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Zweiter Teil


1

Sellanraa ist nicht länger eine unbewohnte Stätte, sieben Menschen leben hier mit groß und klein. Aber während der kurzen Zeit der Heuernte kam auch noch der eine oder andere Besuch dazu, Leute, die gerne die Mähmaschine sehen wollten, Brede natürlich als der erste; aber auch Axel Ström kam und die Nachbarn bis zum Dorf hinunter. Und von der andern Seite des Gebirges kam Oline; sie war unverwüstlich.

Auch diesmal kam Oline nicht ohne Neuigkeiten aus ihrem Dorfe; sie stellte sich nie leer ein: Jetzt war die Verrechnung von dem Nachlaß des alten Sivert fertig geworden, und es blieb kein Vermögen übrig! Gar keines!

Hier kniff Oline den Mund zusammen, und ihre Blicke schweiften gespannt von einem zum andern. Na, tönte denn kein Seufzer durch die Stube, fiel nicht die Decke ein? Eleseus war der erste, der lächelte. Wie ist's denn, bist du nicht nach dem Ohm Sivert getauft? fragte er mit gedämpfter Stimme. Und Klein-Sivert antwortete ebenso gedämpft: Doch. Aber ich habe ja seinen ganzen Nachlaß dir verehrt. – Wieviel war's denn? – Zwischen fünf- und zehntausend. – Taler? rief Eleseus schnell und machte Sivert genau nach.

Oline meinte, es sei jetzt nicht Zeit zu spaßen, ach, wie war sie selbst geprellt worden, und sie hatte doch am Sarg des alten Sivert ihre ganze zähe Willenskraft aufgeboten und Tränen geweint. Eleseus wußte ja selbst am besten, was er geschrieben hatte: Soundso viel für Oline, als Stab und Stütze für ihr Alter. Was war aus diesem Stab geworden? Übers Knie gelegt und gebrochen!

Arme Oline, sie hätte wohl eine Kleinigkeit erben dürfen, das wäre der einzige lichte Punkt in ihrem Leben gewesen! Sie war nicht verwöhnt. Geübt im Bösen, jawohl, daran gewöhnt, sich von Tag zu Tag mit Kniffen und kleinen Betrügereien durchzuschlagen, groß allein in der Kunst, Klatsch zu verbreiten, ihre Zunge gefürchtet zu machen, jawohl. Nichts hätte sie jetzt noch schlimmer machen können, eine Erbschaft am allerwenigsten. Sie hatte ihr ganzes Leben lang gearbeitet, hatte Kinder geboren und ihnen ihre eigenen paar Handfertigkeiten beigebracht, hatte für sie gebettelt, vielleicht auch gestohlen, aber sie doch ernährt – eine Mutter in kleinen Verhältnissen. Ihre Gaben waren nicht geringer als die Gaben anderer Politiker, sie wirkte und schaffte für sich und die Ihrigen, richtete sich nach dem Augenblick und brachte sich durch, verdiente ein Käschen da und eine Handvoll Wolle dort und würde in alltäglicher und unaufrichtiger Schlagfertigkeit leben und sterben. Oline – vielleicht hatte sich der alte Sivert an die Zeit erinnert, wo er sie noch als jung, rotwangig und hübsch gekannt hatte. Aber nun war sie alt und häßlich, ein Bild der Vergänglichkeit, sie sollte lieber tot sein. Wo wird sie begraben? Sie besitzt kein eigenes Erbbegräbnis, wahrscheinlich wird sie einmal in irgendeinem Kirchhof bei lauter fremden und unbekannten Knochenresten unter den Boden gebracht, da wird sie einmal landen. Oline, geboren und gestorben. Auch sie war einmal jung. Eine Erbschaft für sie jetzt noch zur elften Stunde! Jawohl, ein einziger lichter Punkt, und die Hände einer Sklavin der Arbeit würden sich für einen Augenblick gefaltet haben. Die Gerechtigkeit hätte ihr noch einen verspäteten Lohn gespendet, weil sie für ihre Kinder gebettelt, vielleicht auch gestohlen, sie aber jedenfalls ernährt hatte. Für einen Augenblick – und wieder hätte Dunkel in ihr geherrscht, die Augen hätten geschielt, die Hände gesucht und getastet: Wieviel ist es? würde sie sagen. Was, nicht mehr? würde sie sagen. Und sie hätte wieder recht. Sie war vielfache Mutter und verstand das Leben einzuschatzen, das war großen Lohnes wert.

Alles schlug fehl. Die Rechnungen des alten Sivert waren jetzt, nachdem Eleseus sie durchgesehen hatte, wohl einigermaßen in Ordnung, aber der kleine Hof und die Kuh, der Bootsschuppen und das Großnetz deckten nur knapp den Fehlbetrag in der Kasse. Und daß es überhaupt einigermaßen so gut ging, wie es ging, das war zum Teil Oline zu verdanken; sie war sehr versessen darauf, daß ein Rest für sie übrigbleibe, und so zog sie vergessene Posten, von denen sie als alte Klatschbase wußte, oder Posten, die der Revisor absichtlich übersehen hatte, um nicht achtenswerte Dorfgenossen in Schaden zu bringen, ans Licht. Diese verflixte Oline! Und sie beschuldigte nicht einmal den alten Sivert selbst; er hatte ja sicherlich aus gutem Herzen testiert und hätte auch reichlich Geld hinterlassen, jawohl; nein, die beiden Vertreter der Kreisverwaltung, die die Sache zu ordnen hatten, die hatten sie geprellt. Aber einst wird auch dies dem Allwissenden zu Ohren kommen! sagte Oline drohend.

Merkwürdigerweise sah sie nichts Lächerliches darin, daß sie im Testamente genannt war; das war trotz allem eine Ehre, niemand sonst von den Ihrigen stand darin.

Die Leute auf Sellanraa trugen das Unglück mit Geduld, sie waren ja auch nicht ganz unvorbereitet. Inger konnte es allerdings nicht recht fassen: Der Oheim Sivert, der seiner Lebtag so reich gewesen ist! sagte sie. – Er hätte als aufrechter und reicher Mann vor den Thron des Lammes treten können, aber sie haben ihn beraubt! behauptete Oline. – Isak war im Begriff, fortzugehen, und Oline sagte: Das ist sehr dumm, Isak, daß du fort willst, so kriege ich ja die Mähmaschine nicht zu sehen. Du hast doch eine Mähmaschine, nicht wahr? – Jawohl. – Ja, jedermann spricht davon. Und daß sie rascher mäht als hundert Sensen. Was du dir nicht alles anschaffen kannst, Isak, mit deinem Geld und deinem Vermögen! Unser Pfarrer hat einen neuen Pflug mit zwei Pflugscharen, aber was ist der Pfarrer neben dir! Das würde ich ihm offen ins Gesicht sagen. – Sivert kann dir mit der Maschine vormähen, er kann es schon viel besser als ich, sagte Isak und ging fort.

Isak ging fort. Auf Breidablick ist Versteigerung gerade um die Mittagsstunde, und er kann eben noch rechtzeitig hinkommen.

Nicht, als ob Isak noch daran dachte, die Ansiedlung zu kaufen, aber das ist nun die erste Versteigerung in der Gegend, und da will er dabei sein.

Als er bis nach Maaneland gekommen ist und Barbro da sieht, will er nur grüßen und weitergehen, aber Barbro redet ihn an und fragt ihn, ob er dort hinunter wolle? – Ja, antwortet er und will weitergehen. Es ist Barbros Kinderheimat, die versteigert wird, deshalb antwortet er so kurz angebunden. – Willst du zur Versteigerung? fragt sie. – Zur Versteigerung? Na, ich gehe eben einmal hinunter. Wo ist denn Axel? – Axel? Ich weiß nicht, wo er ist. Er ist zur Versteigerung gegangen, er will wohl auch dies oder jenes zu einem Spottpreis ergattern.

Wie dick doch Barbro war, und wie bissig, ganz rasend!

Die Versteigerung hat schon angefangen. Isak hört des Lensmannes Aufrufe und sieht viele Leute. Als er näher kommt, sieht er, daß er nicht alle kennt; es sind verschiedene Leute von auswärts da, aber Brede treibt sich in seinem besten Anzug herum und ist lebhaft und gesprächig: Guten Tag, Isak! So, du erweist mir auch die Ehre und kommst zu meiner Versteigerung. Ich danke dir! Wir sind viele Jahre lang Nachbarn und gute Freunde gewesen, und niemals hat es ein böses Wort zwischen uns gegeben. – Brede wird ganz gerührt: Es ist ja sonderbar, wenn man sich vorstellt, daß man einen Ort verlassen soll, für den man gelebt und gestrebt und den man liebgewonnen hat. Aber was hilft es, wenn es einem nun einmal so bestimmt ist. – Vielleicht wird es jetzt für dich viel besser, tröstet Isak. – Ja, weißt du, das glaube ich auch, erwidert Brede rasch gefaßt. Es ist mir nicht leid, durchaus nicht. Ich habe hier auf dem Lande keine Seide gesponnen, das wird jetzt besser werden, die Kinder werden größer und stiegen aus dem Nest – na, die Frau sorgt ja wieder für ein Kleines, aber trotzdem! Und plötzlich sagt Brede klipp und klar: Ich habe den Telegraphen aufgekündigt.– Was? fragt Isak. – Ich habe den Telegraphen aufgekündigt. – Du hast den Telegraphen aufgekündigt? – Ja, zu Neujahr. Was soll ich weiter damit? Und wenn ich im Verdienen wäre und den Lensmann oder den Pfarrer fahren müßte, dann hätte immer der Telegraph zu allererst kommen müssen. Nein, das gibt es nicht. Das kann einer machen, der überflüssige Zeit hat; die Telegraphenlinie entlang rennen, über Berg und Tal für eine kleine oder gar keine Bezahlung, das tut der Brede nicht! Und außerdem habe ich mich mit dem Vorstand, der mein Vorgesetzter ist, verkracht.

Der Lensmann wiederholt immer noch die Angebote auf die Ansiedlung, und sie haben nun die wenigen hundert Kronen erreicht, die das Gut geschätzt wird, deshalb werden jetzt nur noch fünf oder zehn Kronen mehr auf einmal geboten. Ich glaube wahrhaftig, jetzt bietet der Axel! sagt Brede plötzlich und eilt neugierig zu ihm hinüber. Willst du meinen Hof kaufen? Ist dir deiner nicht groß genug? – Ich biete für einen andern Mann, erwidert Axel etwas ausweichend. – Na ja, das ist mir einerlei, so ist das nicht gemeint. – Der Lensmann hebt den Hammer, ein neues Gebot wird gemacht, hundert Kronen mehr auf einmal; niemand geht höher, der Lensmann nennt das letzte Angebot noch ein paarmal, wartet eine Weile mit erhobenem Hammer und schlägt dann zu.

Wer hatte geboten?

Axel Ström. Für einen andern Mann.

Der Lensmann schreibt ins Protokoll: Axel Ström pr. Kommission.

Für wen kaufst du? fragt Brede. Nicht, als ob es mir nicht ganz einerlei wäre.

Aber nun stecken einige Herren am Tische des Lensmannes die Köpfe zusammen. Da sitzt ein Vertreter der Bank, der Kaufmann ist, mit seinem Ladendiener da, etwas hat sich ereignet, die Forderungen der Gläubiger sind nicht gedeckt! Brede wird gerufen, leicht und sorglos kommt er daher und nickt nur, jawohl, ganz derselben Ansicht. Wer hätte auch denken können, daß der Hof nicht mehr bringen werde, sagte er. Und plötzlich verkündet er allen Anwesenden mit lauter Stimme: Da wir nun mit der Versteigerung fertig sind und ich doch einmal den Lensmann herbemüht habe, so will ich alles verkaufen, was ich hier habe. Den Wagen, die Tiere, eine Mistgabel, den Schleifstein, das brauche ich alles nicht mehr, ich verkaufe Rump und Stump.

Geringe Angebote. Bredes Frau, auch sie leichtfüßig und sorglos, trotz ihres ungeheueren Umfangs, hat inzwischen begonnen, an einem Tisch Kaffee zu verkaufen; sie findet diese Beschäftigung unterhaltend, sie lächelt, und als Brede selbst kommt und Kaffee trinkt, verlangt sie zum Spaß auch von ihm Bezahlung. Und Brede zieht wirklich seinen mageren Beutel und bezahlt. Seht doch nur die Frau an! sagt er zu der ganzen Versammlung. Sie versteht's! sagt er.

Der Wagen ist nicht viel wert, er hat zu oft unter freiem Himmel gestanden; aber Axel bietet schließlich noch ganze fünf Kronen mehr und ersteht auch den Wagen. Dann kauft Axel nichts mehr. Aber alles verwundert sich, daß der vorsichtige Mann so viel gekauft hat.

Nun ging's an die Tiere. Sie standen heute im Stall, um in der Nähe zu sein. Was sollte Brede mit Tieren, wenn er kein Weideland mehr dafür hatte! Kühe hatte er gar nicht, er hatte seine Landwirtschaft mit zwei Geißen begonnen, jetzt hatte er viere. Außerdem hatte er sechs Schafe. Ein Pferd besaß er nicht.

Isak kaufte ein gewisses Schaf mit flachen Ohren. Als Bredes Kinder dieses Schaf aus dem Stall herausführten, bot er sofort darauf; das erregte Aufmerksamkeit, Isak von Sellanraa war ja ein reicher und angesehener Mann, der brauchte doch nicht noch mehr Schafe, als er schon hatte. Bredes Frau hält einen Augenblick mit ihrem Kaffeeverkauf inne und sagt: Zu diesem Schaf kann man dir nur zureden, Isak; es ist zwar alt, aber es wirft jedes Jahr zwei oder drei Lämmer. – Ja, das weiß ich, erwidert Isak und sieht sie voll an. Ich kenne das Schaf.

Er macht sich mit Axel Ström zusammen auf den Heimweg und führt sein Schaf am Strick. Axel ist schweigsam, und irgend etwas scheint ihn zu wurmen, was es nun auch sein mag. Aber er hat doch eigentlich keine äußere Ursache, niedergeschlagen zu sein, denkt Isak. Seine Wirtschaft ist in gutem Stande, er hat das meiste Futter schon hereingebracht und er ist eben dabei, sein Wohnhaus aufzurichten. Es geht bei Axel Ström, wie es gehen soll, ein wenig langsam, aber sicher. Jetzt hat er sich auch ein Pferd angeschafft.

Du hast Bredes Hof gekauft, sagt Isak. Willst du ihn bewirtschaften? – Nein, ich will ihn nicht bewirtschaften. Ich habe ihn für einen andern gekauft. – So. – Was meinst du, habe ich zu viel bezahlt? – O nein. Er hat gute Moore, wenn sie entwässert werden. – Ich habe den Hof für meinen Bruder in Helgeland gekauft. – So. – Aber ich habe so halb und halb daran gedacht, mit ihm zu tauschen. – Du willst mit ihm tauschen? – Wenn Barbro lieber da unten wohnen möchte.

Schweigend gehen sie ein gutes Stück. Dann sagt Axel: Man ist sehr hinter mir her, ich soll den Telegraphen übernehmen. – Den Telegraphen? So. Ja, ich habe gehört, der Brede habe ihn aufgekündigt. – So, antwortet Axel lächelnd; das ist nicht ganz genau so gewesen, ihm, dem Brede, ist aufgekündigt worden. – Ja ja, sagte Isak und versucht Brede ein wenig zu entschuldigen; der Telegraph nimmt viel Zeit weg. – Sie haben ihm zu Neujahr gekündigt, wenn er sich nicht bessere. – So. – Meinst du nicht, ich könnte den Posten übernehmen? – Isak dachte lange nach und antwortete dann: Ja ja, das bringt Geld. – Sie wollen mir mehr geben. – Wieviel? Das Doppelte. – Das Doppelte? Ja, dann meine ich, du könntest es dir überlegen. – Aber die Strecke ist etwas länger geworden. Nein, ich weiß doch nicht, was ich tun soll; es läßt sich jedoch jetzt weniger aus dem Wald herausschlagen, als zu deiner Zeit, und ich muß mir noch mehr Geräte anschaffen, ich habe jetzt zu wenig. An bar Geld fehlt es immer, und mein Viehstand ist nicht so groß, daß ich davon verkaufen könnte. Ich meine, ich sollte es einmal ein Jahr mit dem Telegraphen versuchen ... Keinem der beiden fiel es ein, daß Brede sich bessern und seinen Posten behalten könnte.

Als sie nach Maaneland kamen, ist auch Oline aus ihrem Heimweg dort angelangt, ja, Oline ist merkwürdig, sie kriecht fett und rund daher wie eine Raupe und ist doch über siebzig Jahre, aber sie kommt weiter. Sie sitzt in der Gamme und trinkt Kaffee, aber als sie die Männer gewahr wird, läßt sie alles liegen und stehen und kommt heraus. Guten Tag, Axel, zurück von der Versteigerung? fragt sie. Du hast doch nichts dagegen, daß ich Barbro einen Besuch mache? Und du baust ein Wohnhaus und wirst ein immer größerer Herr? Du hast ein Schaf gekauft, Isak? – Ja, erwidert Isak, kommt es dir nicht bekannt vor? – Ob es mir bekannt vorkommt? Nein. – Es hat aber doch diese flachen Ohren, sieh nur. – Flache Ohren, wieso denn? Und wenn auch? Ja, was ich sagen wollte: Wer hat denn Bredes Hof gekauft? Eben habe ich zu der Barbro gesagt, wer wohl ihr Nachbar werden würde, habe ich gesagt. Die arme Barbro sitzt nur da und weint, wie nicht anders zu erwarten ist. Aber der Allmächtige hat ihr eine zweite Heimat hier auf Maaneland beschert. Flache Ohren? Ich habe in meinem Leben schon viele Schafe mit flachen Ohren gesehen. Und das ist wahr, Isak, diese Maschine, die du hast, ist fast mehr als meine alten Augen fassen können. Und was sie gekostet hat, danach will ich lieber gar nicht fragen, so hoch kann ich gar nicht zählen. Wenn du sie gesehen hast, Axel, dann weißt du, was ich meine, es war mir, als sähe ich Elias in seinem feurigen Wagen, Gott verzeih mir die Sünde ...

Als das Heu unter Dach war, fing Eleseus an, sich zur Abreise zu rüsten. Er hatte dem Ingenieur geschrieben, er komme jetzt wieder, aber darauf die sonderbare Antwort erhalten, daß die Zeiten schlecht seien, man müsse sich einschränken, der Ingenieur könne den Posten nicht mehr besetzen und müsse von nun an alles selbst schreiben.

Das war doch eine verfluchte Sache! Aber wozu brauchte auch dieser Bezirksingenieur einen Schreiber? Damals, als er den kleinen Jungen Eleseus von seinem Elternhaus wegnahm, wollte er sich wohl nur als großer Mann in der Gegend zeigen, und wenn er ihn bis über die Konfirmation genährt und gekleidet hatte, so hatte er auch ein wenig Hilfe auf dem Bureau dafür gehabt. Jetzt war der Junge erwachsen, nun war es eine andere Sache.

Aber, schrieb der Ingenieur, wenn Du zurückkommst, so will ich tun, was ich kann, um Dich auf einem anderen Bureau unterzubringen, obgleich es wahrscheinlich schwierig sein wird. Es gibt so überflüssig viele junge Leute hier, die diese Laufbahn einschlagen. Freundliche Grüße.

Gewiß wollte Eleseus zurück in die Stadt, ja ganz zweifellos. Sollte er sich wegwerfen? Er wollte doch weiterkommen in der Welt. Und Eleseus sagte den Seinigen nichts von der veränderten Sachlage; das führte doch zu nichts, und außerdem war er etwas schlapp, also schwieg er. Das Leben auf Sellanraa wirkte wieder auf ihn, es war ein rühmloses und alltägliches Dasein, es war ruhig und einschläfernd, man wurde ein Träumer, da war niemand, vor dem er sich hätte aufspielen, niemand, mit dem er sich hätte messen können. Das Stadtleben hatte sein Wesen gespalten, hatte ihn vornehmer gemacht als die andern, aber auch schwächer, er fühlte sich jetzt eigentlich überall heimatlos. Daß er wieder anfing, den Geruch des Rainfarn angenehm zu finden – nun gut! Aber es hatte doch keinen Sinn, wenn ein Bauernjunge, der abends seine Mutter die Kühe melken hörte, dabei auf folgende Gedanken kam: Jetzt wird gemolken, hör doch nur, es ist doch beinahe wunderbar anzuhören, es ist wie eine Art Lied, in lauter einzelnen Strahlen, ganz anders als die Hornmusik in der Stadt oder die Heilsarmee oder die Pfeife des Dampfschiffs. Der Milchstrahl, der in ein Gefäß rinnt ...

Es war nicht Brauch auf Sellanraa, seine Gefühle sehr zu zeigen, und Eleseus fürchtete sich vor dem Augenblick des Abschieds. Er war jetzt gut ausgestattet, er sollte wieder einen Ballen Leinwand zu Unterzeug mitbekommen, und der Vater hatte Geld bereitgelegt, das Eleseus eingehändigt werden sollte, wenn er die Schwelle überschritt. Geld – konnte Isak wirklich Geld entbehren? Aber es ging nicht anders, Inger deutete ja an, daß es zum letztenmal sei. Eleseus werde bald aufrücken und für sich selbst sorgen. – So, sagte Isak. – Die Stimmung wurde feierlich, im Hause wurde es still, alle hatten zum Abschiedsessen ein gekochtes Ei bekommen, und Sivert stand schon draußen, fertig gerüstet, mitzugehen und das Gepäck zu tragen. Eleseus konnte mit dem Abschied anfangen.

Er fing bei Leopoldine an. Ja, sie sagte ihm auch Lebewohl und machte das recht nett. Ebenso wiederholte die Magd Jensine, die eben Wolle kartätschte, den Abschiedsgruß. Aber beide Mädchen glotzten ihn ganz verflucht an, nur weil er vielleicht ein klein wenig rote Augen hatte. Er reichte seiner Mutter die Hand, und sie weinte natürlich laut auf und kümmerte sich den Henker darum, daß er das Weinen nicht leiden konnte. Laß dir's gut gehen! schluchzte sie. Der Abschied vom Vater war der schlimmste, unbedingt, aus tausend Gründen: er war so abgearbeitet und so unendlich getreu, hatte die Kinder auf den Armen getragen, ihnen von Möwen und anderen Vögeln erzählt und von Tieren und allen Wundern des Feldes. Das war gar nicht lange her, ein paar Jahre ...

Der Vater steht am Fenster, dann dreht er sich plötzlich um, ergreift die Hand des Sohnes und sagt laut und ärgerlich: Ja, ja, leb wohl! Ich sehe, das neue Pferd hat sich dort losgerissen! Und hinaus läuft er und rennt davon. Ach, und er hatte sich ja selbst kurz vorher hingeschlichen und das Pferd losgebunden, und das wußte der Spitzbube Sivert recht gut, der draußen stand und dem Vater lächelnd nachschaute. Und außerdem war ja das Pferd auf der Nachmahd.

Dann war Eleseus fertig.

Doch da kam ihm die Mutter auf die Türschwelle nach, schluchzte noch mehr und sagte: Gott sei mit dir! und drückte ihm etwas in die Hand. Dies hier – und du sollst ihm nicht danken, das mag er nicht. Und schreib auch fleißig!

Zweihundert Kronen.

Eleseus sah hinüber. Der Vater strengte sich ungeheuer an, einen Tüderpflock in die Erde zu rammen, was ihm anscheinend gar nicht gelingen wollte, obgleich es doch weicher Wiesengrund war.

Die Brüder schritten fleißig aus, sie kamen nach Maaneland, da stand Barbro auf der Schwelle und lud sie ins Haus ein. Gehst du wieder fort, Eleseus? Dann mußt du aber hereinkommen und wenigstens eine Tasse Kaffee trinken.

Sie gehen in die Gamme, und Eleseus ist nicht mehr verrückt vor Liebe und will zum Fenster hinausspringen oder Gift nehmen, nein, er legt seinen Hellen Überrock über die Knie und sorgt dafür, daß das silberne Schild obenhin zu liegen kommt, danach fährt er sich mit dem Taschentuch übers Haar, und dann macht er die sehr feine Bemerkung: Ein klassisches Wetter heute!

Barbro hat auch nicht die Fassung verloren, sie spielt mit ihrem silbernen Ring an der einen Hand und mit dem goldenen an der andern – ja, sie hatte wahrhaftig jetzt auch den goldenen Ring bekommen – und sie hat eine Schürze an, die vom Hals bis zu den Füßen geht, so sieht man ihr wenigstens ihre Mündlichkeit nicht an. Und nachdem sie den Kaffee gekocht hat und während die Gäste ihn trinken, näht sie erst ein bißchen an einem weißen Tuch und häkelt dann ein bißchen an einem Kragen und betreibt allerlei jungfrauenhafte Arbeiten. Barbro ist nicht in Verlegenheit über den Besuch, und das ist gut, dadurch wird der Ton natürlich, und Eleseus kann wieder so obenhin und einnehmend tun.

Wo ist denn Axel? fragt Sivert.

Wo er ist? Irgendwo, antwortet Barbro und richtet sich auf. Ja, jetzt kommst du wohl nie wieder heim aufs Land? fragt sie Eleseus. – Das ist höchst unwahrscheinlich, erwidert er. – Hier ist nicht der rechte Ort für jemand, der an die Stadt gewöhnt ist. Ich wäre froh, wenn ich mit dir reisen könnte. – Ach, das ist dir nicht Ernst. – Nicht, meinst du? O, ich habe es erfahren, wie es ist, wenn man in der Stadt wohnt, und wie es auf dem Lande ist. Ich bin in einer größeren Stadt gewesen als du. Da ist es kein Wunder, wenn es mir hier nicht gefällt. – Gewiß, so habe ich es nicht gemeint, du bist ja sogar in Bergen gewesen, beeilte er sich zu sagen. Es war ja schrecklich, wie hochfahrend sie war! – Ja, wenn ich die Zeitung nicht hätte, so liefe ich sofort davon, sagte Barbro. – Aber der Axel und alles miteinander, das habe ich gemeint. – Ach, der Axel, das ginge mich nichts an. Und du selbst, hast du nicht vielleicht jemand in der Stadt, der auf dich wartet? – Nun konnte Eleseus nicht anders, er mußte sich ein wenig aufspielen, er kniff die Augen zu und ließ es auf der Zunge zerschmelzen: daß er allerdings doch vielleicht jemand in der Stadt habe, der auf ihn warte. Ach ja, aber er hätte das alles noch ganz anders ausnützen können, wenn Sivert nicht dabeigesessen hätte, so konnte er nur sagen: Ach, Unsinn! – Na, sagte sie verletzt, und es war eigentlich eine Schande, wie übellaunig sie war: Unsinn! Ja, du kannst von den Leuten auf Maaneland nicht mehr erwarten, wir sind nicht so großartig.

Aber Eleseus kümmerte sich den Henker um sie, sie war recht fleckig im Gesicht geworden, und ihr Zustand war jetzt sogar seinen Kinderaugen aufgegangen. – Willst du nicht ein wenig Gitarre spielen? fragte er? – Nein, erwiderte sie kurz angebunden. Was ich sagen wollte, Sivert, kannst du nicht kommen und Axel ein paar Tage beim Ausrichten des neuen Hauses helfen? Wie wär's, wenn du gleich morgen dabliebst, wenn du vom Dorf zurückkommst? – Sivert überlegte: Ja, aber ich habe keinen Arbeitsanzug da, sagte er. – Ich will heut abend hinlaufen und deine Werktagskleider holen, daß du sie hast, wenn du zurückkommst. – Na ja, sagte Sivert, ich will mir's überlegen. – Barbro wurde unnötig eifrig. Du mußt es aber gern tun! Der Sommer vergeht, und das Wohnhaus sollte noch vor den Herbsttagen aufgerichtet und gedeckt sein. Axel hat dich schon oft darum bitten wollen, aber er kommt immer nicht dazu. Nein, du mußt uns diese Handreichung gern tun. – Wenn ich etwas helfen kann, dann tu ich es auch gern, erwiderte Sivert.

Das war also abgemacht.

Aber nun ist Eleseus wirklich berechtigt, sich beleidigt zu fühlen. Er sieht ja ein, daß es von Barbro recht klug ist, wenn sie um ihrer selbst und um Axels willen darauf aus ist, Hilfe für den Hausbau zu bekommen; aber sie tut das zu offenkundig. Sie ist noch nicht die Hausfrau auf dem Hofe, und es ist noch keine Ewigkeit her, seit er selbst sie geküßt hat, dieses Frauenzimmer! Hatte sie denn gar keine Scham im Leibe? – Doch, sagt er darum plötzlich, ich werde wiederkommen und bei dir Gevatter stehen. – Barbro warf ihm einen Blick zu und sagte ärgerlich: Gevatter? Und du willst von Unsinn sprechen! Außerdem werde ich dir Nachricht schicken, wenn ich einmal um einen Gevatter verlegen sein sollte. – Was konnte Eleseus anderes tun, als beschämt lächeln und sich weit weg wünschen! – Besten Dank für den Kaffee, sagte Sivert. – Ja, Dank für den Kaffee, sagte auch Eleseus, aber er stand nicht auf und verbeugte sich auch nicht, nein, zum Henker; sie schwoll ja vor Gift und Galle!

Laß doch einmal sehen, sagte Barbro. Ja, die Kontorherren, bei denen ich war, die hatten auch silberne Schildchen in den Röcken, noch viel größere, sagte sie. Nun, also du kommst zurück und bleibst hier über Nacht, Sivert? Ich hole deine Kleider.

Das war der Abschied.

Die Brüder gingen weiter, Eleseus hatte zwei große Banknoten in der Brusttasche und die Barbro konnte seinetwegen der Kuckuck holen. Die Brüder hüteten sich wohl, auf irgendeinen rührenden Gesprächsstoff zu kommen, auf des Vaters sonderbaren Abschied und der Mutter Tränen, sie machten einen Umweg um Breidablick herum, um dort nicht angehalten zu werden, und führten scherzhafte Reden über diesen Streich. Als sie so weit hinuntergekommen waren, daß sie das Dorf sehen konnten, wo Sivert umdrehen sollte, übermannte es sie beide doch ein wenig. Sivert sagte: Es kann wohl sein, daß es jetzt ohne dich ein wenig einförmig wird. – Da fing Eleseus an zu pfeifen und seine Schuhe zu untersuchen, und er sah, daß er einen Spreißel im Finger hatte, und suchte in seinen Taschen – nach Papieren, sagte er –, oh, wie schlau! Aber es wäre dennoch schlimm gegangen, wenn nicht Sivert sie beide gerettet hätte: Den Letzten! rief er, gab dem Bruder einen Schlag auf den Rücken und lief davon. Das half, sie riefen einander noch einige Abschiedsworte zu, und dann zog jeder seines Weges.

Schicksal oder Glückszufall! Eleseus kehrte trotz allem in die Stadt zurück auf einen Posten, den er nicht mehr innehatte, aber durch dieselbe besondere Fügung bekam Axel Ström einen Arbeiter. Am 21. August fingen sie an das Blockhaus aufzurichten, und zehn Tage später war es unter Dach. Ach, es war kein großartiges Wohnhaus und nur ein paar Balkenlagen hoch, aber es war doch ein Blockhaus und keine Erdhütte, und das Vieh konnte nun in dem Raum, der seither menschliche Wohnung gewesen war, einen herrlichen Winterstall bekommen.


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