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Was man bei unsern bernischen Landkirchen «Vorschärm» oder «Vordach» nennt: ein kleiner Vorbau beim Haupteingang mit einem von Säulen getragenen Dach, das heißt im Luzernischen, auch im Aargau und in der Mittelschweiz, meistens «Vorzeiche» oder «Vorzeihe» (gespr. forzäije). Was hat das Wort mit Zeichen zu tun?
Als wir im letzten Sommer auf einer Kunstwanderung unter Professor Linus Birchlers kundiger Leitung die schönsten und ältesten Kirchen und Kapellen des Luzerner Gäus besichtigten, war oft von diesen «Vorzeihen» die Rede und wie das Wort zu solcher Bedeutung gekommen sein möchte; denn es schien so durchsichtig aus «vor» und «Zeichen» zusammengesetzt. Aber das eben war ein Irrtum.
Geht man dem Wort in älteren Schriften nach, so findet man es z.B. schon bei dem alemannischen Kanzelredner Geiler von Kaisersberg (im 15. Jahrhundert), der einmal «von dem Vorhof oder Vorzeichen der Priesterschaft» redet. Allein wir haben viel ältere Belege. Die Stelle im Ev.Joh. 10, 23 «Und Jesus ging im Tempel in der Halle Salomonis umher» wird in frühalthochdeutscher Zeit in dem verdeutschten Bibeltext nach Tatian, einem christlichen Syrer des 2. Jahrhunderts, so übersetzt, daß «in porticu Salomonis» mit 63 «in phorzihhe Salomone» wiedergegeben erscheint. In diesem althochdeutschen «phorzihhe» haben wir also das lateinische porticus mit dreifacher hochdeutscher Lautverschiebung: p zu ph (f), t zu z, c zu hh (ch). Die Dativform, mittelhochdeutsch phorzihe, wurde von dem des Lateinischen unkundigen Volk als deutsches «Vorzeichen» umgedeutet und erhielt sich so in der Volkssprache bis auf heute. Der steinerne Säulengang der Römer, den die Germanen als Eingangshalle für Herrenhaus und Gotteshaus verwenden lernten, hat sich also unter dem Namen «Vorzeichen» auf die Eingangshalle der Kirche eingeschränkt und so erhalten.
Das Wort «Halle», das Luther für porticus braucht, ist dem Schweizerdeutschen fremd. Adam Petris Glossar von 1523 erklärt es den schweizerischen Lesern mit «Vorlaub, Ingang, Vürschopf», und die Zürcher Bibelübersetzung von 1531 gibt die Stelle 1. Kön. 6, 5 mit den Worten wieder: «Salomo bauet ein Vorschopf oder Helmhus vor dem Tempel» (Helm = helmartiges Dach).
Ein noch älteres germanisches Wort für Halle ist uns in der gotischen Bibel des Wulfila erhalten, wo Joh. 10, 23 «in ubizvai Solomonis» zu lesen ist. Dem got. ubizva entspricht althochdeutsches obasa, obisa. Bei uns ist das Wort spurlos verschwunden. Aber als ich vor einigen Jahren auf einer Fußwanderung durch das tirolische Ötztal mich in einem hablichen Bauernhaus in Heiligkreuz etwas umsah und die freundlichen Bewohner nach dem ortsüblichen Namen für den steinernen Hausflur befragte, hieß es ohne Besinnen: «Dös ist der Ewissa.» (Ewissa ist entrundete Form von Öwissa, aus Obisa.) Ich wußte mir das Wort nicht zu deuten; aber in Innsbruck führte mich ein germanistischer Kollege auf den Zusammenhang mit dem got. ubizva und althochdeutschem Obisa und wies mich auf tirolische Nebenformen wie Obsen, Obsten.
Erst später entdeckte ich dasselbe allgermanische Wort in dem englischen eaves = Dachtraufe, mundartlich (Essex) oaves.