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Zwölftes Kapitel

Mehrere Tage, seitdem wir Nantucket verlassen hatten, ließ sich Kapitän Ahab an Bord nicht sehen. Die Maate lösten sich gegenseitig in der Wache ab, und allem Anschein nach waren sie allein die Herren des Schiffes. Nur wenn sie manchmal mit Befehlen, die plötzlich und mit Entschiedenheit gegeben waren, aus der Kabine herauskamen, war es klar, daß sie nur als Stellvertreter ihre Befehle gaben. Der höchste Herr und Diktator war dort unten, obwohl ihn bisher nur die zu sehen gekriegt hatten, die die Erlaubnis bekommen hatten, in den geweihten Ort der Kajüte einzudringen.

Jedesmal, wenn ich von der Wache unten auf Deck kam, sah ich nach dem Achterdeck, ob nicht ein neues Gesicht zu sehen war. Auf der abgeschlossenen See wurde meine anfängliche Besorgnis über den unbekannten Kapitän fast zum Entsetzen. Dieser Eindruck wurde seltsamerweise verstärkt durch die teuflischen Bemerkungen des zerlumpten Elias. Es war merkwürdig, daß die Erinnerungen manchmal so unaufgefordert auf mich einstürmten und mit einer Macht, der ich mir vorher nicht bewußt geworden war. Mochte es nun Angst oder Unbehaglichkeit sein, jedesmal wenn ich mich auf dem Schiffe umsah, so hatte ich eigentlich keinen Grund, solchen Befürchtungen Raum zu geben. Die Harpuniere, wie die übrige Schiffsmannschaft, waren ja ein barbarischer, heidnischer und kunterbunter Menschenhaufen, wie man ihm auf einem harmlosen Kauffahrteischiff nicht begegnet. Aber der Anblick der drei Offiziere des Schiffes, der Maate, konnte solche sinnlose Befürchtungen nur verdrängen und einen mit Vertrauen und Heiterkeit erfüllen.

Drei gute und in ihrer Art so verschiedene Seeoffiziere und Menschen hätte man so leicht nicht finden können. Jeder von ihnen war ein Amerikaner, einer von Nantucket, einer von Vineyard und einer vom Kap. Zu Weihnachten war das Schiff aus dem Hafen hinausgeschossen. Wir hatten beißend kaltes Polarwetter, wenn wir auch die ganze Zeit nach Süden steuerten und mit jedem Breitengrade und jedem Längengrade den erbarmungslosen Winter und das scheußliche Wetter hinter uns ließen. Wir hatten die grauen und immerhin noch düsteren Morgen des Übergangsklimas. Das Schiff hatte günstigen Wind und wurde mit hüpfender und melancholischer Geschwindigkeit durch das Wasser getrieben. Als ich, durch den Wachruf aufgefordert, auf Deck stieg, um die Vormittagswache zu übernehmen und über das Heckbord sah, wurde ich von einem ahnungsvollen Schauder ergriffen. Die Wirklichkeit war schneller als die Besorgnis: der Kapitän Ahab stand mit einemmal auf dem Achterdeck!

Von einer Krankheit oder von einer Genesung sah man ihm nicht die Spur an. Er sah aus, wie ein Mann, den man noch vom Pfahl abgeschnitten hat, wenn das Feuer schon über alle Glieder gelaufen ist, ohne ihm etwas anhaben zu können. Seine hohe und breite Gestalt schien wie aus Bronze gegossen und der unzerstörbaren Plastik von Cellinis gegossenem »Perseus« nicht unähnlich zu sein. Von den grauen Haaren ging eine Narbe über Gesicht und Nacken, bis sie in seinem Gewand verschwand. Es war wie bei einem hohen Baumstamm, wenn der Blitz von oben hinunterschießt und ohne einen Zweig oder einen Ast zu verletzen, die Rinde von der Spitze bis zum Boden hinuntergeht und kurz zuvor noch eine Spur hinterläßt, wenn auch der übrige Baum mit seiner grünen Rinde am Leben bleibt. Man konnte nicht sagen, ob die Narbe ihm angeboren war oder ob sie von einer gefährlichen Wunde herrührte. Aber ein alter Indianer aus Gay Head erzählte, daß Ahab die Narbe nicht vor seinem vierzigsten Jahre bekommen hätte. Sie käme nicht von einer gefährlichen Schlägerei, sondern von einem Kampf auf hoher See.

Ahab machte einen gewaltigen Eindruck auf mich. Die große Narbe und dann auch das weiße Bein, auf dem er stand, erhöhten diesen Eindruck nicht wenig. Ich hatte kurz vorher gehört, daß das künstliche Bein aus dem Kieferknochen eines Pottwals gemacht wäre.

»Er hat auf der Höhe von Japan seinen einen Mast verloren«, sagte der alte Indianer von Gay Head einmal. Wie sein Schiff, das auch den Mast verloren hatte, hat er auch einen anderen Mast angemustert, ohne erst nach Hause zu kommen. Er spricht nur ungern davon.

Seine merkwürdige Stellung fiel mir auf. Auf jeder Seite des Achterdecks und dicht an den Bagientauen war ein Loch von einem halben Zoll Weite in die Schiffsplanke eingebohrt. Mit dem künstlichen Bein stand er in dem Loch, streckte einen Arm hoch und hielt sich an einem Haken fest. Er stand aufrecht da und sah über den auf- und abwogenden Bug in die Ferne. Aus seinem Blick sprach eine unerschrockene Tapferkeit und ein fester Wille, der sich durch nichts beugen ließ. Er sprach kein Wort. Auch sagten die Offiziere kein Wort zu ihm, wenn auch in ihren kleinsten Bewegungen und in den Falten ihres Gesichts das peinliche Gefühl zum Ausdruck kam, daß das unruhige Auge des Herrn auf ihnen ruhte. Der schwermütige Ahab stand mit der namenlosen Würde eines unsäglichen Wehs, das mit königlicher Haltung ertragen wurde.

Bald darauf zog er sich nach seinem ersten Besuch in der freien Luft wieder in die Schiffskabine zurück. Aber nach diesem Morgen zeigte er sich jeden Tag der Mannschaft. Er stand entweder an der bestimmten Stelle oder saß auf seinem Schemel aus Walfischbein. Manchmal ging er auch mit seinem schweren Schritt auf dem Deck herum. Als der Himmel sich aufklärte und weniger schwermütig aussah, wurde er mehr und mehr ein Einsiedler, als ob der bleiche Schein des Winters ihn auf der See abgesondert hätte. Und so geschah es nach und nach, daß er fast immer draußen war. Aber was er sagte oder was er auf Deck tat, auf dem schließlich die Sonne leuchtete, schien keinen besonderen Sinn zu haben. Der »Pequod« machte jetzt nur eine Überfahrt, er war noch nicht auf einer richtigen Kreuzerfahrt. Den Maaten waren fast alle Vorbereitungen zur Walfischjagd überlassen. Für den Kapitän Ahab war also nichts zu tun, auch brauchte er nichts zu befehlen. So hingen denn die Wolken auf der Stirn des Kapitäns, Schicht auf Schicht, so wie sich die Wolken immer den höchsten Gipfel aussuchen.

Trotzdem schien das eindrucksvolle, warme, heitere Ferienwetter, in das wir kamen, ihn allmählich aus seiner Schwermut aufzurütteln. Wenn der April und der Mai wie zwei rotbäckige, tanzende Mädchen in die winterlichen, griesgrämigen Wälder kommen, so wird auch schließlich die alte, rauhe, von Blitzen heimgesuchte Eiche einige grüne Sprößlinge treiben, um den lustigen Besuch willkommen zu heißen. So reagierte auch Ahab schließlich ein wenig auf das lustige Treiben der jungfräulichen Lüfte. Mehr als einmal leuchtete sein Blick auf, und bei einem anderen würde auf demselben Gesicht ein Lächeln sichtbar geworden sein.


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