Otto von Greyerz
Sprachpillen
Otto von Greyerz

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Weihnacht oder Weihnachten?

Natürlich Weihnacht, sagt der trockene schulmeisterliche Verstand; auch müßte es ja Weihnächten lauten, wenn es eine richtige Mehrzahlform sein sollte.

Allein der trockene Schulmeisterverstand hat nicht immer recht, auch hier nicht. Erstens muß man wissen, daß der erste Teil der Zusammensetzung nicht etwa das Hauptwort «die Weihe» ist, sondern ein ehemaliges Eigenschaftswort: althochdeutsch «wîh» — heilig, das zum Beispiel auch in «Weihrauch» (wîhrouch) — heiliger oder geweihter Rauch enthalten ist. Dann versteht man schon besser, daß der älteste uns überlieferte Name für das Christfest «zen wîhen nachten» lautet, also: zu den (oder in den) heiligen Nächten. Damit wurden, da man in germanischer Zeit nicht nach Tagen, sondern nach Nächten zählte (vgl. engl. a fortnight, aus fourteen nights = 14 Tage), die heiligen Nächte oder vielmehr Tage zwischen Weihnacht und Epiphanias (6. Januar) bezeichnet, die sogenannten Zwölfnächte, die schon in heidnischer Zeit als die heiligen Nächte der Wintersonnenwende galten. Unter diesen heiligen Nächten wurde in späterer christlicher Zeit der Geburtstag oder die Geburtsnacht des Heilandes als die eine, wichtigste «weihe Nacht» oder Weihnacht ausgezeichnet. In der Zusammensetzung verlor das Eigenschaftswort seine Biegungsendung, und so entstanden sowohl Weihnachten als Weihnacht, ähnlich wie Jungfrau (junge Frau), Edelmann (der edele Mann), Übeltat (übele Tat), Hochzeit (hohe Zeit = festliche Zeit), Deutschland (das deutsche Land). Man findet sogar die Form «in Deutschlanden» überliefert, also übereinstimmend mit der Bildung Weihnachten.

Wie gesagt, die Mehrzahl Weihnachten ist das Ursprüngliche und, wie aus dem «zen wîhen nachten» hervorgeht, eigentlich eine Zeitbestimmung im Dativ der Mehrzahl, wie wir z.B. in Mitternacht eine Dativbestimmung der Einzahl (in mitter Nacht = in mittlerer Nacht) erkennen. Die Dativform ist also, aus ihrem syntaktischen Zusammenhang herausgenommen, zur Nominativform 88 geworden. Das kommt auch bei Genitivformen vor, zum Beispiel bei dem verkürzten Namen «Allerseelen» (Tag aller Seelen) oder auch in «allerlei» (aller Art); oder auch, um ein schweizerdeutsches Beispiel zu geben, bei «Läbtig», das aus der Genitivverbindung, «meiner Lebtage» zum Nominativ geworden ist (Das isch mer e Läbtig!). Erstarrte Dativformen erkennen wir in zahllosen Ortsnamen, die wir jetzt als Nominative empfinden und von dieser Form aus abermals deklinieren: Neuenburg (aus: auf der neuen Burg), Genitiv Neuenburgs, Schwarzenberg, Tiefenbrunnen, Hohenems usw.

Nun noch das «Nachten» anstatt des erwarteten «Nächten». Schon im Althochdeutschem kam «nacht» in zwiefacher Deklinationsform vor; es lautete im Dativ der Mehrzahl sowohl «nachtum» als «nachtim». Dieses i (der sog. i-Deklination) wirkte umlautend auf das a der Stammsilbe, das u hingegen nicht: aus nachtim wurde «Nächten», aus nachtum wurde «Nachten». Schon althochdeutsch gab es einen adverbiellen Dativ der Einzahl «nachti», der sich in unsrem schweiz. «nächti» (eigentlich in der Nacht, nämlich in der letzten) erhalten hat. Dativformen der umlautlosen Biegung haben sich neben umgelauteten Formen besonders in Ortsnamen erhalten, so in Nußbaumen (neben sonstigen Bäumen), Seelhofen (Höfen), Schaffhausen (Häusern), Churwalden (Wäldern).

Die Antwort auf die gestellte Frage lautet also: Weihnachten und Weihnacht, beides ist nach Sprachgebrauch und Sprachgeschichte gut begründet; aber ein feineres Ohr hört doch den Unterschied der Bedeutung noch heraus: Weihnachten als ursprüngliche Mehrzahl bezeichnet mehr die Weihnachtstage, die Weihnachtszeit, so daß man sich, auch mit sprachlichem Recht, auf Weihnachten freut, um Weihnachten keine Alltagsgeschäfte haben will, sich im Andenken an die Kinderzeit an Weihnachten erinnert und seinen Freunden frohe Weihnachten wünscht; die Weihnacht dagegen ist die eine, die heilige Nacht des Christkindes.

Auch «Ostern» und «Pfingsten», nebenbei, sind Mehrzahlformen, aber sie sind zu Einzahlbegriffen erstarrt und lassen eine Unterscheidung wie zwischen Weihnacht und Weihnachten nicht zu.


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