Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am dritten September verschwand Barbro, das heißt, ganz verschwand sie nicht, sie war nur bei den Gebäuden nirgends zu finden.
Axel schreinerte so gut er konnte, er war dabei, ein Fenster und eine Tür in den Neubau einzusetzen und war sehr in seine Arbeit vertieft. Als aber die Mittagszeit vorbei war und man ihn noch immer nicht hereinrief, ging er in die Gamme. Niemand war da. Er suchte sich selbst etwas Essen zusammen und schaute sich um, während er aß; Barbros Kleider hingen alle da, sie konnte also nur draußen irgendwo sein. Er ging wieder an seine Arbeit im Neubau und schaffte dort eine Weile, dann schaute er wieder in die Gamme – noch immer niemand da. Sie mußte irgendwo liegengeblieben sein.
Barbro! ruft er. Nichts. Er sucht in der Umgebung der Häuser, geht hinüber zu einigen Gebüschen bei den Feldern, er sucht lange, vielleicht eine Stunde, er ruft – nichts! Endlich findet er sie weit entfernt; sie liegt auf der Erde hinter Gebüsch versteckt, der Bach läuft an ihren Füßen vorbei, sie ist barhäuptig und barfuß, und sie ist bis in den Rücken hinauf tropfnaß.
Hier liegst du? sagt er. Warum hast du keine Antwort gegeben? – Ich konnte nicht, flüsterte sie und war stockheiser. – Was – hast du denn im Wasser gelegen? – Ja, ich bin ausgeglitten. Oh! – Ist dir schlecht? – Ja. Es ist vorbei. – Ist es vorbei? fragt er. – Ja. Jetzt mußt du mir helfen, daß ich nach Hause komme. – Wo ist –? – Was? – Wo ist das Kind? – Es war tot. – War es tot? – Ja.
Axel rührt sich nicht, er bleibt stehen. Wo ist es? fragt er.
Das brauchst du nicht zu wissen, erwidert sie. Hilf mir nach Hause. Es war tot. Ich kann selbst gehen, wenn du mich nur ein wenig unter dem Arme faßt.
Axel trägt sie nach Haus und setzt sie auf einen Stuhl, das Wasser läuft an ihr herab. – Ist es tot gewesen? fragt er. – Du hörst es ja, erwidert sie. – Wo hast du es? – Du willst es wohl ausschnüffeln? Hast du etwas zu essen gefunden, während ich fort war? – Was wolltest du denn dort am Bach? – Was ich am Bach wollte? Ich wollte Wacholder holen. – Wacholder? – Für die Milcheimer. – Dort wächst doch kein Wacholder, sagt er. – So geh doch an deine Arbeit! ruft sie heiser und ungeduldig. Was ich am Bach wollte? Ich wollte mir Besenreis holen. Ob du gegessen hast? frag ich. – Gegessen? wiederholt er. Ist es dir sehr schlecht? – Ach nein! – Ich will den Doktor holen. – Ja, untersteh dich! erwidert sie. Damit steht sie auf und fängt an sich trockene Kleider zum Umziehen herbeizuholen. Weißt du sonst gar nicht, wie du dein Geld wegwerfen sollst?
Axel geht wieder an seine Arbeit, verrichtet indes nicht viel; aber er klopft ein wenig und hobelt ein wenig, damit ihn Barbro hört; schließlich keilt er das Fenster ein und dichtet es mit Moos.
Am Abend hat Barbro nicht viel Hunger, aber sie arbeitet hier ein wenig und dort ein wenig, sie geht in den Stall und melkt und steigt nur etwas vorsichtiger als sonst über die hohen Schwellen. Wie gewöhnlich legte sie sich im Heustall schlafen, und die beiden Male, die Axel während der Nacht nach ihr schaure, schlief sie fest. Sie hatte eine gute Nacht.
Am nächsten Morgen war Barbro beinahe wie sonst, nur gänzlich stimmlos vor Heiserkeit, und sie hatte sich einen langen Strumpf um den Hals gewickelt. Sie konnten nichts miteinander reden. Die Tage vergingen, und das Ereignis wurde alt, andere Dinge traten in den Vordergrund. Der Neubau sollte eigentlich leer stehen, daß die Balken sich setzen konnten, damit das Haus dicht und zugfrei werde, aber es blieb keine Zeit, das abzuwarten, es mußte sofort beziehbar gemacht und der Stall eingerichtet werden. Nachdem dies geschehen und der Umzug vollendet war, wurden die Kartoffeln herausgenommen und nachher das Korn geschnitten. Das Leben lief im gewohnten Geleise.
Aber an vielen kleinen und großen Dingen merkte Axel, daß ihre Beziehungen lockerer geworden waren, Barbro fühlte sich in Maaneland jetzt nicht mehr zu Hause und auch nicht mehr gebunden als jedes andere Dienstmädchen. Das Band zwischen ihnen hatte sich gelockert, als das Kind starb. Axel hatte immer so großartig gedacht: Warte nur, bis das Kind da ist! Aber das Kind kam und ging wieder. Zuletzt legte Barbro auch noch die Fingerringe ab und trug keinen mehr davon. – Was soll das bedeuten? fragte er. – Was das bedeuten soll? sagte sie und warf den Kopf zurück.
Aber das konnte doch nichts anderes als Arglist und Verrat von ihrer Seite sein.
Jetzt hatte er die kleine Leiche am Ufer des Baches gefunden. Nicht als ob er weiter danach gesucht hätte, er wußte ja beinahe genau das Plätzchen, wo sie liegen mußte, aber er ließ es träge auf sich beruhen. Der Zufall wollte, daß er es nicht ganz vergaß: Vögel fingen an, über dieser Stätte zu kreisen, schreiende Elstern und Raben und eine Weile später auch ein Adlerpaar in schwindelnder Höhe. Es war gerade, als ob zuerst eine einzelne Elster gesehen hätte, daß hier etwas niedergelegt worden war, und als ob sie dann auch gerade wie ein Mensch nicht darüber hätte schweigen können, sondern hätte darüber schwatzen müssen. Dadurch wurde auch Axel aus seiner Gleichgültigkeit geweckt, und er wartete einen passenden Augenblick ab, sich hinzuschleichen. Er fand die Leiche unter Moos und Zweigen und ein paar Steinplatten in ein Tuch, einen großen Lappen, gewickelt. Mit einer Mischung von Neugier und Grausen öffnete er das Bündel ein wenig – geschlossene Augen, dunkle Haare, ein Junge, gekreuzte Beine, mehr sah er nicht. Der Lappen war naß gewesen und war halb getrocknet, das Ganze sah aus wie ein halbausgewundenes Bündel von Wasche.
Axel konnte die Leiche nicht so offen liegen lassen, im Innersten hatte er wohl auch Angst für sich selbst und für sein Haus; er lief heim, holte einen Spaten und machte das Grab tiefer; aber da es so nah am Bach war, sickerte das Wasser herein, und er mußte weiter oben am Hügel ein neues Grab schaufeln. Währenddem schwand seine Furcht, Barbro könnte kommen und ihn hier finden, er wurde trotzig und dachte, seinetwegen könne sie wohl kommen, ja, dann könnte sie, bitte, die kleine Leiche nett und ordentlich einhüllen, ob das Kind nun totgeboren war oder nicht! Er sah sehr wohl ein, was er mit dem Tode dieses Kindes verloren, daß er nun alle Aussicht hatte, in seinem Neubau ohne Hilfe zu sitzen, und zwar gerade jetzt, wo sein Viehstand mehr als dreimal so groß war wie vorher. Bitte schön, es wäre gar nicht zu viel, wenn sie käme! Aber Barbro – es kann gut sein, daß sie entdeckt hatte, womit er beschäftigt war, jedenfalls kam sie nicht, er mußte selbst die kleine Leiche einhüllen, so gut er konnte, und sie in das neue Grab legen. Dann breitete er schließlich die Rasenstücke wieder darüber und verwischte jede Spur; nun war nichts weiter zu sehen als ein kleiner grüner Hügel im Gebüsch.
Als er heimkehrte, traf er Barbro im Hofe. Wo bist du gewesen? fragte sie. – Die Bitterkeit in seinem Herzen hatte sich wohl verloren, denn er antwortete: Nirgends. Wo bist denn du gewesen? Aber Barbro las wohl eine Warnung aus seinem Gesichtsausdruck, sie ging ins Haus, ohne noch ein Wort zu sagen.
Axel ging ihr nach.
Was soll denn das bedeuten, daß du deine Fingerringe nicht mehr trägst? fragte er geradezu. – Vielleicht fand sie es am ratsamsten, ein klein wenig nachzugeben, sie lachte und sagte: Du bist so grimmig, daß ich lachen muß. Wenn du aber willst, daß ich die Ringe zuschanden arbeite, wenn ich sie Werktags trage, so kann ich es ja tun! Damit suchte sie sie hervor und steckte sie an.
Aber nun sah sie wohl, daß sein Gesicht einen dummzufriedenen Ausdruck annahm, und sie fragte dreist: Hast du noch mehr an mir auszusetzen? – Ich habe nichts an dir auszusetzen, erwiderte er. Du sollst nur wieder sein, wie du früher gewesen bist, ganz zu Anfang, als du herkamst. Das meine ich. – Es ist nicht so leicht, immer gleich zu sein, sagte sie. – Er fuhr fort: Daß ich deines Vaters Gut kaufte, geschah nur deshalb, daß wir dorthin ziehen könnten, wenn du lieber dort wohnen möchtest. Was meinst du dazu? – Ho, nun hatte er verspielt, oh, er hatte nur Angst, er könnte seine weibliche Hilfe verlieren und mit seinem Viehstand und seinem Haushalt allein bleiben, das merkte sie gut. – Das hast du schon einmal gesagt, erwiderte sie abweisend. – Jawohl, aber ich habe keine Antwort erhalten. – Antwort? sagte sie. Ich ertrage es nicht, das noch einmal zu hören.
Axel meinte, er sei ihr weit entgegengekommen. Er hatte die Familie Brede weiter auf Breidablick wohnen lassen, und obgleich er den kleinen Ertrag mit dem Gut gekauft hatte, so hatte er doch nur einige Fuhren Heu eingeführt und die Kartoffeln der Familie überlassen. Es war eine große Ungereimtheit von Barbro, jetzt böse zu werden, aber ihr war das ganz einerlei, sie fragte, als ob sie tief gekränkt wäre: Sollten wir nach Breidablick ziehen und meine ganze Familie obdachlos machen?
Hörte er denn recht? Mit offenem Mund saß er da, dann fing er an zu schlucken, als bereite er sich zu einer langen Antwort vor, aber es wurde nichts daraus, und er fragte nur: Ziehen sie denn nicht ins Dorf? – Das weiß ich nicht, erwiderte sie. Hast du ihnen vielleicht dort eine Wohnung gemietet?
Axel wollte nicht weiter mit ihr rechten, aber er konnte doch nicht ganz verschweigen, daß sie ihn einigermaßen in Verwunderung gesetzt habe, und so sagte er: Du wirst immer halsstarriger und verstockter, aber du meinst es nicht so. – Ich meine alles, was ich sage, entgegnete sie. Und nun sag mir einmal, warum konnten meine Leute nicht lieber hierher ziehen? Dann hätte ich doch etwas Hilfe von meiner Mutter gehabt. Aber du meinst ja, ich hatte nicht so viel zu tun, daß ich Hilfe brauche.
Sie hatte damit natürlich einigermaßen recht, aber auch sehr viel unrecht: Die Familie Brede hätte ja dann in der Gamme wohnen müssen, und Axel hätte wieder nicht gewußt, wohin mit seinem Vieh. Wo wollte sie denn hinaus, fehlte ihr denn aller Sinn und Verstand? – Ich will dir etwas sagen, es ist besser, du bekommst eine Magd. – Jetzt im Winter, wo es nicht mehr soviel zu tun gibt? Nein, ich danke. Damals, als ich eine brauchte, da hätte ich eine bekommen sollen, jawohl.
Wieder hatte sie einigermaßen recht: Sie hätte eine Magd haben müssen, als sie nicht wohl und in gesegneten Umständen war. Aber Barbro war ja niemals mit ihrer Arbeit im Rückstand geblieben, sie war eigentlich jetzt ebenso flink und tüchtig, tat alles, was geschehen mußte, und ließ niemals ein Wort von einer Magd verlauten. Aber sie hätte eine haben sollen. Ja, dann verstehe ich es nicht, sagte er mutlos.
Schweigen.
Dann fragte Barbro: Ich habe sagen hören, du wollest den Telegraphen übernehmen, den mein Vater hat? – Wieso, wer hat das gesagt? – Es geht das Gerede. – Ja, es ist nicht unmöglich, erklärte Axel. – So. – Warum fragst du? – Ich frage, weil du meinem Vater Haus und Hof abgenommen hast und ihm nun auch noch seinen Lebensunterhalt nehmen willst.
Schweigen.
Aber nun wollte sich Axel doch nicht noch mehr gefallen lassen, und er rief: Ich will dir etwas sagen, du bist das gar nicht wert, was ich für dich und die Deinen tue.
So, sagte Barbro.
Nein! rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch. Dann stand er auf.
Du brauchst nicht zu meinen, daß du mir Angst machen kannst, piepste sie mit schwacher Stimme und drückte sich näher an die Wand.
Dir Angst machen! machte er ihr nach und blies verächtlich. Aber jetzt ist es ernst, und ich will wissen, wie es mit dem Kind gewesen ist. Hast du es ertränkt?
Ertränkt?
Ja, es ist doch im Wasser gewesen.
So, du hast das gesehen? sagte sie. Du hast wohl – daran gerochen, hätte sie beinahe gesagt, wagte es aber nicht, denn es war vielleicht jetzt gerade nicht mit ihm zu spaßen. Du hast es also gesehen?
Ich habe gesehen, daß es im Wasser gelegen hat.
Ach, das hast du wohl sehen dürfen, versetzte sie. Es wurde im Wasser geboren, ich glitt aus und konnte nicht mehr aufstehen.
So, du bist ausgeglitten?
Ja, und in demselben Augenblick kam auch das Kind.
So, sagte er. Aber du hast doch einen Lappen mitgenommen. Hast du geahnt, daß du ausgleiten würdest?
Einen Lappen mitgenommen? wiederholte sie.
Einen großen weißen Lappen, eines von meinen Hemden, das du quer abgeschnitten hattest.
Jawohl, den Lappen habe ich mitgenommen, um Wacholder drin nach Hause zu tragen, sagte Barbro.
Wacholder?
Ja, Wacholder. Habe ich dir nicht gesagt, daß ich Wacholder holen wollte!
Ja, oder Besenreis.
Ach, das ist doch einerlei, was es war ...
Allein trotz dieses starken Zusammenstoßes wurde es wieder gut zwischen den beiden, das heißt, es wurde nicht mehr gut, aber erträglich, Barbro war klug und zeigte sich nachgiebiger, sie witterte Gefahr. Aber unter diesen Verhältnissen wurde ja das Leben auf Maaneland immer gezwungener und unerträglicher, ohne Vertrauen, ohne Freude, immer auf der Hut. Es ging immer nur einen Tag um den andern, aber solange es überhaupt ging, mußte Axel zufrieden sein. Er hatte nun einmal dieses Mädchen zu sich genommen, er brauchte es, war ihr Liebster gewesen, hatte sich an sie gebunden, es war keine leichte Sache, sich und sein ganzes Leben zu ändern. Barbro wußte alles, was mit dem Neubau zusammenhing, wo Hab und Gut aufbewahrt war, wann die Kühe und Geißen werfen würden, ob das Winterfutter kärglich oder reichlich war, welche Milch zu Käsen bestimmt war und welche im Haushalt verbraucht werden durfte – eine Fremde würde von nichts eine Ahnung haben, und eine Fremde war vielleicht gar nicht aufzutreiben.
Ach, aber oft schon hatte Axel doch daran gedacht, Barbro fortzutun und ein anderes Mädchen dafür zu nehmen; sie war zuweilen ein wahrer Zankapfel, und er fürchtete sich beinahe vor ihr. Selbst zu der Zeit, in der er das Unglück gehabt hatte, Glück bei ihr zu haben, war er bisweilen vor ihrer merkwürdig grimmigen und unliebenswürdigen Art zurückgewichen. Allein sie war schön und hatte auch ihre süßen Stunden und begrub ihn gut in ihren Umarmungen. Doch das war einmal, jetzt hatte es aufgehört. Nein, danke schön, diese elende Geschichte wollte sie nicht noch einmal durchmachen! Aber es ist nicht so leicht, sich und sein ganzes Leben umzuformen. Dann wollen wir sofort heiraten, sagte Axel dringend. – Sofort? erwiderte sie. Nein, ich fahre zuerst in die Stadt und lasse meine Zähne herrichten. Ich habe sie ja vor lauter Zahnweh beinahe alle verloren.
Da mußte es nun eben weitergehen wie seither; Barbro bekam keinen bestimmten Lohn mehr, aber sie bekam viel mehr als ihren Lohn, und so oft sie Geld begehrte und es auch erhielt, dankte sie dafür, als ob es ein Geschenk wäre. Übrigens begriff Axel nicht, wozu sie das Geld brauchte; was sollte sie hier auf dem Lande mit Geld? Sparte sie es zusammen? Aber wozu in aller Welt sparte sie jahraus, jahrein, zusammen?
Es war da sehr viel, was Axel nicht begriff: hatte sie denn nicht den Verlobungsring, ja sogar einen goldenen Ring bekommen? Es hatte ja auch lange Zeit nach diesem letzten großen Geschenk ein gutes Verhältnis zwischen ihnen geherrscht, aber in alle Ewigkeit wirkte es doch nicht, keineswegs, und er konnte ihr doch nicht immer wieder Ringe kaufen. Kurz und gut: wollte ihn Barbro nicht? Frauenzimmer sind doch merkwürdige Geschöpfe! Stand sonst noch irgendwo ein Mann mit schönem Viehstand und einem neuen Wohnhaus für sie bereit? Axel hatte alles Recht, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen über die Dummheit und Launenhaftigkeit der Weiber.
Es war ganz merkwürdig, Barbro schien keinen andern Gedanken im Kopf zu haben, als das Leben in der Stadt und in Bergen. Aber um Gottes willen, warum war sie dann überhaupt wieder herauf in den Norden gekommen? Ein Telegramm ihres Vaters allein hätte sie nicht dazu vermocht, auch nur einen Fuß vor den andern zu setzen, sie mußte einen andern Grund gehabt haben. Hier war sie doch Jahr um Jahr von morgens bis abends unzufrieden. Holzgeschirre statt solcher aus Blech und Eisen, Kessel statt Kasserollen; dieses ewige Melken statt eines Spaziergangs in die Meierei; Bauernstiefel, Schmierseife, einen Heusack unter dem Kopf, niemals Hornmusik, keine Menschen. Hier war sie ...
Nach dem großen Zusammenstoß haderten sie noch oftmals miteinander. Sollen wir darüber schweigen oder sollen wir darüber reden? sagte Barbro. Du denkst wohl gar nicht mehr daran, was du meinem Vater angetan hast? sagte sie. – Axel fragte: So, was habe ich denn getan? – Das weißt du selbst am besten, sagte sie. Aber Inspektor wirst du nun übrigens doch nicht. – So. – Nein, das glaube ich nicht, bis ich es sehe. – Du meinst wohl, ich sei nicht klug genug dazu? – Es ist ja ganz gut für dich, wenn du klug bist, aber du liest nicht und du schreibst nicht, du nimmst auch niemals nur eine Zeitung in die Hand. – Ich kann so viel lesen und schreiben, als ich nötig habe, sagte er; aber du bist nichts als ein großes Lästermaul. – Da hast du deinen Ring! schrie sie und warf den silbernen Ring auf den Tisch. – So, und wo ist denn der andere? fragte er nach einer Weile. – Wenn du deine Ringe wieder nehmen willst, so kannst du sie haben, sagte sie und mühte sich, den goldenen Ring abzustreifen. – Dein Zorn macht keinen Eindruck auf mich, sagte er und ging hinaus.
Und natürlich trug sie sehr bald beide Ringe wieder.
Es machte Barbro auf die Dauer auch nichts aus, daß er sie wegen des Todes des Kindes im Verdacht hatte. Ganz im Gegenteil, sie pfiff darauf und war hochmütig. Nicht als ob sie etwas eingestanden hatte, aber sie sagte: Ja, und wenn ich es auch ertränkt hätte! Du lebst hier in der Einöde und weißt nichts davon, wie es sonst in der Welt zugeht. – Als sie wieder einmal über diese Frage sprachen, dachte sie, sie wolle ihm einen Begriff davon beibringen, daß er die Sache viel zu ernsthaft nehme; sie selbst legte einem Kindsmord nicht mehr Wichtigkeit bei, als er verdiente. Sie wußte von zwei Mädchen in Bergen zu erzählen, die ihre Kinder umgebracht hatten, und die eine hatte einige Monate Strafe erhalten, weil sie so dumm gewesen war und es nicht selbst umgebracht, sondern es ausgesetzt hatte, damit es erfrieren sollte, und die andere war freigesprochen worden. Nein, das Gesetz ist jetzt hierin nicht mehr so unmenschlich wie früher, sagte Barbro. Und außerdem kommt es auch gar nicht immer heraus, sagte sie. Eines der Mädchen, die im Hotel in Bergen dienten, hat zwei Kinder umgebracht; sie war aus Christiania und trug einen Hut mit Federn darauf. Für das letzte Kind bekam sie drei Monate, aber das mit dem ersten ist nicht herausgekommen, erzählte Barbro.
Axel hörte zu, und es graute ihm immer mehr vor ihr. Er suchte zu begreifen, suchte in dieser Finsternis irgend etwas zu erkennen, aber im Grunde hatte sie recht. Er nahm die Sache viel zu ernsthaft. Sie war mit all ihrer banalen Verderbtheit eines ernsthaften Gedankens gar nicht wert. Ein Kindsmord war für sie gar kein Begriff, hatte gar nichts Außerordentliches an sich, es war nur der Ausschlag der ganzen moralischen Sittenlosigkeit und des Leichtsinns, der von einem Dienstmädchen zu erwarten war. Das zeigte sich auch in den Tagen, die darauf folgten: da gab es keine Stunde des Nachdenkens, sie war genau wie früher voll überflüssigen Geschwätzes, ganz Dienstmädchen. Ich muß fort wegen meiner Zähne, sagte sie. Und dann sollte ich ein Mantlett haben. Ein »Mantlett« war eine Art kurzen Kragens, der nur bis zur Mitte reichte, das war einige Jahre lang Mode gewesen, und Barbro wollte auch ein Mantlett haben.
Wenn Barbro alles so selbstverständlich hinnahm, was blieb Axel dann übrig, als sich auch zu beruhigen? Sein Verdacht stand auch nicht immer ganz fest, und sie gestand ja niemals etwas ein, im Gegenteil, sie hatte einmal ums andere alle Schuld geleugnet, ohne Zorn, ohne Halsstarrigkeit, aber zum Henker, genau so, wie ein Dienstmädchen leugnet, eine Schüssel zerschlagen zu haben, selbst wenn sie es getan hat. Ein paar Wochen vergingen, dann wurde es Axel doch zuviel, er blieb eines Tages mitten in der Stube stehen und hatte eine Offenbarung. Aber du großer Gott, alle hatten doch ihren Zustand gesehen, daß sie rund und dick und in anderen Umständen war! Und jetzt war sie wieder schlank, wo aber war das Kind? Wenn nun alle Menschen kämen und suchten? Sie würden eines Tages eine Erklärung verlangen. Und wenn also nichts Schlimmes geschehen war, so wäre es viel besser gewesen, die Leiche auf dem Friedhof zu begraben. Dann wäre sie fort aus dem Gebüsch, fort aus Maaneland.
Nein, das hätte mir nur Unannehmlichkeiten bereitet, erklärte Barbro. Sie hätten das Kind geöffnet, und es hätte ein Verhör gegeben. Das wollte ich nicht haben.
Wenn es nur später nicht viel schlimmer wird, sagte er.
Barbro entgegnete: Warum denkst du so viel darüber nach? Laß es doch im Gebüsch! Ja, sie fragte lächelnd: Meinst du vielleicht, es komme hinter dir her? Du mußt nur den Mund halten und dich nicht mehr darum kümmern.
So, na ja.
Habe ich vielleicht das Kind ertränkt? Nein, es hat sich selbst ertränkt, als ich ins Wasser fiel. Es ist ja unglaublich, was du für Gedanken hast! Und außerdem kommt es nie heraus, sagte sie.
Mit Inger von Sellanraa ist es doch auch herausgekommen, wie ich gehört habe, wendete er ein.
Barbro dachte nach. Das beunruhigt mich gar nicht! sagte sie. Das Gesetz ist seither anders geworden; wenn du die Zeitung lesen würdest, hättest du es gesehen. Viele kriegen Kinder und töten sie, und niemand tut ihnen deshalb weiter etwas zuleide! Barbro sucht ihm das zu erklären, und sie versteht etwas von der Sache, sie ist nicht umsonst draußen in der Welt gewesen und hat viel gehört und gesehen und gelernt, jetzt saß sie vor ihm und war gescheiter als er. Sie hatte drei Hauptgründe, die sie immer wieder vorbrachte: Erstens hatte sie es nicht getan, zweitens wäre es gar nicht so gefährlich, selbst wenn sie es getan hätte, und drittens würde es niemals herauskommen.
Ich habe gemeint, es komme alles heraus, wendete er ein.
O nein, bei weitem nicht! entgegnete sie. Und ob sie ihn nun verblüffen oder ihm Mut machen wollte, oder ob es aus Eitelkeit oder aus Großtuerei geschah, sie ließ in diesem Augenblick eine Bombe platzen: Ich habe selbst etwas getan, das nicht herausgekommen ist, sagte sie.
Du? sagte er ungläubig. Was hast du denn getan?
Was ich getan habe? Ich habe getötet.
Vielleicht hatte sie nicht beabsichtigt, ganz so weit zu gehen, jetzt mußte sie aber noch weiter gehen, er saß ja da und starrte sie an. Ach, es war nicht einmal grenzenlose Frechheit von ihr, es war Zanksucht, Großtuerei, sie wollte überlegen sein und das letzte Wort behalten: Glaubst du mir nicht? rief sie. Erinnerst du dich an die Kindsleiche im Hafen? Die hatte ich hineingeworfen.
Was! rief er.
Die Kindsleiche damals. Du weißt auch gar nichts mehr! Wir haben doch in der Zeitung davon gelesen.
Nach einer Weile brach er los: Du bist ein entsetzliches Weib!
Aber seine Verwirrung stärkte sie, flößte ihr eine Art unnatürlicher Kraft ein, so daß sie Einzelheiten berichten konnte: Ich hatte es mit in meinem Koffer – ja, es war tot, das hatte ich gleich getan, als es geboren war. Und als wir in den Hafen kamen, warf ich es hinaus.
Axel saß finster und schweigend da; aber Barbro redete weiter, das sei jetzt schon lange her, schon mehrere Jahre, es sei damals gewesen, als sie nach Maaneland kam. Da könne er sehen, daß nicht alles herauskomme, bei weitem nicht alles. Was er meine, wie das wäre, wenn alles herauskäme, was alle Leute täten? Und was erst die verheirateten Leute in der Stadt täten! Die brächten ihre Kinder um, ehe sie geboren seien, es gebe besondere Arzte dafür. Diese Leute wollten nicht mehr als ein Kind, höchstens zwei Kinder haben, und darum tötete es der Doktor im Mutterleib. Axel könne ihr glauben, daß das draußen in der Welt nicht schwer genommen werde.
Axel fragte: Na, dann hast du wohl das zweite Kind auch umgebracht?
Nein, erwiderte sie äußerst gleichgültig. Das habe ich nicht nötig gehabt, sagte sie. Aber sie kam noch einmal darauf zurück, daß es gar nicht so gefährlich gewesen wäre. Sie schien daran gewöhnt, dieser Frage in die Augen zu sehen, deshalb blieb sie so gleichgültig dabei. Beim erstenmal war es allerdings vielleicht etwas grausig, ein klein wenig unheimlich für sie gewesen, ein Kind umzubringen, aber das zweitemal? Sie konnte mit einer Art von geschichtlichem Gefühl an die Tat denken: Das war geschehen und geschah auch wieder.
Mit schwerem Kopf verließ Axel die Stube. Es focht ihn weiter nicht sehr an, daß Barbro ihr erstes Kind umgebracht hatte; das ging ihn nichts an. Und daß sie dieses Kind überhaupt gehabt hatte, darüber war auch nicht viel zu sagen. Eine Unschuld war sie nicht gewesen, und sie hatte sich auch nicht dafür ausgegeben. im Gegenteil, sie hatte ihre Erfahrenheit durchaus nicht verborgen und ihn sogar in manchem dunkeln Spiel unterwiesen. Gut. Aber dieses letzte Kind hätte er gerne behalten, ein kleiner Junge, ein weißes Geschöpfchen in einen Lappen gewickelt! Wenn sie schuld war an des Kindes Tod, so hatte sie ihm ein Unrecht zugefügt, ein Band zerschnitten, das ihm wertvoll war und das ihm nie mehr ersetzt wurde. Aber es konnte ja sein, daß er ihr unrecht tat, daß sie wirklich im Bach ausgeglitten war und sich nicht mehr aufrichten konnte. Allerdings, der Lappen war ja da, das halbe Hemd, das sie mitgenommen hatte ...
Die Stunden gingen auch jetzt hin, es wurde Mittag und es wurde Abend. Und als Axel zu Bett gegangen war und lange genug ins Dunkel hineingestarrt hatte, schlief er ein und schlief bis an den Morgen. Ein neuer Tag brach an, und nach diesem Tag kamen noch andere Tage.
Barbro blieb immer dieselbe. Sie wußte sehr viel von der Welt und behandelte solche Kleinigkeiten, die hier auf dem Lande Gefahren waren und Schrecken verbreiteten, mit Gleichgültigkeit. Das war auch wieder tröstlich, sie war gescheit für beide, unbesorgt für beide. Übrigens sah sie auch nicht aus wie ein gefährlicher Mensch. Barbro ein Ungeheuer? Keine Spur. Sie war im Gegenteil ein schönes Mädchen, blauäugig mit einem Stumpfnäschen, und die Arbeit ging ihr flink von der Hand. Die Ansiedlung war ihr nur ein wenig verleidet, und verleidet waren ihr auch die Holzgeschirre, die so oft gescheuert werden mußten, und vielleicht war ihr auch der ganze Axel verleidet, und das ganze verfluchtzurückgezogene Leben, das sie führte. Aber sie brachte keines der Tiere um und stand auch nicht bei Nacht mit gezücktem Messer über ihm.
Nur noch einmal kam es dazu, daß die beiden über die Kindsleiche draußen im Walde miteinander sprachen. Axel wiederholte noch einmal, sie hätte auf dem Kirchhof begraben und mit Erde bedeckt werden sollen, aber Barbro blieb auch jetzt dabei, daß ihre Handlungsweise ganz recht gewesen sei. Bei dieser Gelegenheit sagte sie etwas, das zeigte, daß auch sie überlegte, ho, und schlau war, und weiter sah, als ihre Nase reichte, ja, daß sie mit einem kleinen ärmlichen Negergehirn dachte: Und wenn es auch aufkommt, dann spreche ich mit dem Lensmann, ich habe bei ihm gedient, und die Frau Heyerdahl hilft mir. Es stehen nicht alle so gut wie ich, und sie werden doch freigesprochen. Und außerdem steht Vater gut mit den großen Herren, er ist Gerichtsbote und alles, was drum und dran ist.
Axel schüttelte nur den Kopf.
Du glaubst es nicht?
Was du dir einbildest, daß dein Vater ausrichten könne!
Was weißt denn du davon? rief sie ärgerlich. Denk daran, daß du ihn ins Elend gebracht hast, du hast ihm seinen Hof und seinen Lebensunterhalt genommen!
Sicherlich hatte sie eine Art Vorstellung davon, daß ihres Vaters Ansehen in der letzten Zeit eingebüßt hatte und daß dies zum Schaden für sie selbst ausschlagen könnte. Was sollte Axel darauf antworten? Er schwieg. Er war ein Mann des Friedens, ein Mann der Arbeit.