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Am 24. Juni 1911 hat das Preußische Spruchkollegium für kirchliche Angelegenheiten beschlossen, daß eine weitere Wirksamkeit des Pfarrers Jatho von Köln innerhalb der evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen Preußens mit der Stellung, die er in seiner Lehre zum Bekenntnis die Kirche einnimmt, unvereinbar ist. Unter den zeitgeschichtlichen Ereignissen ist dies eines der wichtigsten. Es wird voraussichtlich sich als vergleichbar mit jenem Ereignis erweisen, von welchem man gewöhnlich das Auftreten der kirchlichen Reformation Luthers datiert, mit dem Anschlag der 95 Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg. Und von diesem Sonnenwendtage des Jahres 1911, wird auch eine große und weittragende Wendung in dem kirchlichen und religiösen Leben der Deutschen zu rechnen sein. Welchen Weg die bevorstehende Entwicklung nehmen wird, läßt sich noch nicht genau voraussehen, da die geschichtlichen Parallelen in diesem Fall besonders schwierig zu ziehen sind. Scheint doch Pfarrer Jatho von Luther zwar die hinreißende Macht der Rede und die Eindruckssicherheit der Persönlichkeit zu haben, nicht aber die Fähigkeit des rücksichtslosen und festen Zugreifens in den großen Angelegenheiten der Nation. Aber dieses Auftreten einer neuen Reformation innerhalb der von Luther reformierten Kirche zeigt, daß auch in diesem Falle, wie in allen ähnlichen Fällen, die wir in der politischen Entwicklung beobachten können, die einzelne Revolution nicht zu einem dauernden Zustande führt, solange nicht das allgemeine Gesetz der historischen Umgestaltung des Völkerlebens beachtet wird. Dieses Gesetz ist in wissenschaftlicher Gestalt erst in unseren Zeiten bekannt geworden. Es ist das Gesetz der Entwicklung. Es zu beachten, haben nur erst die geistig höchststehenden Teile der Nation gelernt; nur sie wissen, daß man den Fortschritt nicht hindern kann und daher ihn organisieren muß.
Es handelt sich hierbei um ein grundsätzliches Problem von nicht geringer Schwierigkeit, welches in folgenden Umständen liegt. Die menschliche Gesellschaft entwickelt sich zweifellos in einem bestimmten Sinne, den wir als den höhern, bessern, in allen Beziehungen wünschenswerten ansehen. Die erste und grundsätzliche Forderung, die man aus dieser Tatsache für die Gestaltung aller menschlichen Angelegenheiten zu ziehen hat, ist natürlich die, daß diese Angelegenheiten im Sinne der Entwicklungstatsache verwaltet und daher beständig den neuen Verhältnissen angepaßt werden. Dies würde aber eine unaufhörliche Veränderung aller Verhältnisse, insbesondere auch aller Gesetze und Lebensordnungen bedingen. Eine solche Forderung scheint sich selbst aufzuheben, denn eine jede Ordnung, ein jedes Verhältnis, ein jedes Recht beruht ja eben auf seiner Unveränderlichkeit. Wir stehen also vor der scheinbaren Unmöglichkeit, das praktische Bedürfnis nach Unveränderlichkeit mit den tatsächlichen Verhältnissen der Entwicklung derart zu vereinigen, daß jenes Bedürfnis nach Stabilität zu seinem Recht kommt, ohne daß dabei die Tatsache der Entwicklung selbst geschädigt wird.
Wie groß die Schwierigkeit auf diesem Gebiete ist, wird durch die bekannten Worte Mephistos gekennzeichnet:
Es erben sich Gesetz' und Rechte
Wie eine ew'ge Krankheit fort;
Sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
Weh Dir, daß Du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider! nie die Frage.
Hier wird also mit der plastischen Kraft des Dichters zum Ausdruck gebracht, wie die Tatsache der Entwicklung mit der grundsätzlichen Stabilität der Rechtsordnung in Widerspruch gelangen muß. Aber nicht nur auf dem Rechtsgebiete, sondern auch auf dem des religiösen oder Glaubenslebens machen sich genau dieselben Widersprüche geltend. Es gibt keine Geschichte irgendeiner Religionsgemeinschaft, welche nicht erfüllt wäre von diesem Widerspruch zwischen dem Bedürfnis nach Stabilität und dem nicht minder dringenden Bedürfnis nach Entwicklung. Und zwar wird man aus dieser allgemeinen Betrachtung alsbald entnehmen können, daß notwendigerweise gerade Vorgänge, die man dann Reformationen und Revolutionen, Schismen und Spaltungen zu nennen pflegt, um so lebhafter und kräftiger sich ausbilden müssen, je lebhafter und kräftiger die Kulturentwicklung der betreffenden Gemeinschaft sich gestaltet. Hiervon gibt es nur eine Ausnahme, diejenige nämlich, wo die Kulturentwicklung zu solcher Höhe geführt hat, daß die religiösen Bedürfnisse nicht mehr nach einer Befriedigung durch kirchliche Institutionen verlangen, sondern entweder mit den wissenschaftlichen und andern Lebensbetätigungen zusammengefallen sind oder aber überhaupt aufgehört haben, einen Teil des geistigen Lebens der betreffenden zu bilden. Man wird hier an die klassische Theorie der drei Entwicklungsstadien der Menschheit von Auguste Comte denken, nach welcher auf das religiöse Stadium das metaphysische und zuletzt das positive folgen soll. Was man auch gegen die möglicherweise zu weit gehende Schematisierung dieser Auffassungsweise sagen mag, die Tatsache liegt jedenfalls geschichtlich vor, daß die religiösen Zusammenfassungen der geistigen Betätigungen die ältesten und daher gemäß dem Entwicklungsgesetz die unvollkommensten sind, daß sie also bei steigender Entwicklung zu einer allmählichen Reduktion bezw. zu einem vollständigen Verschwinden bestimmt sind.
Die Lösung dieser allgemeinen Schwierigkeit wird gewöhnlich zuerst auf dem Wege gesucht, daß man das Bedürfnis der Entwicklung entweder nicht kennt oder nicht anerkennt und darauf die Notwendigkeit einer absoluten Unveränderlichkeit der einmal geschaffenen Institutionen begründet. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß alle diejenigen Machtfaktoren, welche auf diesem Standpunkte stehen, in logischem Zusammenhange die Grundlage ihrer Macht in Vorgängen erblicken, die soweit wie möglich in älteste Zeiten zurückgeschoben werden, da für sie eine um so größere Ehrwürdigkeit und daher Geltung und Unveränderlichkeit in Anspruch genommen wird, je länger sie bereits bestanden haben. Dieses gilt nicht nur für die religiösen Institutionen, sondern ebenso für die politischen, ja sogar für gewisse wissenschaftliche. Wir können diesen Standpunkt im Hinblick auf die Seite, die uns hier besonders interessiert, den der Orthodoxie nennen. Dieser Standpunkt ist dadurch gekennzeichnet, daß es sich immer um die Geltung irgendwelcher ein für allemal feststehender und als absolut unveränderlich proklamierter Sätze handelt und daß deshalb jeder Versuch eines Fortschrittes durch die Berufung auf die notwendige Unveränderlichkeit der Grundlagen zurückgeschlagen und wenn möglich vernichtet wird. Eine solche Politik läßt sich auf den verschiedenen Gebieten um so eher festhalten, je geringer der Fortschritt selbst sich betätigt. Es ist also die Orthodoxie die Politik der primitiven Zustände.
Eine solche Politik ist solange durchführbar, als das Tempo der tatsächlich stattfindenden Entwicklung langsam genug ist, um eine scheinbar absolute Konstanz der Grundlagen zu gewähren. Unbedingt konstant pflegen sich ja auch diese Grundlagen nicht zu halten, denn die neuen Notwendigkeiten dringen langsam und unwiderstehlich auch in die scheinbar feststehenden Institutionen ein. Da diese neuen Notwendigkeiten sich aber außerordentlich langsam entwickeln, so ist genügend Zeit für das Eindringen und die entsprechende Umwandlung vorhanden und es kommt nicht leicht zu schreienden Konflikten zwischen den Bedürfnissen der Zeit und der Möglichkeit, diesen Bedürfnissen mit den alten, nur wenig modifizierten Mitteln zu genügen. Aber auf die Dauer erweist sich ein solches Verhältnis denn doch unhaltbar und wir werden uns zunächst grundsätzlich zu fragen haben, wie denn das Problem des Ausgleiches zwischen Beständigkeit und Wandelbarkeit überhaupt zu lösen ist.
Die Antwort hierauf ergibt sich, wenn man ähnliche Vorgänge in einfacheren Gebieten, bei denen Gefühlswerte und ähnliche schwer beherrschbare Faktoren nicht erheblich ins Gewicht fallen, untersucht. Ein Beispiel hierfür, das nach vielen Richtungen hin lehrreich ist, bietet die Entwicklung der Normalen für Maß und Gewicht dar. Auch hier liegt offenbar das allergrößte Interesse dafür vor, daß die einmal festgestellten Normalen auch unveränderlich für alle Zukunft beibehalten werden, da jede Veränderung sehr erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Andererseits aber kann die wissenschaftliche Definition solcher Normalgrößen nicht auf immer für die fortschreitende Entwicklung der Wissenschaft ausreichend bleiben und daher entstehen unausbleiblich Widersprüche zwischen dem, was einmal als geltend festgestellt worden ist und dem, was nach dem Wissen der Zeit gelten soll und muß.
So ist beispielsweise das Normalmeter am Anfange des 19. Jahrhunderts von der französischen Meterkommission festgestellt worden. Als es sich aber im letzten Viertel ebendesselben Jahrhunderts darum handelte, dieses Normalmaß über die ganze Kulturwelt (zunächst in der Wissenschaft, stufenweise aber auch im praktischen Leben) zur Anwendung zu bringen, da stellte sich heraus, daß das Urmeter, auf welchem alle die abgeleiteten Meter beruhten, so wenig sorgfältig hergestellt und aufbewahrt worden war, daß es eine viel zu große Unbestimmtheit für den gegenwärtigen Zweck enthielt. Es mußte also ein neues Normalmeter hergestellt werden, welches diese Fehler nicht hatte und welches viel genauer definiert war, als das ursprüngliche Meter. Alle Maßeinheiten, die auf das alte Meter bezogen werden, mußten deshalb, nachdem das neue nach einer Reihe von Jahren angestrengtester Arbeit hergestellt worden war, mit diesen verglichen werden und es mußte eine nicht bequeme Uebergangsperiode bewältigt werden. Diese ist inzwischen erledigt worden und voraussichtlich ist eine zeitlich begrenzte Unveränderlichkeit des jetzt festgelegten Maßes etwa wieder für ein Jahrhundert gewonnen. Dennoch aber müssen wir zweifellos erwarten, daß ein späteres Jahrhundert auch unsere Arbeit nicht mehr als genügend wird anerkennen können und neuerdings wieder in das scheinbar stabile Objekt wird eingreifen müssen. Noch deutlicher vielleicht hat sich das an der Entwicklung der elektrischen Maßeinheiten gezeigt, welche sich in eine viel kürzere Zeit zusammengedrängt hat. So ist beispielsweise der Zahlenwert der elektrischen Widerstandseinheit des Ohm im Lauf von 20 Jahren drei- oder viermal geändert worden, indem jede Änderung eine weitere Annäherung an die theoretische Definition mit sich gebracht hat. Gegenwärtig ist eine verhältnismäßige Ruhe hier eingetreten, aber niemand, der mit den Sachen hinreichend vertraut ist, wird sich der Erkenntnis verschließen, daß die Notwendigkeit, von neuem auf die vorläufig erledigte Frage zurückzukommen, durchaus im Gebiete des Möglichen liegt.
Aber nicht nur an menschlichen Angelegenheiten zeigt sich unser Problem. Auch in dem Bereich des organischen Lebens besteht überall der Widerspruch zwischen der unvermeidlichen und notwendigen Entwicklung einerseits und zwischen dem Bedürfnisse nach einer wenigstens zeitlichen Stabilität andererseits. Der Krebs ist gegen die Angriffe seiner Feinde durch einen harten Panzer geschützt, der ihm diese Sicherheit zwar gewährt, aber auch seine Entwicklung beeinträchtigt. Denn die Härte und Widerstandsfähigkeit des Panzers hat zur Folge, daß der Krebs innerhalb dieser starren Hülle nicht wachsen kann. Wie hilft sich hier der Krebs? Er hilft sich dadurch, daß er den starren Panzer nur während eines Jahres trägt. Wenn dann das Entwicklungsbedürfnis so groß geworden ist, daß dafür der vorhandene Raum des Panzers nicht mehr ausreicht, so wirft er ihn eben ab, bildet sich einen neuen, größern, der den neuen Bedürfnissen entspricht. In der Zeit zwischen dem Abwerfen des alten Panzers und dem Festwerden des neuen hat der Krebs es allerdings dann besonders schwer. Denn der gewohnte Schutz fehlt und gleichzeitig stellt die Bildung des neuen Panzers sehr weitgehende physiologische Forderungen an seinen Organismus, so daß das Tier eine doppelt gefährdete Periode durchzumachen hat.
Hierin also haben wir die allgemeine Lösung des Problems zu erkennen, wie man die Stabilität mit der Entwicklung zu vereinigen hat. Das Wort, welches die Lösung der Aufgabe enthält, heißt Periodizität. Periodisch, von Zeit zu Zeit, hat die Anpassung der inzwischen unverändert erhaltenen Formen an die inzwischen neu gestalteten Bedürfnisse stattzufinden, wobei jedesmal eine Zeit besonderer Beanspruchung der betreffenden Organisationen und gleichzeitig besonderer Gefahren für ihre unverkümmerte weitere Entwicklung zu überwinden ist. Aber diese Periode muß überwunden werden, wenn das Problem der Vereinigung von Beständigkeit und Entwicklung gelöst werden soll.
Diese allgemeinen Betrachtungen finden sich nun auch an dem Entwicklungsgang der Kirchen klar bestätigt. Am stabilsten ist von den christlichen die griechisch-katholische Kirche, weil die ihr anhängenden Völker an der Kulturentwicklung bisher den allergeringsten Anteil genommen haben. Sie haben sich also viel weniger verändert, als die andern europäischen Völker, und haben deshalb auch für ihre religiösen Bedürfnisse keiner erheblichen Veränderung der Formen bedurft. Daher bewirkt innerhalb dieser Kirche das Fortschrittsbedürfnis zwar eine vielfältige kleine Sektenbildung, es hat aber bisher eine große durchgreifende Reformation nicht stattgefunden. Eine solche wird aber zweifellos eintreten, wenn bei den slavischen Völkern die allgemeine kulturelle Entwicklung ein schnelleres Tempo annehmen wird, vorausgesetzt, daß dieses Tempo nicht so schnell ist, um ähnlich wie es gegenwärtig in Japan zu geschehen scheint, das religiöse Bedürfnis überhaupt zu beseitigen. Bei der katholischen Kirche können wir beobachten, wie sie formell die Entwicklung leugnet und den Grundsatz der Orthodoxie, der unveränderlichen Rechtgläubigkeit an den ein für allemal festgelegten Prinzipien durchzuführen sucht. Tatsächlich aber folgt die katholische Kirche gleichfalls der allgemeinen Kulturentwicklung nach, was ja deutlich daran erkennbar ist, daß viele von ihr früher als irrig und glaubenswidrig verurteilte Lehren in späterer Zeit zugelassen werden. Es sei nur an die Lehre von der Bewegung der Erde um die Sonne erinnert. Vermöge der jahrtausendalten Erfahrungen über die Behandlung der gläubigen Menschheit, die sich in der katholischen Kirche angesammelt haben, ist indessen diese Technik der Anpassung an die Bedürfnisse der Entwicklung in sehr geschickter Weise dahin organisiert worden, daß die notwendigen Anpassungsschritte zu einer Zeit vollzogen werden, wo sich kein Mensch mehr um die Angelegenheit kümmert, da sie eben inzwischen schon Gemeingut des Denkens geworden ist. Auf solche Weise wird nämlich ziemlich erfolgreich vermieden, daß die Berichtigung des Irrtums der Kirche ein erhebliches Aufsehen erregt. Die Angelegenheit war ja tatsächlich schon im wesentlichen erledigt und es kommt anscheinend gar nicht viel darauf an, was die Kirche nun so langverspätet dazu zu sagen hat.
Ein solches Verfahren ist indessen auch nicht mehr durchführbar, wenn die Entwicklung größere Geschwindigkeit annimmt. Dann wird der Teil der Kulturwelt, der am stärksten von der Vorwärtsentwicklung beeinflußt ist, zu sehr in Widerspruch mit jenem konservativen Verhalten der Kirche geraten und bei einer bestimmten Größe der Spannung kommt es dann zu einer Reformation, wie sie seiner Zeit von Luther, Kalvin und ihren Zeitgenossen durchgeführt worden ist. Durch die Reformation hat die protestantische Kirche praktisch das Bedürfnis der Entwicklung innerhalb der Kirche anerkannt. Es ist aber, wie durch den Wissenschaftszustand jener Zeit durchaus erklärlich war -- die moderne Wissenschaft begann sich damals erst in ihren allerersten Regungen zu entwickeln -- der Entwicklungsgedanke selbst für die Reformatoren nicht maßgebend gewesen, sondern der verfehlte Gedanke, daß es sich um eine Wiederkehr zum alten, unverfälschten Christentum handle. Hierdurch ist allerdings das Bedürfnis der Reform mit der theoretischen Idee der Unveränderlichkeit der Heilslehre in Uebereinstimmung gebracht worden. Als Zerstörer der Orthodoxie ist aber hierbei der Faktor der freien oder gewissensmäßigen Deutung der überkommenen Schriften aufgetreten, dessen Folgen jene Reformatoren nicht geahnt haben. Es war eine ganz natürliche Erscheinung, daß sich auch innerhalb der reformierten Gemeinschaften alsbald neue orthodoxe Parteien bildeten, welche die Ansichten des Reformators als weiterhin unveränderliche Basis ihrer Gemeinschaft in Anspruch nahmen und jede Entwicklung (die zwar im Sinne des Reformators lag, von ihm aber noch nicht berücksichtigt worden war) als Irrlehre ablehnten und gegebenen Falls auch verfolgten. Auf der anderen Seite stehen dann diejenigen fortgeschrittenen Menschen, bei denen die religiösen Bedürfnisse noch weitere und entwickeltere Formen, bezw. Übergangsformen zu den wissenschaftlichen Anschauungen angenommen haben und die daher die Entwicklung nicht mit jenem Reformator für abgeschlossen ansehen können, sondern darüber hinaus noch weiter fortzuführen beanspruchen.
Das ist nun genau die Sachlage, in welcher sich eben der Pfarrer Jatho gegenüber den Vertretern der Orthodoxie im Spruchkollegium befindet. Er hat in seiner Rechtfertigungsschrift seinen Standpunkt folgendermaßen dargelegt: »Die Verkündigung des Evangeliums darf nicht an eine Bekenntnisnorm oder ein Lehrgesetz gebunden werden, für alle Prediger verpflichtend. Es handelt sich um die persönlich erlebte Religion, die Gottesidee muß entwickelt werden, indem der Christusgeist sich entfaltet. Es ist unchristlich, wenn eine Kirche zwar neue Formen für alte Wahrheiten gestattet, aber das Aufsuchen und Geltendmachen von neuen Wahrheiten ablehnt«. Wie man sieht, hat Pfarrer Jatho hier zwar das Entwicklungsbedürfnis der religiösen Anschauungen über Luthers Lehre hinaus vollkommen klar erkannt, nicht aber, was nötig gewesen wäre, untersucht, ob denn die religiösen Bedürfnisse der Fortgeschrittenen sich zuletzt auch durch die Christuslehre befriedigen lassen. Wir haben an früherer Stelle gesehen, daß die an vielen und wichtigen Punkten weit über ihre Zeit fortgeschritten gewesene Christuslehre durch die inzwischen umgewandelten Verhältnisse der gesamten Menschheit doch an grundlegenden Stellen überholt und unzulänglich gemacht worden ist. In der Tat läßt sich kein durchschlagender Grund dafür geltend machen, daß etwa zwar die Art und Weise, wie Luther die Betätigung des einzelnen Menschen in seinem religiösen Innenleben aufgefaßt hat, zeitlich bedingt und deshalb durch die Auffindung neuer Wahrheiten zu entwickeln und zu ergänzen sei, daß aber dieselbe Ueberlegung nicht auf die völlig analogen Umbildungen Anwendung finden dürfe, welche Christus an der jüdischen Lehre seiner Zeit vorgenommen hat. Sowie man die eine Möglichkeit zugibt, hat man keinen Grund mehr, die andere Möglichkeit in Abrede zu stellen.
So führt der Weg, den Christus, Luther und jetzt Pfarrer Jatho genommen hat, unwiderstehlich auf den Punkt hinaus, auf dem wir Monisten uns befinden, nämlich auf die wissenschaftliche Weltanschauung, welche die Entwicklung als Grundgesetz alles Lebens anerkennt und daher nicht und in keiner Beziehung eine absolute Stabilität eines einmal gewonnenen Standpunktes zugeben kann.
Allerdings muß sofort hinzugefügt werden, daß eine derartige Anschauung nicht allen Menschen einer und derselben Zeit eigen sein kann, denn unsere Zeitgenossen gehören kulturell keineswegs alle unserer Zeit an. Die Kulturhöhe jeder Zeit wird nämlich nur durch die ausgezeichneten, höchstentwickelten Menschen bestimmt. -- Die anderen gehören einer großen Anzahl vergangner Kulturschichten zu, die vielleicht um drei bis fünf Jahrhunderte zurückliegen können. Eine jede dieser Schichten hat ihre eigenen geistigen Bedürfnisse und so stellt uns der Reformprotestantismus Jathos keineswegs die höchste Entwicklungsstufe des geistigen Lebens im zwanzigsten Jahrhundert dar, sondern bestenfalls die zweithöchste.