Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die letzte Gruppe von Arbeitern kommt vom Berg herunter, der Betrieb hat völlig aufgehört, jetzt liegt der Berg wieder verödet da.
Auch der gemauerte Stall auf Sellanraa ist nun fertig. Er hat ein Notdach aus Rasenstücken für den Winter bekommen. Der große Raum ist in einzelne kleinere Räume eingeteilt, helle Räume, ein gewaltig großer Salon in der Mitte und große Kabinette an den beiden Enden, ja, es ist gerade wie für Menschen. Isak hat einmal hier auf dem Platz mit einigen Geißen zusammen in einer Gamme gewohnt; jetzt ist auf Sellanraa keine Gamme mehr zu finden.
Der Stall wird mit Abteilungen, mit Ständen und Holzverschlägen eingerichtet. Damit das alles rasch fertig wird, sind die beiden Maurer immer noch da, aber Gustaf sagt, er verstehe nichts von der Holzarbeit, und will nun weiter. Gustaf hat sich bei der Maurerarbeit als sehr brauchbar erwiesen und hat Lasten gehoben wie ein Bär. Abends war er allen zur Freude und Aufmunterung gewesen; er hatte die Mundharmonika gespielt und hatte außerdem den Frauen geholfen, schwere Kufen hinunter an den Fluß und wieder heraufzutragen. Aber jetzt will er abreisen. Nein, die Holzarbeit verstehe er nicht, sagt er. Es ist gerade, als ob er durchaus fortwolle.
Du könntest wohl noch bis morgen bleiben, sagt Inger. – Nein, es gebe jetzt hier keine Arbeit mehr für ihn, und er habe auch in den letzten Grubenarbeitern Begleitung übers Gebirge. – Wer wird mir jetzt beim Wasserholen helfen? sagt Inger und lächelt wehmütig dabei. – Da weiß der flinke Gustaf sofort einen guten Rat; er nennt Hjalmar. – Hjalmar war der jüngste von den beiden Maurern, aber keiner von beiden war so jung wie Gustaf oder sonst im mindesten wie er. – Ach was, der Hjalmar! erwidert Inger verächtlich. Aber plötzlich faßt sie sich und will Gustaf reizen und sagt: Jawohl, der Hjalmar ist gar nicht so übel. Und draußen auf dem Felsblock singt er schön. – Ein Tausendsassa! sagt Gustaf, ohne sich reizen zu lassen. – Aber er könne doch die Nacht über noch bleiben, meint Inger. – Nein, dann ginge er der Begleitung verlustig.
O, nun war Gustaf der Sache überdrüssig geworden. Es war ja prächtig gewesen, sie den Kameraden vor der Nase wegzuschnappen und sie die paar Wochen über, die er da arbeitete, zu haben. Aber nun wollte er weiter, an andere Arbeit, vielleicht zu einer Liebsten daheim, das waren neue Aussichten. Sollte er sich Ingers wegen hier ohne Arbeit herumtreiben? Er hatte so gute Gründe, ein Ende zu machen, daß es Inger doch wohl einsehen mußte. Aber sie war so keck geworden, dachte an keine Verantwortung mehr und kümmerte sich um nichts. Sehr lange war es allerdings nicht so zwischen den beiden gewesen, aber doch so lange, als die Maurerarbeit währte.
Inger ist wirklich traurig, ja, sie geht in ihrer verirrten Treue so weit, daß sie sich grämt. Das ist nicht gut für sie, sie ist ohne Getue, einfach offen und ehrlich verliebt. Nein, sie schämt sich dessen nicht, sie ist ein kraftstrotzendes Weib voller Schwachheit, sie geht nur mit der Natur um sie her, sie ist voller Herbstglut. Während sie etwas Mundvorrat für Gustaf zusammenpackt, wogt ihr der Busen vor heftigen Gefühlen. Sie denkt nicht darüber nach, ob sie ein Recht dazu hat, oder ob Gefahr dabei sein könnte, sie gibt sich einfach hin, sie ist gierig geworden, zu schmecken, zu genießen. Isak könnte sie noch einmal bis an die Decke heben und sie dann wieder auf den Boden stoßen, – jawohl, sie enthielte sich dennoch nicht.
Nun geht sie mit ihrem Mundvorrat hinaus und gibt ihn ab. Sie hatte neben der Treppe eine Kufe zurechtgestellt, die ihr Gustaf zum letztenmal an den Fluß hinuntertragen helfen sollte. Vielleicht wollte sie ihm noch etwas sagen, vielleicht ihm etwas zustecken, den goldenen Ring, Gott weiß, es ist ihr alles zuzutrauen. Aber das muß jetzt ein Ende haben, Gustaf dankt für den Mundvorrat, sagt Lebewohl und geht. Und geht.
Da steht sie.
Hjalmar! ruft sie laut, ganz unnötig laut. Es klingt wie ein trotziger Jubelruf, wie ein Notschrei.
Gustaf geht ...
Den Herbst über wird nun in der ganzen Gegend bis zum Dorf hinunter die gewöhnliche Arbeit getan; die Kartoffeln werden herausgehackt, das Korn hereingeschafft, die Kühe werden auf die Weide gelassen. Es sind acht Ansiedlungen, und überall drängt die Arbeit; aber auf dem Handelsplatz Storborg haben sie kein Vieh und kein bestelltes Land, sie haben nur einen Garten, und Handel haben sie auch keinen mehr, auf Storborg gibt's keine dringende Arbeit.
Auf Sellanraa haben sie eine neue Hackfrucht, die Turnips heißt, die steht grün und riesengroß da und weht mit den Blättern, und es ist ganz unmöglich, die Kühe davon fernzuhalten, diese brechen alle Gatter nieder und stürmen brüllend darauf zu. Darum müssen nun Leopoldine und die kleine Rebekka das Turnipsfeld hüten, die kleine Rebekka hat eine große Rute in der Hand und jagt die Kühe mit wütendem Eifer. Der Vater arbeitet in der Nähe, und von Zeit zu Zeit kommt er her, befühlt ihre Hände und Füße und fragt, ob sie nicht friere. Leopoldine, die groß und beinahe erwachsen ist, strickt beim Hüten Strümpfe und Socken für den Winter. Sie ist in Drontheim geboren und war fünf Jahre alt, als sie nach Sellanraa kam, die Erinnerung an eine große Stadt mit vielen Menschen und an eine weite Reise auf dem Dampfschiff gleitet bei ihr immer mehr in den Hintergrund, sie ist ein Landkind und kennt keine andere große Welt als das Dorf dort unten, wo sie einige Male in der Kirche gewesen und wo sie letztes Jahr konfirmiert worden ist ...
Jetzt kommen einige Nebenarbeiten an die Reihe, so der Weg abwärts, der an einigen Stellen kaum fahrbar ist. Da die Erde noch nicht gefroren ist, fangen Isak und Sivert eines schönen Tages an, an dem Wege Gräben zu ziehen. Es sind noch zwei Stücke Moorland da, die entwässert werden müssen.
Axel Ström hat versprochen, sich an dieser Arbeit zu beteiligen, weil auch er ein Pferd hat und den Weg braucht. Aber nun hat Axel ein dringendes Geschäft in der Stadt – was in aller Welt wollte er denn dort –, aber es sei eine ganz dringende Sache, sagte er. Statt seiner schickt er seinen Bruder von Breidablick zu dem Wegbau. Fredrik heißt er.
Dieser Mann war jung und neu verheiratet, ein leichtlebiger Kunde, der gerne sein Späßchen macht und trotzdem brauchbar ist. Er und Sivert sind einander recht ähnlich. Nun war Fredrik, als er morgens heraufkam, bei seinem nächsten Nachbarn Aronsen auf Storborg gewesen und noch ganz erfüllt von dem, was ihm der Kaufmann gesagt hatte. Es hatte damit angefangen, daß Fredrik eine Rolle Tabak verlangte. Ich werde dir eine Rolle Tabak verehren, wenn ich selbst eine habe, sagte Aronsen. – So, habt Ihr nicht einmal mehr Tabak? – Nein, und ich lasse auch keinen mehr kommen, es ist ja niemand mehr da, der ihn kauft. Was meinst du denn, daß ich an einer Rolle Tabak verdiene? Aronsen war in recht schlechter Laune gewesen, er war der Ansicht, die schwedische Grubengesellschaft habe ihn an der Nase herumgeführt. Nun hatte er sich hier in der Einöde niedergelassen, um Handel zu treiben, und da wurde der Grubenbetrieb eingestellt!
Fredrik lächelt behaglich über Aronsen und spottet über ihn: Nein, er hat gar kein Land bestellt und hat nicht einmal Futter für sein Vieh, das kauft er! Er ist bei mir gewesen und wollte Heu kaufen. Nein, ich hatte kein Heu zu verkaufen. So, du brauchst also kein Geld? fragte er, der Aronsen. Er meint, es sei alles, wenn man nur Geld habe, warf einen Hundertkronenschein auf den Tisch und sagte: Da ist Geld.– Ja, Geld ist etwas Schönes, sagte ich. – Das ist bom konstant, sagte er. Es ist gerade, als sei er ab und zu ein bißchen närrisch, und seine Frau läuft am hellen Werktag mit einer Taschenuhr herum, – was das nun für eine wichtige Stunde sein mag, die sie nicht vergessen darf.
Sivert fragt: Hat der Aronsen nichts von einem Mann gesagt, der Geißler heißt? – Doch, das sei einer, der seinen Berganteil nicht verkaufen wolle, sagte er. Aronsen war rasend: Ein abgesetzter Lensmann, sagte er, der vielleicht keine fünf Kronen im Beutel hat, er sollte totgeschossen werden! – Ihr müßt nur ein wenig warten, sagte ich. Vielleicht verkauft er später. – Nein, sagte der Aronsen, das darfst du nicht glauben. Das begreife ich als Kaufmann ganz gut, wenn die eine Partei zweihundertfünfzigtausend verlangt und die andere fünfundzwanzigtausend bietet, dann steht zu viel zwischen ihnen, das gibt kein Geschäft. Aber Glück zu! sagte der Aronsen, wenn nur ich mit den Meinigen den Fuß niemals in dieses Loch gesetzt hätte. – Ja, denkt Ihr vielleicht daran, zu verkaufen? fragte ich. – Ja, sagte er, genau an das denke ich. Diese Moorsümpfe, dieses Loch und diese Einöde! Ich nehme ja keine Krone mehr am Tag ein, sagte er.
Die Männer lachten über Aronsen und hatten keinerlei Mitleid mit ihm. Glaubst du, daß er wirklich verkauft? fragte Isak. – Ja, er tat so. Und er hat auch schon den Knecht entlassen. Ja, der Aronsen ist ein komischer Kerl, das ist gewißlich wahr. Den Knecht entläßt er, der das Holz für den Winter schlagen und mit seinem eigenen Pferd Heu einführen könnte, aber den Ladendiener behält er. Es ist wohl wahr, er verkauft nicht für eine Krone am Tag, denn er hat keine Waren mehr in seinem Laden, aber wozu braucht er dann den Ladendiener? Ich glaube, es ist nur Hochmut, Großtuerei. Er muß einen Mann haben, der am Pult steht und in große Bücher schreibt. Hahaha, ja, es ist gerade, als ob der Aronsen ein ganz klein wenig verrückt wäre.
Die drei Männer arbeiten bis zur Mittagsstunde, verzehren dann ihr mitgebrachtes Essen und plaudern noch ein Weilchen. Sie haben ihre eigenen Angelegenheiten zu bereden, das Wohl und Wehe der Gegend und der Ansiedler, das sind keine Kleinigkeiten, aber sie behandeln sie mit Gelassenheit, sie sind gesetzte Männer, ihre Nerven sind unverbraucht und tun nicht, was sie nicht tun sollten. Nun kommt das Spätjahr, rundum im Wald ist es still geworden, die Berge stehen hier und die Sonne steht dort, am Abend kommen die Sterne und der Mond, das sind alles feste Verhältnisse, sie sind voller Freundlichkeit, wie eine Umarmung. Hier haben die Menschen noch Zeit, sich im Heidekraut auszuruhen, mit dem einen Arm als Kopfkissen.
Fredrik spricht von Breidablick und daß er dort noch nicht viel habe ausrichten können. Doch, sagte Isak, du hast schon viel getan, das hab ich gesehen, als ich drunten war. – Dieses Lob von dem ältesten Ansiedler in der Gegend, dem Riesen, tut Fredrik augenscheinlich wohl, er fragt ehrlich: Meint Ihr wirklich? Nein, es muß immer noch besser kommen. Ich bin in diesem Jahr sooft abgehalten worden. Das Wohnhaus mußte hergerichtet werden, es war nicht dicht und wurde immer schlimmer, und den Heuschuppen mußte ich einreißen und neu aufstellen. Die Stallgamme war zu klein, ich habe Kühe und Kälber, was der Brede zu seiner Zeit nicht gehabt hat, sagt Fredrik stolz. – Gefällt es dir hier? fragt Isak. – Ja, mir gefällt es, und meiner Frau gefällt es auch, warum sollte es uns nicht gefallen? Wir haben einen weiten Blick und sehen die Straße hinauf und hinunter. Das kleine Gehölz beim Hause ist nach unserer Meinung sehr hübsch, es sind Birken und Weiden darin, und wenn ich Zeit habe, will ich auf der andern Seite des Hofplatzes noch mehr Bäume pflanzen. Es ist großartig, wie trocken das Moor schon geworden ist, seit ich im Frühjahr Gräben gezogen habe. Nun wollen wir sehen, was heuer darauf wächst! Ob es uns gefällt? O ja, wenn doch meine Frau und ich Haus und Hof und Grund und Boden haben! – Na, wollt ihr immer nur zu zweit bleiben? fragt Sivert listig. – Nein, weißt du, es kann wohl sein, daß wir mehr werden, erwidert Fredrik munter. Und wenn wir schon davon reden, ob es uns hier gefällt, so habe ich meine Frau noch nie so gedeihlich gesehen wie jetzt.
Sie arbeiten bis zum Abend. Zuweilen richten sie sich auf und schwatzen miteinander. Du hast also keinen Tabak bekommen? fragt Sivert. – Nein, und das tat mir auch nicht leid. Ich rauche nicht, erwidert Fredrik. – Du rauchst nicht? – Nein. Ich bin zu dem Aronsen nur hingegangen, um zu hören, was er sagt. Da lachten die beiden Spitzbuben und freuten sich diebisch.
Auf dem Heimweg sind Vater und Sohn schweigsam wie gewöhnlich. Aber Isak muß sich etwas ausgedacht haben, denn er sagt: Du, Sivert? – Ja? erwidert Sivert. – Ach, nichts Besonderes, sagt Isak. – Sie gehen eine lange Strecke weiter, dann spricht der Vater wieder: Kann denn Aronsen Handel treiben, wenn er keine Waren mehr hat? – Nein, sagt Sivert. Aber es sind jetzt nicht mehr viele Menschen da, für die er Waren braucht. – So meinst du? Ja, du kannst recht haben. – Sivert wundert sich ein wenig über diese Worte seines Vaters, und dieser fährt fort: Es sind jetzt allerdings nur acht Ansiedlungen hier, aber es können mehr und immer mehr werden. Wer weiß! – Sivert wundert sich noch mehr, woran denkt denn sein Vater? O, an nichts? Wieder gehen die beiden eine lange Strecke weiter und sind beinahe zu Hause. Da fragt der Alte: Hm. Was meinst du wohl, daß der Aronsen für den Hof haben will? – Ja, das kommt nun darauf an! antwortet Sivert. Willst du ihn kaufen? sagt er im Spaß. Aber plötzlich geht ihm ein Licht auf, wo sein Vater hinaus will: An Eleseus denkt der Alte. Oho, er hat ihn wohl nie vergessen gehabt, er hat ebenso getreulich an ihn gedacht wie die Mutter, nur auf seine eigene Weise, näher bei der Erde und auch näher bei Sellanraa. Da sagt Sivert: Der Preis wird wohl erschwinglich sein. Und als Sivert so viel gesagt hat, da merkt der Vater seinerseits, daß er verstanden worden ist, und wie wenn er Angst hätte, zu deutlich geworden zu sein, sagt er nun schnell ein paar Worte über den Wegbau und daß es gut sei, den hinter sich zu haben.
In den nächsten Tagen steckten Sivert und seine Mutter die Köpfe zusammen, sie ratschlagten und hatten viel zu flüstern, auch schrieben sie einen Brief, und als der Samstag kam, bezeigte Sivert Lust, ins Dorf zu gehen. – Was willst du denn schon wieder im Dorfe, du läufst nur unnötig deine Schuhe durch? fragte der Vater sehr ärgerlich, o viel grimmiger im Gesicht, als natürlich gewesen wäre, er merkte wohl, daß Sivert auf die Post wollte. – Ich will in die Kirche, sagte Sivert. – Einen besseren Grund fand er nicht, und der Vater sagte: Ja, wenn es nicht anders sein kann.
Aber wenn Sivert schon einmal in die Kirche wollte, dann konnte er auch einspannen und die kleine Rebekka mitnehmen. Der kleinen Rebekka konnte man doch wirklich zum erstenmal in ihrem Leben dieses Vergnügen machen, sie hatte ja so eifrig das Turnipsfeld gehütet und war im großen ganzen die Blüte und die Perle von allen auf dem Hofe; ja, das war sie. Es wurde also angespannt, und Rebekka bekam die Magd Jensine zur Begleitung mit, – wogegen Sivert nichts einzuwenden hatte.
Während sie fort sind, geschieht es, daß der Ladendiener von Storborg daherkommt. Was nun? Ei, nichts Besonderes, nur daß ein Ladendiener, ein Mann namens Andresen daherkommt; er soll in die Berge hinauf, sein Herr schickt ihn. Weiter ist es nichts. Und dieses Geschehnis bringt auch keine große Aufregung auf Sellanraa hervor, es ist nicht wie in alten Tagen, wo ein Fremder ein seltener Anblick auf der Ansiedlung war und Inger sich mehr oder minder darüber aufregte. Nein, Inger ist wieder in sich gegangen und ist still und ruhig.
Ein merkwürdiges Ding, dieses Andachtsbuch, ein Führer, ja ein Arm um den Hals! Als Inger sich selbst verloren hatte und in den Beeren irre gegangen war, fand sie sich wieder beim Gedanken an ihre Kammer und an das Andachtsbuch, und zurzeit war sie wieder in sich versunken und gottesfürchtig. Sie gedenkt der längst verflossenen Jahre, als sie, wenn sie nähte und sich in den Finger stach, der Teufel auch! sagte. Das lernte sie von ihren Mitschwestern an dem großen Tisch in der Nähstube. Jetzt sticht sie sich mit der Nadel, daß es blutet, und saugt schweigsam das Blut aus. Es gehört nicht wenig Überwindung zu solcher Umkehr! Aber Inger ging noch weiter. Als der steinerne Stall fertiggebaut war und alle Arbeiter sich entfernt hatten und ganz Sellanraa wieder einsam und verlassen dalag, da hatte Inger eine Krisis und weinte viel und litt schwere Not. Sie bürdete niemand als sich selbst die Schuld dafür auf, und sie war tief demütig. Wenn sie nur mit Isak hätte reden und sich das Herz erleichtern können; aber auf Sellanraa sprach niemand von seinen Gefühlen und niemand bekannte seine Fehler. So holte sie ihren Mann sehr fürsorglich zu den Mahlzeiten herein; sie ging dazu bis zu ihm hin und forderte ihn auf, statt nur unter der Haustüre zu rufen, und abends sah sie seine Kleider durch und nähte die Knöpfe an. Ja, Inger ging sogar noch weiter. Eines Nachts stützte sie sich auf den Ellbogen und sagte: Du, Isak. – Was gibt's? fragt Isak. – So, wachst du? – Ja. – Ach, nichts Besonderes, sagt Inger. Aber ich bin nicht gewesen, wie ich hätte sein sollen. – Was? fragt Isak. Das entfuhr ihm und auch er richtete sich auf den Ellbogen auf. Dann redeten sie weiter miteinander, sie ist nun eben doch eine prächtige Frau und hat das Herz voll. Ich bin nicht so gegen dich gewesen, wie ich hätte sein sollen, sagt sie. Das tut mir sehr leid. – Diese einfachen Worte rühren ihn, sie rühren den Mühlengeist, und er will Inge gerne trösten; er versteht zwar nichts von der Sache, versteht nur soviel, daß es keine mehr gibt wie sie. – Deshalb brauchst du nicht zu weinen, sagt Isak. Wir sind alle nicht, wie wir sein sollten. – Ach nein, sagt sie dankbar. O, Isak hatte eine so gesunde Art, die Dinge zu behandeln, er richtete sie wieder auf, wenn sie Umfallen wollten. Wer ist, wie er sein sollte! Er hatte recht; der Gott des Herzens selbst, der doch ein Gott ist, geht auf Abenteuer aus, und wir können es ihm ansehen, dem Wildfang: an einem Tag taucht er in einen Rosenreichtum unter und wiegt sich wohlig darin und leckt sich die Lippen, am anderen Tag hat er sich einen Dorn in den Fuß getreten und zieht ihn mit verzweifeltem Gesicht heraus. Stirbt er daran? O keine Spur. Er ist so gesund wie vorher. Das wäre was Schönes, wenn er daran stürbe!
Auch mit Inger kam das alles wieder in die Reihe, sie überwindet es, aber sie bleibt bei ihren Andachtstunden und findet ihren Trost darin. Inger ist jeden Tag fleißig und geduldig und herzensgut, sie schätzt Isak vor allen Männern und wünscht sich keinen andern als ihn. Natürlich ist er dem äußeren Anschein nach kein Tausendsasa und Sänger, aber er ist schon recht, hoho, das wollte sie meinen! Und es bewahrheitete sich wieder, daß es ein großer Gewinn ist, gottesfürchtig und genügsam zu sein.
Und nun kam also dieser kleine Ladenjüngling von Storborg, dieser Andresen, er kam Sonntags nach Sellanraa, und Inger wurde darüber nicht erregt, durchaus nicht, sie wollte nicht einmal selbst mit einem Topf Milch zu ihm hineingehen, und da die Magd nicht zu Hause war, schickte sie Leopoldine mit der Milch. Und Leopoldine trug ja auch den Topf Milch recht nett hinein und sagte Bitte! und wurde rot, obgleich sie doch ihre Sonntagskleider trug und keinen Grund hatte sich zu schämen. – Danke, das ist allzu viel, sagte Andresen. Ist dein Vater zu Hause? fragte er. – Jawohl, er ist draußen irgendwo. – Andresen trank, wischte sich den Mund mit dem Taschentuch ab und sah nach der Uhr. Ist es weit bis zu den Gruben? fragte er. – Nein, es ist kaum eine Stunde. – Ich soll hinauf und sie mir für Aronsen, bei dem ich angestellt bin, ansehen. – So. – Ja, du kennst mich doch. Ich bin der Ladendiener bei Aronsen; du bist schon bei uns gewesen und hast eingekauft. – Ja. – Ich erinnere mich deiner ganz gut, du hast zweimal bei uns eingekauft. – Das ist mehr, als ich erwarten konnte, daß Ihr Euch meiner erinnert, sagte Leopoldine, dann aber waren ihre Kräfte erschöpft und sie hielt sich an einem Stuhl fest. Andresen jedoch hatte noch Kräfte übrig, er fuhr fort: Warum sollte ich mich nicht mehr an dich erinnern? Und weiter fragte er: Kannst du nicht mit mir zu den Gruben hinaufgehen?
Allmählich wurde es Leopoldine ganz rot und sonderbar vor den Augen, der Fußboden schwankte unter ihr, und der Ladendiener Andresen sprach wie aus weiter Ferne: Hast du keine Zeit? – Nein, sagte sie. Gott weiß, wie sie wieder hinauskam in die Küche. Die Mutter sah sie an und fragte: Was fehlt dir denn? – Nichts.
Nichts, o nein! Aber seht, jetzt war Leopoldine an der Reihe, erregt zu werden, nun begann der Kreislauf bei ihr. Sie war ganz geeignet dazu, rund und hübsch und neukonfirmiert, sie gab ein schönes Opfer. Ein Vogel zwitschert in ihrer Brust, ihre langen Hände sind wie die ihrer Mutter voller Zärtlichkeit, voller Weiblichkeit. Konnte sie nicht tanzen? O doch. Es war ein Wunder, wo sie es lernten, aber sie lernten tanzen, auch auf Sellanraa, Sivert konnte es. Leopoldine konnte es, es war ein Tanz, im Ödland entstanden, ein bodenständiges Drehen und Wenden mit vielen Kräften, Schottisch, Mazurka, Rheinländer und Walzer. Und warum sollte Leopoldine nicht auch sich putzen und verliebt sein und mit offenen Augen träumen? Genau wie andere! Als sie konfirmiert wurde, lieh ihr die Mutter ihren goldenen Ring, es war kein sündiger Gedanke dabei, es war nur hübsch, und am nächsten Tag, als sie zum Abendmahl ging, steckte sie übrigens den Ring erst an, als alles überstanden war. Sie konnte wohl mit einem goldenen Ring am Finger vor dem Altar stehen, sie war die Tochter eines mächtigen Mannes, des Markgrafen.
Als der Ladendiener Andresen wieder vom Berg herunterkam, traf er Isak an und wurde ins Haus geladen. Er bekam Mittagessen und Kaffee. Alle Hausbewohner waren jetzt in der Stube versammelt und nahmen teil an der Unterhaltung. Der Ladendiener erklärte, Aronsen habe ihn hinaufgeschickt, er solle einmal untersuchen, wie es mit den Gruben stehe, ob Anzeichen zu sehen seien, daß der Betrieb und die Arbeit wieder ausgenommen werden würden. Gott weiß, der Ladendiener schwindelte vielleicht gewaltig, wenn er sagte, er sei geschickt worden, vielleicht hatte er den Gang auf eigene Rechnung gemacht, und jedenfalls konnte er in der kurzen Zeit, die er weggewesen war, nicht bis an die Gruben hinaufgekommen sein. – So von außen kann man nicht sehen, ob die Gesellschaft wieder anfangen will, sagte Isak. – Nein, das räumte der Ladendiener ein, aber Aronsen habe ihn nun einmal heraufgeschickt, und es sei ja auch wahr, vier Augen sähen mehr als zwei.
Aber nun konnte sich Inger nicht mehr halten, sie fragte: Ist es wahr, was die Leute sagen, daß der Aronsen verkaufen will? – Der Ladendiener antwortete: Er spricht davon. Und ein Mann, wie er, kann tun, was er will, er hat das Geld zu allem. – Na, hat er wirklich soviel Geld? – Ja, erwidert der Ladendiener und nickt, daran fehlt es nicht. – Wieder kann Inger nicht schweigen, sie fragt: Was will er wohl für das Gut? – Doch jetzt greift Isak ein, er ist vielleicht noch neugieriger als Inger, aber der Gedanke, Storborg zu kaufen, soll nun einmal durchaus nicht von ihm herrühren, und so tut er, als ob ihn das gar nichts anginge. Er sagt: Weshalb fragst du denn, Inger? – Ach, ich frage nur so, erwidert sie. – Beide sehen gespannt den Ladendiener an und warten. Endlich rückt er mit der Antwort heraus.
Er spricht sehr zurückhaltend, von dem Preis weiß er nichts, aber er weiß, was Aronsen selbst gesagt hat, daß Storborg ihn gekostet habe. – Und wieviel ist das? fragt Inger, denn sie vermag nicht zu schweigen und den Mund zu halten. – Sechzehnhundert Kronen, erwidert der Ladendiener. – Ach so! Inger schlägt sofort die Hände zusammen, denn wenn die Weiberleute etwas nicht haben, so ist es, in Beziehung auf Güterpreise, Witz und Verstand. Aber sechzehnhundert Kronen sind nun einmal keine kleine Summe hier im Ödland, und Inger hat nur eine Angst, daß sich nämlich Isak dadurch abschrecken lassen könnte. Aber Isak ist unerschütterlich wie ein Fels und sagt nur: Das machen die großen Häuser. – Ja, sagt auch der Ladendiener Andresen, das machen die gewaltig großen Häuser.
Kurz ehe der Ladendiener geht, hat sich Leopoldine zur Tür hinausgedrückt. Es ist höchst sonderbar, aber es kommt ihr ganz unmöglich vor, ihm die Hand zu geben. Sie hat indes einen guten Platz gefunden, sie steht in dem neuen Stall und schaut zu einem der Fenster hinaus. Sie trägt ein blauseidenes Band um den Hals, das hatte sie vorher nicht gehabt, und das merkwürdige ist, daß sie Zeit gefunden hat, es umzubinden. Da geht er vorbei, er ist etwas klein und rund, mit flinken Beinen, hat einen blonden Vollbart und ist acht bis zehn Jahre älter als sie. Er ist ganz nett, sollte sie meinen.
Spät in der Nacht zwischen Sonntag und Montag kamen die Kirchgänger wieder zurück. Alles war gut gegangen, die kleine Rebekka hatte auf der Heimfahrt während der letzten Stunden geschlafen, und sie wurde auch schlafend aus dem Wagen gehoben und ins Haus getragen. Sivert hat viel Neues erfahren, aber als die Mutter fragt: Was gibt's denn Neues? sagt er nur: O, nichts Besonderes. Der Axel hat eine Mähmaschine und einen Reolpflug. – Was du sagst? ruft der Vater mit großem Interesse. Hast du sie gesehen? – Ja, ich habe sie gesehen, sie standen am Landungsplatz. – So, deshalb ist er also in der Stadt gewesen! sagt der Vater. Und Sivert sitzt dick geschwollen von besserem Wissen da, sagt aber kein Wort mehr.
Mochte der Vater glauben, Axel sei in die Stadt gefahren, um eine Mähmaschine und einen Reolpflug zu kaufen; auch die Mutter sollte das nur glauben. Ach, aber keines der beiden Eltern glaubte das wirklich, sie hatten auch munkeln hören, daß das mit einem neuen Kindsmord in der Gegend zusammenhing. – Geh du jetzt nur zu Bett! sagt der Vater schließlich.
Sivert, dick geschwollen von Wissen, geht und legt sich zu Bett. Axel ist zu einer Verhandlung vorgeladen, es war eine große Sache, der Lensmann ist mit ihm hingereist. Es war eine so große Sache, daß auch die Frau Lensmann, die wahrhaftig wieder ein Kleines hatte, ihr Kind verließ und mit in die Stadt reiste. Sie hatte gesagt, sie wolle ein Wort mit dem Gericht reden.
Nun schwirrten Klatsch und allerlei Gerüchte durchs Dorf, und Sivert merkte gut, daß auch wieder von einem älteren Kindsmord geflüstert wurde. Vor der Kirche stockte jede Unterhaltung, wenn er sich nahte, und wäre er nicht der gewesen, der er war, so hätten ihm die Leute vielleicht den Rücken gekehrt. Es war recht gut, Sivert zu sein, erstens einmal von einem großen Hof zu stammen, eines reichen Mannes Sohn zu sein und dann auch selbst für einen tüchtigen Kerl, für einen guten Arbeiter zu gelten. Er wurde von anderen geschätzt und hochgeachtet, und er hatte auch jederzeit die Volksgunst genossen. Wenn jetzt nur nicht Jensine zu viel hörte, ehe sie wieder nach Hause fuhren. Sivert hatte übrigens so seine eigenen Gründe zur Beängstigung, auch die Leute auf dem Ödland können erröten und erbleichen. Er sah, wie Jensine mit der kleinen Rebekka aus der Kirche trat, sie hatte auch ihn gesehen, war aber einfach vorbeigegangen. So wartet er eine Weile und fährt dann beim Schmied vor, um die beiden abzuholen.
Beim Schmied wird zu Mittag gegessen, das ganze Haus ist versammelt, und auch Sivert wird etwas zu essen angeboten, aber er hat schon gegessen und dankt. Sie wußten, daß er um diese Zeit kommen werde, sie hätten auch die kleine Weile auf ihn warten können, in Sellanraa hätte man das getan, aber hier tat man es nicht. – Ach nein, du bist es jedenfalls besser gewöhnt, sagt die Frau des Schmieds. – Hast du in der Kirche etwas Neues erfahren? fragt der Schmied, obgleich er selbst in der Kirche gewesen ist.
Als Jensine und die kleine Rebekka auf dem Wagen sitzen, sagt die Schmiedfrau zu ihrer Tochter: Ja, ja, Jensine, laß es nun nicht zu lange anstehen, bis du wieder nach Hause kommst. – Das kann man auf zwei Arten verstehen, dachte Sivert, aber er mischte sich nicht in die Sache. Wäre die Rede ein klein wenig bestimmter gewesen, so hätte er vielleicht Antwort gegeben. Er runzelt die Stirne und wartet, – nein, nichts mehr.
Sie fahren heimwärts, und die kleine Rebekka ist die einzige, die etwas zu plaudern hat, sie ist erfüllt von dem Erlebnis ihres Kirchganges, von dem Geistlichen in seinem schwarzen Talar mit dem silbernen Kreuz, von dem Lichterglanz und dem Orgelschall. Nach einer langen Weile sagt Jensine: Das mit Barbro ist eine Schande! – Was hat deine Mutter damit gemeint, daß du bald wieder nach Hause kommen sollest? fragt Sivert. – Was sie damit meinte? – Willst du uns verlassen? – Einmal muß ich ja doch wieder nach Hause, sagt sie. – Prrr! ruft Sivert und hält das Pferd an. Soll ich jetzt gleich wieder mit dir umdrehen? fragt er. – Jensine sieht ihn an, er ist blaß wie der Tod. – Nein, erwidert sie, und gleich darauf fängt sie an zu weinen. Die kleine Rebekka sieht erstaunt von einem zum andern. Ach, die kleine Rebekka war sehr nützlich auf einer solchen Fahrt, sie ergriff Partei für Jensine, streichelte sie und brachte sie wieder dazu, daß sie lächelte. Und als die kleine Rebekka ihrem Bruder drohte, sie werde vom Wagen springen und sich einen Stecken für ihn suchen, da mußte auch Sivert lächeln. – Aber nun muß ich fragen, was du gemeint hast? sagt Jensine. – Sivert antwortet ohne Bedenken: Ich meinte, daß wir, wenn du uns verlassen wollest, eben sehen müßten, ohne dich fertig zu werden. – Lange Zeit darauf sagte Jensine: Jawohl, die Leopoldine ist ja nun erwachsen und kann meine Arbeit tun.
Es wurde eine wehmütige Heimfahrt.