Otto von Greyerz
Sprachpillen
Otto von Greyerz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

lidschart

In dem lateinisch abgefaßten Gesetzbuch der Alemannen aus dem 7. Jahrhundert (Lex Alemannorum) wird eine Krankheit erwähnt, «quod Alamanni lidscsrdi dicunt»: welche die Alemannen Lidscardi nennen. In dem etwas später entstandenen Gesetzbuch der Bayern kommt dasselbe Wort in der Form «lidiscarti» vor. Beidemal ist es eine Zusammensetzung des althochdeutschen Dingworts «lid» mit dem von «scart» abgeleiteten Dingwort «scarti» oder «scardi». «Lid» ist dasselbe, was unser heutiges Glied (aus ge-lid), nur ohne die Vorsilbe Ge-, wie z.B. auch unser Glück (aus ge-lück) dasselbe ist was englisch luck. Und «scart» ist eine adjektivische Ableitung (mit -t) von dem alten Zeitwort scëran = scheren, aber mit der ursprünglichen Bedeutung von schneiden, die das Wort z.B. im Simmental noch heute bewahrt hat. Dem «scarti» entspricht lautlich unser «Scharte»; es hat aber die Bedeutung einer Verletzung oder Verstümmelung durch ein schneidendes Werkzeug. Lidscarti, in älterem Schweizerdeutsch als «Lidscherti» erhalten, bedeutet also Gliedverletzung und entspricht in seiner Bildung dem aus den Merseburger Zaubersprüchen bekannten «lidirenki» (Gliedverrenkung).

Wozu diese sprachgeschichtliche Belehrung? Weil die Simmentaler Mundart — vielleicht sie allein — noch das Eigenschaftswort lidschart aufweist, wenn auch in veränderter Bedeutung. Von einer wunden oder gebrechlichen Kuh, wenn sie mit zuckenden, wehen Füßen geht, sagt man dort: Si ischt lidscharti. Auch schwächliche, kränkliche Kinder sind lidscharti, und von einem jungen Mädchen kann man sagen hören, sie täte besser nicht zu heiraten, weil sie lidscharti sei. Ein Beispiel aus der mittelhochdeutschen Dichtung: «Der junge (Lanzelot) sluoc in (nämlich den Riesen) hinden lideschart» (bei Ulrich von Zazikofen).

Die Form «lid» (ohne Vorsilbe ge-) kommt im Schweizerdeutschen, besonders in den Wallisermundarten, mehrmals vor, z.B. ußer Lid = ausgerenkt (Alagna), Swînlid = Schinken; zerlide und erlidere = zerlegen, zergliedern.


 << zurück weiter >>