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XX

Nach dem Rückschlag durch die amerikanische Kommission sollte ein Glücksfall kommen, und zwar von einer Seite her, von der wir es am wenigsten erwartet hatten, von dem neuen Gouverneur. Es war niemand anderer als der alte Staatsrat, der ehemalige Gehilfe meines Vaters im Ministerium, La Forest, dessen Laufbahn ich in einem früheren Teil dieses Berichtes z. T. erzählt habe. Ich behaupte nicht, daß er mir, dem Sohne seines früheren Todfeindes, vielleicht aus Widerspruchsgeist gegen meinen Vater, der sich von mir abgewandt hatte, wohlwollender gegenüberstand als sein Vorgänger. Die Motive tun nichts zur Sache, die Tatsachen sprechen für sich.

Die Sache war so, daß wir uns sofort nach der Ankunft bei dem hohen Beamten meldeten und ihm unsere Ergebnisse auf den Tisch legten.

Zehn Männer, zehn Protokolle, zehn Versuche.

Wir sprachen alles offen aus. Nun muß ich etwas berichten, das man mir schwer nachempfinden wird. War es die Ermüdung durch die allzu großen Anstrengungen unserer Arbeit, waren es die Folgen der Y. F.-Erkrankung, die ich an meinem Leibe durchgemacht hatte und welcher noch keine richtige Erholung gefolgt war – ich weiß es nicht, was es war, das mich jetzt mit Zweifeln an der Wahrheit unseres Axiom I erfüllte. Ich zweifelte an mir, ich zweifelte an allem.

Als unser Bericht auf dem Tisch des Beamten zur Durchsicht lag, kehrte ich wortkarg und zitternd wie vor Frost in unsere Behausung zurück. Ich lebte jetzt mit Carolus zusammen in der Wohnung des verstorbenen Stadtarztes, des Magisters F., dessen Stellung ich antreten sollte. Aber konnte ich es? Ich wußte es nicht. Ich sah nichts von unseren teuer erkämpften Resultaten als gewiß an. Ich bereute. Ich war an meiner Gottähnlichkeit irre geworden. Das Schicksal Walters, Marchs, der Witwe Walters, der Kinder, selbst der Tod des Soliman lag mir schwer auf dem Herzen. Hätte ich das alles, wenn ich am Beginn gestanden hätte, wiederholt? Vielleicht doch?! Ich hätte es noch einmal getan – und nochmals bereut!

Und wenn auch alles mit der Wahrheit übereinstimmte, wie sollte man dem Axiom I Glauben verschaffen? Waren unsere Experimente überzeugend? Wir hatten vielleicht doch noch zu wenig Experimente gemacht! Wie oft haben sich Forscher getäuscht! Wenn die Kommission uns den Glauben verweigert hatte, war es dann möglich, einen Gouverneur zu überzeugen? Ich glaube, daß auch Carolus von Zweifeln nicht frei war. Man kann nur sehr schwer Richter in eigener Sache sein.

Wir verstanden uns auch ohne Worte sehr gut, und bald war ich imstande, mich soweit zu beherrschen, daß ich am Morgen des nächsten Tages einen kleinen Scherz wagte, eine läppische Sache, kaum wert, daß man sie erzählt Carolus hatte die Gewohnheit, sich mit einem alten, recht ausgedienten Rasierpinsel einzuseifen. Da er sich nachher das Gesicht nicht richtig abspülte, blieben Haare vom Rasierpinsel in den Furchen auf seiner Wange kleben. Ich machte ihn lachend darauf aufmerksam, daß er wieder jung und blond geworden sei, und er antwortete ebenso fröhlich, daß ich alt und grau geworden sei. Es war, als ob er meinem innersten Wesen antworte und nicht meiner blöden Bemerkung.

Aber wie stand es wirklich um ihn? Nur derjenige, der in seinen Zügen lesen konnte, sah die furchtbare Unruhe, die sich in ihnen aussprach.

So waren auch seine Worte zu verstehen, die er mir vor dem zweiten Besuch bei La Forest ins Ohr flüsterte: »Georg, bleibe auf alle Fälle ruhig! Ich gebe unsere Sache nicht auf, und wenn es mich meine letzten Lebensjahre und die letzten Goldstücke kosten sollte.« Wir kamen immerhin in sehr trüber Stimmung auf die Straße, und diese Seelenlage wurde nicht tröstlicher, als mir an einer Straßenecke March entgegentrat, und zwar wieder in Gesellschaft einiger wüster, vollständig zerlumpter Gesellen. Er unterschied sich nicht von ihnen, er war ebenso heruntergekommen, fast möchte ich sagen, ebenso vertiert wie die bedauernswerten Kreaturen, welche die Verwaltung der Kolonie hier weder leben noch sterben läßt. Soll ich ihn und sie beschreiben, soll ich die Bruchstücke ihrer zynischen Reden wiedergeben? Wozu? Er sah an mir vorbei, seine Augen glänzten krankhaft, die Pupillen waren winzig, offenbar stand er unter der Wirkung von Alkohol und Morphium. Wie er so weit sinken konnte, was ihn abgehalten hatte, den Weg in die Heimat zu finden, den jeder an seiner Stelle (ich vielleicht aber auch nicht) mit tausend Freuden gegangen wäre, was aus dem Gelde des großmütigen Carolus geworden war, davon will ich nicht sprechen, es sind Dinge nur von persönlicher Bedeutung.

Nun stand die Sache im Vordergrunde. Und wenn mich etwas über den Verlust, den anscheinend unaufhaltsamen Verfall und Untergang meines Freundes trösten konnte, war es die Unterredung, die wir an diesem Vormittag mit La Forest begannen und die sich mit geringen Unterbrechungen bis in die Nacht erstreckte. Sie wurde meist direkt zwischen Carolus und La Forest geführt. Ich hatte nach meinen Erfahrungen mit der Kommission den Eindruck, es sei das beste, wenn ich mich persönlich nicht in den Vordergrund drängte. Ich als der begnadigte Sträfling G. L. konnte unserer Sache nicht dienlicher sein, als wenn ich mich vollständig zurückhielt. In allen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die bald erfolgten und welche die Verbreitungsweise des Y. F. betrafen und in denen unsere Arbeiten dargestellt wurden, komme ich nur als »Fall fünf« vor. Die Ehrungen, die sich im Laufe des Jahres an diese Ergebnisse knüpften, kamen Carolus und dem Andenken Walters zugute. Mein Name wurde nicht genannt. Auch hier in diesem Berichte habe ich meinen eigentlichen Namen verschwiegen.

Das wichtigste war, daß La Forest ebenso entschieden auf unserer Seite stand wie die amerikanische Kommission auf der Gegenseite. Keine von beiden hatte das Axiom I. nachgeprüft. Eine einfache, mechanische Wiederholung solcher schauerlicher Experimente durfte nicht stattfinden und fand auch nicht statt. Aber der Gouverneur zeigte uns als praktischer Verwaltungsmann einen anderen Gültigkeitsbeweis. Er überließ es der Wahrheit, sich praktisch zu bewähren. Das heißt, er entwarf ein für zwei Jahre (aus denen dann immer mehr wurden) berechnetes Programm. Er wollte die Stechmücke Stegomyia, Gattung culex, ausrotten. Dann war, (wenn unsere Theorie richtig war und sie war richtig – wie das Amen im Gebet stand sie fest!), auch das Y. F. ausgerottet. In einem der Camps, das die Zahl vierundfünfzig trug, war eben eine frische Y. F.-Epidemie (die erste seit langer Zeit unter den Deportierten) im Entstehen. Er fuhr mit uns hinaus ins Lager. Vorher verständigten wir uns mit dem Direktor der Strafkolonie. Wir bildeten ein neues Kollektiv; nicht das letzte. La Forest war nicht ohne Nutzen der Schüler meines Vaters gewesen, er kannte die Kunst der Menschenbehandlung, er wußte alle Saiten anzuschlagen, er konnte auf jeder Flöte spielen. Zum erstenmal in der Geschichte dieser Kolonie arbeiteten die verschiedensten Ressorts harmonisch zusammen. Der Erfolg zeigte sich. Schnell. Regelmäßig. Einwandfrei. Das Herz des Statistikers in Carolus lachte. Die Sterblichkeit, die ein ungeheures Maß erreicht hatte, sank mit jedem Monat. Welch herrliche Kurve zeichnete mein alter Freund! Er wurde jung. In voller Frische harrte er drei Jahre aus und kehrte erst dann heim.

Der Verwaltungsbezirk wurde nach und nach frei von Y. F. Hand in Hand damit ging die Bekämpfung der Malaria. Wir fanden, daß die zwei nahe verwandten Arten von Insekten doch keineswegs die gleichen Lebensbedingungen besaßen. Die Gattung culex legte ihre senkrecht stehenden, zu einem kunstvollen Schiffchen aufgebauten Eier vorzugsweise in künstliche Wasseransammlungen, Regentonnen, Zisternen. Die Anopheles, die Erreger der Malaria (oder besser gesagt, die Zwischenträger) aber bringt sie in natürlichen, doch kleinen Wassertümpeln unter. Die Eier sind locker gereiht, waagerecht zur Wasserfläche, so daß jeder Windstoß sie zerstreut. Unregulierte Flüsse und Bachläufe in den Tropen treten fast allgemein zu gewissen Jahreszeiten aus, sie hinterlassen bei ihrem Zurücktreten in ihr altes Bett stehende Pfützen und faulende Tümpel. Hier hausen sie. Hier muß der Hygieniker ansetzen. Fließendes Wasser beherbergt keine Mücken.

Die ersten zu unternehmenden Kulturarbeiten bestehen darin, die Ansammlungen stehenden Wassers durch gut ziehende, häufig gereinigte Gräben abzuleiten oder dieselben zuzuschütten. Wir bauten. Wir hatten ungeheures, billiges Menschenmaterial; die Arbeit war nutzbringend, man konnte die Lebenslage vieler Tausender von Menschen, die elender als das Vieh vegetiert hatten, wesentlich verbessern. Zur Mückenbekämpfung verwandten wir nach alten Erfahrungen in Malariagegenden Erstickungsmittel, welche die Wasseroberfläche von der Luft abschlossen. Dann müssen die Mückenlarven absterben, da sie stets an die Oberfläche des Wassers kommen, um durch ihre Luftleiter (Tracheen) die Luft einzuatmen. Wir verhinderten durch Desinfektion und mückensichere Türen und Fenster die Weiterverbreitung des Y. F. Wir hatten unglaublich viel Arbeit, aber noch mehr Glück.

Wir assanierten allmählich ein Gebiet, das größer als Europa ist. Wir setzten die Sterblichkeit auf einen Bruchteil hinab. Wir rotteten das Y. F. hier aus. Andere folgten uns. Der Kampf gegen die Mücken und um die Kolonisation des reichen Gebietes war ein spannender, jahrelanger, gut verlaufender Kampf.

Die Gegend blühte auf.

Meine Person scheidet dabei aus.

Ich verschwand in der Menge, und das ist gut so.

Zeittafel

1882 am 28. August wird Ernst Weiß als zweiter Sohn des jüdischen Tuchhändlers Gustav Weiß und seiner Frau Berta, geb. Weinberg, in Brünn/Mähren geboren.

1886 am 24. November stirbt sein Vater.

1902 am 11. Juli Reifeprüfung am 2. deutschen Gymnasium in Brunn.

1908 Nach zehn Semestern Medizinstudium (zwei vorklinische Semester in Prag) promoviert Weiß am 4. 7. in Wien. Danach ärztliche Tätigkeit an der Klinik Dr. Kochers in Bern und bei Geheimrat Bier in Berlin. Nach einer Lungentuberkulose tritt Weiß die Stelle eines Schiffsarztes auf der »Austria« des Österreichischen Lloyd an, ein Schiff, auf dem er bis nach Indien und Japan gekommen sein soll.

1911 Rückkehr nach Wien. Anstellung in der chirurgischen Abteilung des Wiedener Spitals unter Prof. Julius Schnitzler (einem Bruder des Schriftstellers Arthur Schnitzler).

1913 Die Galeere, sein erster Roman, die Geschichte eines Strahlenphysikers und Röntgenologen, erscheint bei S. Fischer, Berlin. Erste Bekanntschaft mit Franz Kafka. Längere Aufenthalte in Berlin.

1914 Einberufung in das k. u. k. Landwehrinfanterieregiment Linz und Dienst als Regiments- und Chefarzt in der Etappe und an der Ostfront.

1916 erscheint sein Roman Der Kampf bei S. Fischer, Berlin. Die Korrektur der Druckfahnen dieses Buches besorgte er gemeinsam mit dem ihm befreundeten Franz Kafka. Eine Neufassung dieses Buches erschien 1919 unter dem Titel Franziska in »Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane«.

1918 Im Januar erhält Weiß das Goldene Verdienstkreuz der Tapferkeitsmedaille.
Tiere in Ketten. Roman. Erscheint bei S. Fischer, Berlin.
Das Versöhnungsfest. Eine Dichtung in vier Kreisen. Erscheint in der Zeitschrift »Der Mensch«; 1920 als Buch bei Georg Müller, München.
Der Roman Mensch gegen Mensch erscheint im Verlag Georg Müller, München.

1919 Nach kurzem Aufenthalt in Berlin kehrt Weiß nach Prag zurück, wo er vom Oktober 1919 bis September 1920 in der Chirurgie des Allgemeinen Krankenhauses arbeitet.
Am 11. Oktober erlebt er im Deutschen Landestheater Prag die Premiere seines Dramas Tanja, das begeistert aufgenommen wird. Die Titelrolle spielt seine Geliebte Rahel Sanzara. Tanja. Drama in drei Akten. Erscheint im Genossenschaftsverlag, Wien/Leipzig.

1920 Stern der Dämonen. Erzählung, erscheint im Genossenschaftsverlag, Wien/Leipzig.

1922 Nahar. Roman, erscheint bei Kurt Wollt, München.

1923 Hodin. Erzählung, erscheint im Verlag H. Tillgner, Berlin. Uraufführung der Tragikomödie Olympia im Berliner Renaissancetheater, deren Buchausgabe im Verlag Die Schmiede, Berlin, erscheint. Atua. Drei Novellen. Erscheinen bei Kurt Wolff, München.
Die Feuerprobe. Roman. Erscheint mit Radierungen von Ludwig Meidner im Verlag Die Schmiede, Berlin.

1924 Der Fall Vukobrankovics. Kriminalreportage. Erscheint im Verlag Die Schmiede, Berlin.
Daniel. Erzählung, erscheint im Verlag Die Schmiede, Berlin.

1925 Männer in der Nacht. Roman (um Balzac) erscheint im Propyläen Verlag, Berlin.

1928 Boetius von Orlamünde. Roman (spätere Auflagen auch unter dem Titel Der Aristokrat). Erscheint bei S. Fischer, Berlin, und wird mit dem Adalbert-Stifter-Preis ausgezeichnet und erhält die Silbermedaille der Olympiade von Amsterdam. Die Essaysammlung Das Unverlierbare (Meiner Mutter gewidmet). Erscheint bei Ernst Rowohlt, Berlin. Dämonenzug. Fünf Erzählungen (Stern der Dämonen, Die Verdorrten, Franta Zlin, Marengo, Hodin). Erscheint im Ullstein Verlag, Berlin.

1931 Georg Letham. Arzt und Mörder. Roman. Erscheint bei Zsolnay, Wien.

1933 im April kehrt Weiß nach über zehnjährigem Berlinaufenthalt nach Prag zurück, um seine 1934 sterbende Mutter zu betreuen.

1934 Der Gefängnisarzt oder Die Vaterlosen. Roman. Erscheint im Verlag Julius Kittls Nachf., Mährisch-Ostrau.
Nach dem Tode seiner Mutter emigriert Weiß nach Paris und fristet mühsam u. a. als Mitarbeiter der Emigrationszeitschriften »Die Sammlung«, »Das neue Tage-Buch«, »Maß und Wert« etc. sein Leben, zuweilen unterstützt durch Zuwendungen von Stefan Zweig und Thomas Mann.

1936 Der arme Verschwender. Roman (Für Stefan Zweig). Erscheint im Querido Verlag, Amsterdam.

1938 Der Verführer. Roman (Thomas Mann gewidmet). Erscheint im Humanitas Verlag, Zürich.
Für einen literarischen Wettbewerb der »American Guild for German Cultural Freedom« reicht Weiß erfolglos seinen Hitler-Roman »Der Augenzeuge« ein, dessen erste Fassung postum erst 1963 unter dem Titel Ich, der Augenzeuge (im Verlag Kreisselmeier, Icking/München) erscheinen kann. 1940 am 15. Juni, dem Tag nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris, nimmt Ernst Weiß sich das Leben.


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