Otto von Greyerz
Sprachpillen
Otto von Greyerz

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Ihr oder Sie?

Kürzlich konnte man in der Zeitung lesen, die Italiener dächten daran, die Anrede Lei (unser Höflichkeits-Sie) abzuschaffen und zum älteren, einfacheren Voi (unser Höflichkeits-Ihr) zurückzukehren. Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, nicht der Glaube an die Nachricht selbst, wohl aber an den Sieg der Vernunft über eine eingewurzelte Sprachsitte. Es ist auch nicht zum erstenmal, daß in Italien ein Anlauf gegen das höfische Vostra Signoria und seine pronominale Vertretung Ella, Lei unternommen wird: der erste fand gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts statt. Damals schrieb der durch seine Briefe später berühmt gewordene Annibale Caro an Claudio Tolomei, den Wortführer der Neuerungsbestrebung, obschon er in der Hauptsache nicht mit ihm einverstanden war: es sei in der Tat höchst sonderbar und abgeschmackt, zu jemand, der vor einem stehe, so zu reden, als ob er ein anderer wäre (nämlich in der 3. statt in der 2. Person) und sozusagen zu einer abstrakten Vorstellung von diesem jemand anstatt zu ihm in eigener Person (...cosa strenissima e stomacosa, che abbiamo a parlare con uno, come se fasso un altro; e tuttavia in astratto, quasi con 20 la idea di colui con chi si parla, non con la persona sua propria). Allein dieser Anlauf kam zu spät, fast ein Jahrhundert nachdem die neue Anredeform (Vostra Signoria) bereits Wurzel gefaßt hatte in Italien. Und so blieb es beim Alten.

Aber gesetzt, die Neuerung dränge diesmal durch, nicht in einer Demokratie, sondern in einem diktatorisch regierten Staate wie das Italien Mussolinis, wäre es nicht eine Mahnung an uns Deutsch-Schweizer, unsre altüberlieferte Anredeform «Ihr» aufrecht zu erhalten, wo sie noch besteht, also vor allem unter uns Bernern?

«Mir Bärner säge Dihr, nit Sie» —

so hieß es vor vierzig Jahren in einem Gedicht des «Gletscherpfarrers» Gottfried Straßer, und viel und oft wurde das Wort wiederholt.

Wenn’s nur noch wahr wäre! Aber die Siezerei greift um sich wie die Schminkerei und der Bubikopf. Den Bubikopf kann man wieder nachwachsen lassen; wer aber dem «Sie» verfallen ist, den hat’s; der findet den Weg zum «Dihr» nicht mehr zurück. — «Sie» ist höflicher, natürlich! Das wußte offenbar jener Bauer auch, den ich kaum eine Stunde weit von Bern nach dem Weg fragte und der mir mit «Sie» antwortete, daß es mich fast überschlug («Gange Sie nume hinger em Schüürli dure!»). Oder jener Berner «Ladegumi», den ein Basler Herr im Eisenbahnzug necken wollte: «Saage Sie, loose Sie, dien sie z’Bärn allewil no so ghoomisch schwätze, wisse Sie wie in däm scheene Värs: Was hait-er oder wait-er, Schnuuder oder Aiter?» — «O, es besseret ihm langsam», meinte der Gumi, «so i de bessere Gschäft»...

Ich dachte dabei an ein wirklich besseres Geschäft an der Marktgasse, das von einem Ostschweizer einen groben Brief bekommen hatte, in dem er sich beklagte, ein Ladenfräulein habe ihn mit dem pöbelhaften «Ihr» bedient. Ein gebildeter Mann müsse sich das verbitten, und es wäre höchste Zeit, daß das Personal strikte angehalten würde, sich höflicheren Umgangsformen anzubequemen.

21 Wie steht es eigentlich mit dieser Höflichkeit des «Sie»? Sind wir Berner ein so rückständiges, in Bauerngrobheit verhocktes Volk, daß uns jedes Gefühl für Gesellschaftsformen abgeht? Woher kommt es, daß wir — übrigens nicht nur wir, sondern das schweizerische Landvolk im allgemeinen und die Innerschweizer fast durchweg — daß wir, sage ich, wie die geschliffenen Franzosen bei ihrem vous und die vornehmen Engländer bei ihrem you, bei unserem «Ihr» geblieben sind? Haben wir vielleicht ebenso guten Geschmack bewiesen, indem wir die «Sie»-Mode nicht mitmachen wollten, so wenig als die Engländer, Holländer, Franzosen? Woher kommt denn dieses «Sie», diese Anrede in der Mehrzahl der dritten, abwesenden Person? Woher anders als aus dem deutschen Nationallaster der subalternen Unterwürfigkeit, die dem Vorgesetzten nicht ins Auge schauen darf, sondern Ihro Gnaden und Ehrwürden als dem Angesicht des gemeinen Sterblichen entrückte Halbgötter nur von ferne anblinzelt! Bis gegen das Ende des 17. Jahrhunderts war «Ihr» die allgemein deutsche Anrede hochgestellter oder würdiger Personen; erst im 18. Jahrhundert, in der schlimmsten Zeit der Kleinstaaterei und Despötchenherrschaft drang die Untertänigkeitsform des «Sie» in Deutschland durch, zur Zeit, als der in seines Nichts durchbohrendem Standesgefühl ersterbende Lakai melden mußte: «Der Herr Hofmarschall von Kalb stehen im Vorzimmer» und der Sekretär Wurm, echt wurmhaft, sich mit einem «Ihre Exzellenz haben die Gnade, mir zu befehlen» vor seinem Herrn zusammenringelte. Das Naturwidrige, Unwürdige dieser Lakaiensprache wurde von freien Gemütern sehr wohl empfunden; sie suchten vom «Sie» zum «Ihr» zurückzukehren, wie Goethe in seinen Briefen an Herder tat, oder sie wagten sogar den Sprung zum naturhaften «Du», wie die Stürmer und Dränger taten und wie es sogar der Fürst am Weimarer Hof eine Zeitlang mittat. «Am Weimarer Hof», schrieb der Basler Iselin 1776 von dort, «duzt sich alles, der Herzog, Wieland, Goethe, Lenz, Graf Stolberg.»

Diese Abwendung vom «Sie» spiegelt sich in der Sprache von Goethes und Schillers Dramen jener Zeit; z.B. im «Egmont», wo die Regentin Margaretha v. Parma ihren Kanzler Machiavelli 22 mit Du (bisweilen auch mit Ihr), Egmont den Herzog v. Alba ebenso anredet; oder im «Tasso», wo der Höfling Antonio sogar seinen Fürsten duzt, wie Tasso die beiden Prinzessinnen; oder in der «Natürlichen Tochter», wo trotz französischer Hofsitte alles nur «Du» sagt. In Schillers Dramen, wo häufig zwischen Du-, Ihr- und Sie-Anrede unterschieden wird, zeichnet sich der spanische «Don Carlos» durch das auch zwischen König und Königin gewechselte «Sie» aus, während z.B. in «Maria Stuart» Burleigh, Leicester und Mortimer auf die «Ihr»-Anrede der Königin ungescheut mit «Du» antworten. Hier wird also das «Du» zum Ausdruck der Ehrerbietung, das «Ihr» zu dem der Herablassung!

Aber auch in Weimar wie im übrigen Deutschland siegte die Mode über die Vernunft. Die Hofmode war unwiderstehlich für alle, die bei Hof etwas gelten wollten, und diese wieder wollten selber auch gesiezt sein.

Die Schweiz hatte keine Höfe, und so konnte sich die alte Einfachheit des «Du» und «Ihr» länger behaupten. In Zürich z.B. war bis ins erste Viertel des 19. Jahrhunderts «Ihr» immer noch die höflichste mündliche Anrede, und so gewiß in der ganzen Ostschweiz. So höflich wie möglich erklärte ein Schaffhauser dem neugewählten Dorfpfarrer: «Wüssed-er, Herr Pfarrer, mir ihred halt niemed i der Gma als dich und de President.» Das war sicher um vieles höflicher als jene «Sie»-Anrede, die ich einst am Zürcher Bahnhof zwischen einem Dienstmann und einem andern hinfliegen hörte: «Sie verbrännte Chaib, Sie!» — Ich konnte mich nicht enthalten, dem Wütenden freundlich auf die Schulter zu klopfen und zu bemerken: «In einem solchen Fall würde man in Bern Du sagen.»

Im Bernerland, wo die konventionelle Höflichkeitsform sehr wenig gilt im Vergleich zur wirklichen Höflichkeit des Herzens, und wo selbst mancher Städter noch die Ehrung fühlt und schätzt, die ihm auf dem Lande mit der Anrede «Du» erwiesen wird, im Bernerland hat man die durch die Ostschweiz eingeschleppte «Sie»-Mode bis vor wenigen Jahrzehnten nicht mitgemacht. Selbst im Briefstil, wo sie in Zürich schon früh im 18. Jahrhundert einriß, ist sie nicht 23 völlig durchgedrungen. Es ist hübsch, zu beobachten, wie im Briefwechsel zwischen Jeremias Gotthelf und Amtsrichter Burkhalter (in den 40er und 50er Jahren) der Bauer den Herrn Pfarrer immer mit «Sie» anredet, während Gotthelf häufig das traulichere «Ihr» anwendet; jeder wählt die Form, die dem Stand des andern als Höflichkeitsform gilt. Das ist Höflichkeit des Herzens.

Die Verleugnung des altbernischen «Ihr» — das «Dihr» ist durch Verbindung des auslautenden t der Zeitwortform mit «ihr» entstanden: «weit ihr» wurde «weitihr», und daraus ergab sich ein weit dihr und folglich auch «dihr weit» — die Verleugnung des «Ihr» hat sehr wahrscheinlich im Bundeshaus ihren Anfang genommen, wo der Unterbeamte sich scheute, seinen Vorgesetzten, der ihn mit nord- oder ostschweizerischem «Sie» anredete, mit «Ihr» zu titulieren. Diese Scheu ist durchaus begreiflich, und wenn sich das Siezen des Berners auf den Umgang mit Nichtbernern, die gerne «Sie» hören, beschränkte, so wäre kein Aufhebens davon zu machen. Auch bringt die ungeheure Erleichterung des Verkehrs uns Berner viel häufiger als früher mit andersredenden Landsleuten zusammen, und da wird das mehrheitlich gesprochene «Sie» eben zur Höflichkeitsnorm, der man sich, um nicht eigensinnig und hinterwäldlerisch zu erscheinen, allmählich, wenn auch ungern, unterwirft. Seiner Sprache auch dann noch treu zu bleiben, braucht Mut. Bärndütsch isch Chärndütsch, und es muß einer von diesem Kernigen etwas in sich spüren, um standzuhalten gegen die Sprachmoden.

Aber daß nun Berner sogar untereinander diesen Brauch aufkommen lassen, das sollte nicht sein. Es geht nämlich nicht bloß um das «Sie», sondern um ein bezeichnendes Merkmal des Berndeutschen überhaupt, um das, was unsere Mundart bei den östlichen und nördlichen Landsleuten so beliebt macht: den schlichten, behaglichzutraulichen Ton unserer Gesprächsformen. Setzt man in solchen Alltagssätzchen die Anrede «Sie» statt «Ihr», «Ihnen» statt «Euch», was wird dann aus Grüeß-ech? Vielleicht Grüeß-Sie? kaum; sondern «Tag» oder «Sälü!» oder «Moinz!» Was wird aus «Säget, loset, dihr Manne» — vielleicht Säge Sie, lose Sie, 24 Sie Manne? Was wird aus dem gemütlichen «Syt so guet! Stellet ech vor! Gället, das chan ech’s!» (Gälle Sie, das cha’s Ihne!) «Lat ech doch brichte!» (La Sie sech...), «Was dunkt ech?» (dunkt Sie), «Syt er ech öppe greuig?» (Sy Sie sech...), «Syt ihr froh, daß’s nit chrümmer gangen isch!» «Heit’s nit für unguet!» (Hei Sie’s...), «Ganget mer ga Band houe!» (Gange Sie mer...). Ich traue den Siezern noch so viel gesundes Gefühl zu, daß sie diese abscheulichen Mißbildungen nicht über die Lippen bringen werden — manche sperren sich einem förmlich im Mund vor Unnatur. Aber daß man diese typisch bernischen Wendungen und viele andere aufgeben und Allerweltswendungen dafür einführen wird, das ist die Gefahr. So wird von der Stadt aus — denn auf das gute oder schlechte Beispiel der Stadt kommt es an — ein verbastertes Halbschriftdeutsch verbreitet werden, eine Sprache ohne Rasse und Stil.

Wie wäre es, wenn wir Stadtberner jedes bernische Fest zur Gelegenheit einer heilsamen Übung in gutem Berndeutsch nähmen? Wenn wir ein Bärnfest ohne «Sie» feierten? — Ich meine nicht die «Sie», die, ganz im Gegenteil, jeder mitbringen soll, sondern das «Sie», das unsere Sprache entstellt. Jedem liegt das Hemd näher als der Rock, und so ist die Sprache, sozusagen das Hemd unseres Geistes, das Stück Landestracht, das an einem Fest des Bernertums in erster Linie schmuck und sauber sein sollte.


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