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Siebenundfünfzigstes Kapitel

Am nächsten Tage wurde ein großes Schiff, die »Rachel«, gemeldet, die direkt auf den »Pequod« losfuhr. – Auf allen Spieren derselben wimmelte es von Menschen. Der »Pequod« sauste gerade mit großer Geschwindigkeit durchs Wasser. Als aber das fremde Schiff mit den weit ausgebuchteten Segeln windwärts dicht auf ihn zuschoß, klappten seine prahlerischen Segel zusammen wie weiße, platzende Wasserblasen.

»Schlechte Nachrichten! Das Schiff bringt schlechte Nachrichten«, brummte der alte Mann von der Insel Man. Aber bevor der Kapitän mit dem Schallrohr am Mund im Boot stand, und bevor er hoffnungsvoll etwas zurufen konnte, hörte man die Stimme Ahabs.

»Hast du den weißen Wal gesehen?« –

»Ja, gestern. Habt ihr ein Walboot treiben sehen?« –

Mit erstickter Freude verneinte Ahab diese unerwartete Frage. Gern wäre er an Bord des Fremden gegangen. Da sah man, wie der fremde Kapitän selbst, der sein Schiff gestoppt hatte, an der Seite ausstieg. Nach einigen kräftigen Ruderschlägen machte man den Bootshaken an den Hauptketten des »Pequod« fest, und der Kapitän sprang an Deck. Sofort erkannte Ahab ihn als einen Bekannten aus Nantucket. Eine formelle Begrüßung fand nicht statt.

»Wo war er denn? Er ist nicht getötet! Nicht getötet!« schrie Ahab und kam näher. »Wie ging das zu?«

Anscheinend war es spät am Nachmittag des vorhergehenden Tages gewesen, als drei von den Booten mit einer Walfischherde beschäftigt waren, wobei die Mannschaft etwa vier oder fünf Meilen vom Schiff abgekommen war. Und als sie windwärts auf scharfer Jagd waren, war Moby-Dick mit seinem weißen Höcker und Kopfe plötzlich aus dem Wasser aufgetaucht, an der Leeseite in nicht zu großer Entfernung vom Schiff. Darauf hatte man das vierte aufgetakelte Boot, das als Reserve diente, sofort herabgelassen, um die Verfolgung aufzunehmen.

In weiter Entfernung hatte man das Boot in Punktgröße gesehen, dann war schnell ein Strahl von aufzischendem weißen Wasser gekommen. Und weiter war nichts mehr zu sehen gewesen. Man hatte aus dieser Tatsache geschlossen, daß der getroffene Wal mit seinen Verfolgern, wie es oft der Fall ist, aufs Geratewohl fortgeeilt war. Man war wohl etwas besorgt gewesen, war aber bis jetzt noch nicht bestürzt. Man hatte im Takelwerk Signale aufgesteckt, die zur Rückkehr aufforderten. Dann war die Dunkelheit gekommen, und man war gezwungen gewesen, die drei Boote, die weit windwärts waren, aufzunehmen. Bevor man das vierte in der genau entgegengesetzten Richtung aufgesucht hatte, war das Boot bis Mitternacht notgedrungenerweise seinem Schicksal überlassen worden. Man hatte sich sogar im gegenwärtigen Augenblick von dem Boot weit entfernt. Als aber die Mannschaft endlich sicher an Bord gebracht war, hatte das Schiff alle Segel beigesetzt, um das fehlende Boot aufzusuchen. Man hatte in den Schmelzhäfen Feuer angemacht, das als Signal dienen sollte, und jedermann hatte sich oben auf dem Ausguckposten befunden. Als das Schiff weit genug gesegelt war und den vermutlichen Platz der fehlenden Matrosen erreicht hatte, wo sie zuletzt gesichtet waren, hatte das Schiff haltgemacht und alle übrigen Boote herabgelassen, um in der unmittelbaren Umgebung herumzusuchen. Da man nichts vorgefunden hatte, war man weiter gestürmt. Man hatte wieder haltgemacht, hatte die Boote herabgelassen. Obwohl nun dies Verfahren bis zum Morgenanbruch gedauert hatte, hatte man von dem fehlenden Boot keine Spur entdeckt!

Als der fremde Kapitän den Sachverhalt erzählt hatte, ging er sofort dazu über und teilte mit, weshalb er an Bord des »Pequod« gekommen wäre. Er wünschte, daß das Schiff mit seinen eigenen Leuten das verlorene Boot aufsuchte. Man wollte einige vier oder fünf Meilen parallel zueinander über das Meer fahren und so eine doppelte Fläche bestreichen.

»Ich wette,« flüsterte Stubb Flask zu, »daß einer in dem fehlenden Boot den besten Rock vom Kapitän mit hat. Vielleicht auch seine Uhr, und daß er es deshalb so verdammt eilig hat. Hat man schon mal gehört, daß zwei Walschiffe in aller Eintracht einem fehlenden Boot mitten in der Walfischzeit nachgefahren wären? Sieh nur mal hin, wie bleich er aussieht! Und bleich sind auch die Pupillen in seinen Augen. Es war nicht der Rock. Es muß wohl –«

»Mein Junge, mein eigener Junge ist dabei! Um's Himmels willen. Ich bitte Sie, ich beschwöre Sie!« rief der fremde Kapitän aus, da Ahab seiner Bitte bisher mit eisiger Kälte begegnet war. »Lassen Sie mich für achtundvierzig Stunden Ihr Schiff chartern. Ich will das gerne zahlen, und es soll mir nicht darauf ankommen, wenn es keinen anderen Weg gibt. Für achtundvierzig Stunden nur! Das müssen Sie tun!«

»Seinen Sohn hat er verloren,« schrie Stubb, »seinen eigenen Sohn. Ich nehme das mit dem Rock und der Uhr zurück. Was sagt Ahab? Wir müssen den Jungen retten.«

»Er ist gestern abend mit den anderen ertrunken«, sagte der alte Matrose von der Insel Man, der hinter ihm stand. »Ich hab' es gehört; ihr alle habt die Geister gehört.«

Wie es sich bald herausstellte, wurde der Unglücksfall, der die »Rachel« betroffen hatte, noch durch den Umstand vergrößert, daß sich nicht nur ein Sohn des Kapitäns unter der fehlenden Bootsmannschaft befand, sondern daß unter der Mannschaft des anderen Bootes sich noch ein Sohn befunden hatte. So befand sich denn der unglückliche Vater in der allerfurchtbarsten Situation. In derartigen Fällen entscheidet sich der Obermaat immer dafür, daß das Boot mit der stärksten Mannschaft zuerst aufgenommen wird.

Aber der Kapitän hatte aus unbekannten Gründen alles dies nicht erwähnt. Erst als er durch das eiskalte Verhalten Ahabs dazu gezwungen wurde, sprach er von dem einen Jungen, der immer noch fehlte. Es war ein kleiner Kerl, erst zwölf Jahre alt. Sein Vater hatte ihn mit aller Kühnheit der Vaterliebe eines Nantucketer, ohne etwas Böses zu ahnen, mit den Gefahren und Herrlichkeiten seines Berufes vertraut machen wollen, und hatte kaum an das Geschick, dem sein ganzes Geschlecht ausgeliefert war, gedacht. Es kommt häufig vor, daß die Kapitäne von Nantucket einen Sohn in solch zartem Alter auf ein anderes Schiff für eine Fahrt schicken, die drei oder vier Jahre dauert. Die ersten Eindrücke, die sie von dem Leben eines Walfischers aufnehmen, sollen nicht durch die natürliche und unpassende Parteilichkeit des Vaters und ebensowenig durch unangebrachte Angst und Sorge verwischt sein.

Inzwischen bemühte sich der Fremde immer noch um die Gefälligkeit Ahabs. Ahab stand immer noch wie ein Amboß da, der jeden Stoß aufnahm, aber nicht im geringsten selbst dadurch erschüttert wurde.

»Ich gehe nicht,« sagte der Fremde, »bis Sie ›Ja‹ gesagt haben. Handeln Sie so, wie Sie es von mir in einem ähnlichen Fall erwarten würden. Sie haben doch auch einen Jungen, Kapitän Ahab, wenn er auch noch ein zartes Kind ist und nun zu Hause sicher und geborgen ist. Sie geben nach. Ich sehe es. Lauft, Leute, und helft, die Rahen vierkant brassen!«

»Hütet euch und rührt nicht das Kabelgarn an!« brüllte Ahab. Und dann sagte er mit einer Stimme, wobei jedes Wort besonders geformt wurde: »Kapitän Gardiner, ich mache es nicht. Gerade jetzt kann ich keine Zeit verlieren. Adjö, adjö! Gott möge dir helfen, Mann, und möge ich mir selbst vergeben. Aber ich muß gehen. Mister Starbuck, sieh nach der Kompaßuhr und sage in drei Minuten allen Fremden ab! Laß dann vorwärtsbrassen und das Schiff segeln wie vorher.«

Dann wandte er sich mit abgekehrtem Gesicht in aller Eile um und stieg in seine Kabine hinunter und kümmerte sich nicht darum, daß ihn der fremde Kapitän wegen dieses bedingungslosen und schroffen Abschlagens einer so ernsten Bitte anstarrte. Aber Gardiner überwand seine verzweifelte Stimmung und stürzte gefaßt zur Seite. Dann fiel er mehr in das Boot, als daß er hineintrat, und kehrte nach seinem Schiff zurück.

Bald kamen die beiden Schiffe aus ihrem gegenwärtigen Kielwasser heraus. Und solange man das fremde Schiff erblicken konnte, sah man es hier und da an jedem dunklen Fleck, wenn er auch noch so klein war, auf der See herumsuchen. Mal wurden die Rahen nach der Steuerbordseite, mal nach der Backbordseite herumgedreht. Mal kämpfte das Schiff gegen einen Wellenberg, mal wurde es von der See weitergeschleudert. Und indessen saßen auf den Masten und Rahen, dicht gedrängt, Menschen wie auf drei hohen Kirschbäumen, wenn die Jungen am Kirschenpflücken sind und sich bis zu den Zweigen hinauswagen.

Aber da es immer noch von Zeit zu Zeit stoppte und beidrehte, konnte man daraus schließen, daß das Schiff, das vom Meeresschaum wie von Tränen gebadet war, immer noch keine Ruhe gefunden hatte.

Es war wie Rahel, die um ihre Kinder weinte, weil sie fehlten.


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