifelten Mittel: er nennt als Konkurrenten des Menschen die »vorgezogenen Geister«, d. h. er macht anscheinend die Annahme, daß in irgendeinem gedachten Himmel Lebewesen existieren, bei denen menschenähnliche Funktionen bestehen, aber in riesig gesteigerter Überlegenheit. Nun wird man ja dem Dichter zugestehen können, daß er zu Zwecken der Gemütserregung sich auf die alten Mythen der Menschheit bezieht, da gerade solche Denkgebiete, welche der Herrschaft des reinen Verstandes entzogen sind, dem Gefühlsleben einen um so weiteren Spielraum gewähren. Dies ist ja der Grund, weshalb in Dichtungen unbeanstandet Anschauungen verwendet werden, die wir außerhalb der Poesie krassen Aberglauben nennen würden. Aber wenn es sich um einen sachlichen Nachweis, wenn auch in poetischer Form handelt, nämlich um den Nachweis der These, daß von allen Kulturleistungen die Kunst die höchste sei, weil in ihr das spezifisch Menschliche am stärksten und reinsten zum Ausdruck komme, dann sollte man sich mit so »poetischen« Begründungen nicht zufrieden geben. Und wenn der Dichter sich damit zufrieden gab, und man dies mit seinem Beruf rechtfertigen oder wenigstens entschuldigen möchte, so darf doch der Lehrer, dem es um klare Erkenntnis und nicht um Rührung zu tun ist, jedenfalls nicht damit zufrieden sein. Er muß Schillers Argument dahin stellen, woher es genommen ist: in die Rumpelkammer poetischen Aberglaubens.
Und so sind wir mit Recht auch gegen die letzte Zeile mißtrauisch geworden: hat wirklich der Mensch allein die Kunst? Jeder, der den Gesang der Nachtigallen, den Schlag der Finken nicht als bloßer zufälliger »Naturfreund«, sondern als kritischer Kenner zu hören gelernt hat, weiß, daß es unter diesen Tieren ebensolche künstlerische Unterschiede gibt, wie unter den Klavierspielern, Sängerinnen oder Malern; die einen machen es sehr gut, die anderen mittelmäßig und manche entschieden schlecht. Also: von der Kunst sind bei den Tieren mindestens reichliche Elemente vorhanden, und es ist verhältnismäßig mehr davon vorhanden, als von dem, was in der zweiten Zeile »Geschicklichkeit« genannt worden ist. Als Schiller seine allgemeine Theorie von der geistigen Vorherrschaft der Kunst, die er als Poet voraussetzen mußte, wenn er nicht seine eigene Lebensaufgabe abschätzig beurteilen wollte, in Abhandlungen und Gedichten entwickelte, hat Goethe gleichzeitig und in beständigem Verkehr mit dem Freunde seiner praktischen Höherschätzung eines anderen Gebietes Ausdruck gegeben. Es war dies das der Wissenschaft, in welcher dauernde Leistungen zu vollbringen ihm wünschenswerter erschien, als der ganze Ertrag seiner dichterischen Tätigkeit.
Und dahinaus kommt denn auch die kritische Untersuchung jener poetischen Kulturtheorie Schillers. Unwillkürlich hatte er ja die Höherstellung der Wissenschaft zugegeben, in dem er sie für das Vorzugsgut der »vorgezogenen Geister« erklärte. Lassen wir diese auf sich beruhen, so bleibt die Wissenschaft als das höchste für den Menschen übrig, und diese Erkenntnis im einzelnen zu begründen wird der Gegenstand unserer Betrachtung sein. Es ist mit anderen Worten die Wissenschaft auf ihr Verhältnis zur Religion (und Kunst) zu untersuchen.
Die Untersuchung ist früher bereits zu einem großen Teile vorbereitet worden. Die Entwicklungsgeschichte hat uns hier ganz unzweideutige Anhaltspunkte gegeben. Alle geistigen, d. h. spezifisch menschlichen Güter nahmen ursprünglich die Form einer Religion (oder die primitivere eines Kultus) an, und die Wissenschaft steht zu dieser in dem Verhältnis, daß sie als ein viel später ausgebildetes Organ der Menschheit für alle Ausführung ihrer beständig wachsenden Aufgaben aufgefaßt werden muß. Nun wissen wir ganz allgemein aus der Biologie, daß die höheren und feineren Organe sowohl in der Entwicklungsgeschichte des Individuums, wie in der Art (was ja nach Haeckels biogenetischem Grundgesetz auf das gleiche hinauskommt) sich stets als die später kommenden erweisen. Und wer die Anwendung dieses Gesetzes hier nicht gelten lassen will, weil es sich nicht um einen Organismus »im eigentlichen Sinne« handele, dem kann man ja das Entgegenkommen beweisen, daß auch in allen anderen Gebieten menschlicher Betätigung die zeitlich primitiven Formen auch immer die technischprimitiven sind, daß also auch in aller sozialen Betätigung das höhere Organ auf das niedere folgt. Ist demnach die Religion, was sie beansprucht und was man ihr ohne weiteres zugeben kann und muß, nämlich die älteste Form der Kulturbetätigung der Menschheit, so kennzeichnet sie sich damit von vornherein auch als die sachlich primitivste, diejenige, die beim gesamten Aufsteigen der Menschheit den kleinsten Anteil erhalten hat.
Hierzu kommt noch die wesentliche Bindung an das Alte, ja Älteste, die allen Religionen grundsätzlich eigen ist, und die sie unwiderstehlich zwischen Scylla und Charybdis hineinführen muß. Entweder halten sie nämlich streng am Alten fest: dann klafft der Unterschied zwischen diesem und der Forderung des Tages immer weiter. Der Einfluß, den sie irgendwie ausüben können, muß mehr und mehr verschwinden, um so schneller, je entwickelter die allgemeine Kultur ist. Oder sie lassen sich, wenn auch zögernd, von dieser Forderung mitziehen. Dann geben sie die eigentliche Grundlage ihrer Existenz auf, nämlich daß sie aller menschlichen oder weltlichen Kritik entzogen, weil über all diesen Dingen stehend sind, und unterwerfen sich dem Urteil der Wissenschaft. Damit ist aber, wie wir gesehen haben, die Überlegenheit der Wissenschaft anerkannt und der Sieg für sie entschieden.
Dieser Sieg der Wissenschaft beruht also in letzter Linie darauf, daß sie im Gegensatz zur Religion die Tatsache der Entwicklung(die beim Menschen unvergleichlich viel bedeutender in die Erscheinung tritt, als bei den Tieren und Pflanzen) nicht nur anerkennt, sondern auch zum praktischen Grundsatz ihrer ganzen Betätigung macht. Ich möchte durchaus nicht Andersdenkende verletzen, bin aber durch den logischen Gang dieser Betrachtung gezwungen, auf die relative Stabilität der tierischen und pflanzlichen Lebewesen in ihrer inneren wie äußeren Organisation im Gegensatz zu dem rastlosen Fortschreiten des Menschen hinzuweisen. Dieses Fortschreiten ist in früheren Zeiten, wo der Mensch den Tieren noch näher stand, entsprechend viel langsamer gewesen: für solche Zustände war denn auch die Religion mit ihrer grundsätzlichen Stabilität die angemessene Form der Kultur, für welche die Erhaltung noch ein so schwieriges Problem war, daß an die Steigerung noch nicht gedacht werden konnte. Insofern muß also diese religiös-rituelle Form, rein wissenschaftlich gesprochen, als die dem Tierzustande nähere angesehen werden. Als dann die primitivsten Grundlagen der Kultur durch die religiöse Fixierung gesichert waren, entstand derselbe Widerspruch, den wir später auch in vielen Gebieten der Wissenschaft erkennen werden: daß nämlich die praktische Aufgabe des Erhaltens, der Stabilität, mit dem typisch menschlichen Bedürfnis nach Verbesserung und Vervollkommnung in einen unvermeidbaren Widerspruch geraten muß. Wo ein solcher Zustand eingetreten ist, beginnt die Religion ihre Bedeutung für die Kultur der Menschheit einzubüßen. Ihre Rolle wird dann von der Wissenschaft übernommen. Das ist der Grund, weshalb alle Menschen und Menschenklassen, die in irgendeiner Weise gegen ihre Mitmenschen über Verdienst bevorrechtet sind und in diesem Zustande bleiben möchten, sich an die Kirche als die typische Erhalterin des Vorhandenen wenden. Sie kann ihnen diesen Dienst auch leisten, aber nur vorübergehend, nämlich so lange, bis der Widerspruch zwischen Vorrecht und Leistung so groß geworden ist, daß die Benachteiligten sich ihn nicht mehr gefallen lassen. Dann pflegt die Hilfe der Kirche solchen Institutionen zum Unheil auszuschlagen, weil nämlich durch ihre Mitwirkung die Spannung, die nunmehr den Ausgleich gebieterisch verlangt, viel größer und gefährlicher geworden ist, als sie unter anderen Verhältnissen geworden wäre. Insofern ist die Kirche die Quelle der Revolutionen, ebenso wie die Wissenschaft die Quelle friedlicher Entwicklung ist. Denn da die Kirche den Fortschritt nicht hindern kann, so unterdrückt sie seine Symptome und seine Betätigung. Das bedeutet soviel, als wenn man an einem Dampfkessel das Sicherheitsventil zuschraubte und das Manometer zudeckte, weil man den Dampf nicht entweichen lassen möchte und weil man meint, ein Druck, den man nicht sieht, existiert auch nicht. Eine Explosion ist die unvermeidliche Folge.
Die Geschichte gibt uns eben eine überaus klare Probe auf dies theoretische Exempel. Wir haben gesehen, daß die katholische Kirche am meisten jenes unbedingt konservative Prinzip aller Religionen aufrecht erhält. Sie hat es denn auch dazu gebracht, daß in fast allen rein katholischen Ländern die Monarchien entweder bereits durch Republiken ersetzt worden sind oder doch dicht davor stehen, wie z. B. Spanien. Das italienische Königtum, welches zurzeit als feststehend anzusehen ist, befindet sich charakteristischer Weise in offenem Kampfe mit der Kirche In der italienischen Volksschule ist der amtliche obligatorische Religionsunterricht abgeschafft. Von dem zugelassenen fakultativen Unterricht in der Religion wird sehr wenig Gebrauch gemacht. und ist außerdem eines der allerdemokratischsten Königtümer in Europa. Im Gegensatz dazu stehen in den protestantischen Ländern Europas, in denen die Kirche den Fortschritt wenigstens einigermaßen zur Geltung hat kommen lassen, die Königsthrone unbedroht da und das norwegische Volk hat noch vor kurzem, als es frei über seine politische Zukunft zu bestimmen hatte, die Einrichtung eines Königstums der Republik vorgezogen. Auch hier bestätigt sich somit jener Grundsatz aller menschlichen Einrichtungen: Fortschritte können nicht verhindert, sie müssen organisiert werden.
Durch diese Sonderbetrachtungen ist denn auch das allgemeine Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft klar geworden. Je weiter wir in der Kultur zurückgehen, um so wertvoller erweist sich die Religion; je höher wir in ihr aufsteigen, um so mehr tritt sie in den Hintergrund, um durch die Wissenschaft ersetzt zu werden. Kann sie jemals vollständig entbehrlich gemacht werden?
Ehe wir auf diese Frage mit ja oder nein antworten, müssen wir uns eine allgemeine Tatsache klar machen, welche für die Entscheidung, namentlich im praktischen Sinne, maßgebend ist.
Die Gesamtheit eines Volkes, eines Staates setzt sich aus Menschen zusammen, welche die ganze Skala von Alter, Begabung, Bildung, Entwicklung einnehmen, die unter den Existenzbedingungen der Gruppe möglich ist. Hierbei verschieben sich die Grenzen nach oben wie nach unten, ja nach der Rasse, der Geschichte, der allgemeinen Natur der fraglichen Gruppe. Während in Deutschland der Umstand, daß einmal ein Analphabet entdeckt wird, als Merkwürdigkeit durch die Presse geht, so selten ist der Fall geworden, gibt es im alten Kulturlande Italien, insbesondere im Süden, Gebiete, in denen reichlich zwei Drittel der Bevölkerung weder zu lesen noch zu schreiben gelernt haben. Dementsprechend produziert auch Deutschland eine sehr große Anzahl Forscher und Entdecker, welche die Wissenschaft um neue Gebiete vermehren, während Süditalien in dieser Beziehung sehr unfruchtbar ist und in dem Verhältnis der Anzahl Forscher, die etwa auf eine Million Einwohner in einer bestimmten Zeit sich entwickeln, weit hinter anderen Kulturländern zurücksteht. Andererseits sind keineswegs alle, noch auch viele Deutsche geeignet, Forscherarbeit zu tun; es ist vielmehr nur eine ganz kleine Auslese im Verhältnis zur Gesamtzahl, welche diese höchste Leistung menschlicher Entwicklung auszuführen vermögen.
Wir werden also die jeweilige Bevölkerung eines Landes oder Staates als zusammengesetzt aus einer großen Anzahl Schichten anzusehen haben, welche sehr verschiedenen Stufen der Leistungsfähigkeit entsprechen. Diese Schichten umfassen einen recht beträchtlichen Abstand von der niedersten bis zur höchsten Kultur, aber doch in solcher Art, daß, wenn die unterste Schicht sehr niedrig ist, auch die höchste nicht die Höhe erreicht, welche auf einer höheren Basis der untersten Schicht möglich ist. Es erhebt sich somit ein Volk als eine Gesamtheit; alle Schichten steigen ungefähr gleichzeitig an. Deshalb darf man auch trotz der enormen Verschiedenheiten innerhalb desselben Volkes von einer allgemeinen Kulturhöhe sprechen und demgemäß sagen, daß die Deutschen eine höhere Kultur erreicht haben, als die Süditaliener.
Nun lehrt uns die Erfahrung, daß die wissenschaftlich höchstgestiegenen Persönlichkeiten im allgemeinen der Kirche, meist auch der Religion nicht bedürfen. Und zwar ist dies eine Tatsache, welche ebenso sich im Laufe der Zeit bei den Höchsten, wie gleichzeitig innerhalb eines Volkes beim Vergleich der verschiedenen Schichten nachweisen läßt. Beispielsweise war noch die Auseinandersetzung mit den Lehren der Kirche für einen so selbständigen Denker, wie den großen Philosophen Leibniz, eine dringende und wesentliche Angelegenheit, und seine Weltanschauung mit den Monaden ist ganz und gar dadurch bestimmt, daß er durch diese Annahme den besten Beweis für das Dasein Gottes gefunden zu haben glaubte, den man überhaupt finden könne. Nur ein Jahrhundert später schreibt Kant eine Abhandlung über die »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« und in der modernen philosophischen Literatur Deutschlands findet man das Gottesproblem überhaupt kaum je erwähnt, so sehr scheint es den Philosophen außerhalb der Philosophie zu liegen. Daß die Naturforscher heute weder in ihren Sonderarbeiten, noch bei der Zusammenfassung ihrer allgemeinsten Gesichtspunkte je Anlaß finden, den Gottesbegriff einzubeziehen, ist bereits so selbstverständlich geworden, daß nicht die Tatsache, sondern ihre Erwähnung Überraschung hervorruft, so wenig pflegt man beide Gebiete gleichzeitig in Gedanken zu haben.
Es läßt sich also nicht in Abrede stellen, daß das Bedürfnis nach gläubigem Denken und Empfinden durchschnittlich um so geringer wird, je höher die Persönlichkeit auf kulturellem Gebiete steht, je mehr sie sich im höchsten menschlichen Sinne entwickelt hat. Aber auch die nachfolgenden Schichten, die etwa nur in bescheidenem Maße an der Erweiterung der Wissenschaft teilnehmen und sich vorwiegend ihrer Anwendung und Verbreitung widmen, haben ihre kirchlichen Bedürfnisse großenteils verloren. Daß schließlich die von der Sozialdemokratie beeinflußte Schicht der Arbeiter sich gleichfalls fast völlig von der Kirche abgewendet hat, hängt wohl weniger mit dem Kulturzustande als mit der Erkenntnis zusammen, daß die Kirche sich als Beschützerin der Privilegierten gegenüber den Zukurzgekommenen auch gegenwärtig ausgiebig betätigt, so daß sie diese als eine Verbündete ihrer wirtschaftlichen Gegner empfinden.
So gibt es in den kulturell am höchsten stehenden Ländern bereits gegenwärtig mehrere Schichten, bei denen das religiöse Bedürfnis, wenigstens für die kirchlich organisierte Religion, bereits nicht mehr vorhanden ist, und der Gang der Geschichte läßt keinen Zweifel darüber bestehen, daß dies ein einseitig fortschreitender Vorgang ist, der zwar Schwankungen, aber keine grundsätzliche Umkehrung erfährt. Dort, wo die Kulturentwicklung geringer ist, reichen auch die der Kirche noch anhängenden Schichten höher hinauf. Dabei besteht immer der Unterschied, daß die der Entwicklung mehr Zugeständnisse machende protestantische Konfession sich auch viel besser mit wissenschaftlicher Kultur verträgt, als der starre Katholizismus. Die Statistik der ausgezeichnetsten Forscher beweist eine ganz unverhältnismäßige Überlegenheit der im Protestantismus geborenen.
Derart ist also geschichtlich zu erwarten, daß eine Volksschicht nach der anderen aus dem Meere der religiösen Vorstellungen auftauchen und für die Menschheit ein wissenschaftlich fruchtbares Land bilden wird. Das allmähliche Entbehrlichwerden der Religion ist also ein stufenweise fortschreitender Vorgang, von dem sich noch nicht absehen läßt, wann er die ganze Menschheit ergriffen haben wird. Denn es gibt gegenwärtig noch große, einen erheblichen Bruchteil der gesamten Menschheit ausmachende Rassen, innerhalb deren die Fähigkeit wissenschaftlicher Kultur nur sehr gering entwickelt ist und von denen man noch nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob sie sich jemals auf die höchste Stufe erheben werden. Diese werden sicherlich bis dahin religiöse Bedürfnisse haben und behalten.
In solchem Sinne haben wir das Goethewort zu verstehen:
Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
Hat auch Religion.
Wer jene beiden nicht besitzt,
Der habe Religion.