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Die Natur ist es nicht, die einem Menschen meiner Art den wahren Bruder gibt. March war mir mehr geworden, als mir mein Bruder bedeutet hatte. Ich begriff es in dieser Nacht tiefer als je zuvor. Und dennoch blieb mir nur übrig, mich von March zu trennen.
Die Frage war, sollte ich vor ihm schweigen oder sollte ich ihm meine Gründe klarlegen, oder vielmehr den einen Grund, nämlich den, daß ich nach dem Vorhergegangenen nie mehr Vertrauen zu ihm haben konnte. Ohne Liebe kann man zusammenleben, wenn man muß, aber ohne Vertrauen nicht. Er durfte mir, wenn es nicht anders ging, persönlich nahetreten und mich beleidigen. Denn ich hätte es begriffen, daß er nicht bloß »ein Mittel zum Zweck« in meiner Hand sein wollte. Ich hatte begriffen, aus welchem Grunde er bei dem (für den Gang unserer Forschung grundsätzlich so wichtigen) Experiment an der Frau Walters von mir hatte abfallen wollen. Keineswegs aus Liebe zu der Frau, die ihn schon wegen seiner abnormalen Veranlagung nicht fesseln konnte; sondern nur aus Eifersucht auf mich, und besonders auf die Untersuchung, die mich allmählich fast bis zum letzten Rest absorbiert hatte, hatte er sich geweigert, mir darin zu folgen, »bis zum letzten Rest«. Was waren ihm alle Frauen und Witwen der Welt? Was lag ihm an dem ungeborenen Kind?
Hemmungslos wie er war, wollte er mich besitzen. Er wollte, wenn schon eine körperliche Vereinigung unmöglich war, in meinem seelischen Leben die erste und mehr als das, die einzige Rolle spielen. Er wollte oben liegen – und ein Mann sein. Nur um sein zweifelhaftes Übergewicht zu demonstrieren, hatte er sich da droben im Himmelbett hingepflanzt und mir den niederen Platz im Höllenpfuhl neben dem Rattengesindel angewiesen. Ich hatte ihn allmählich verstanden und hatte ihm verziehen. Ohne ein Wort. Man muß nicht sprechen. Ohne einen Vorwurf. Man muß nicht abrechnen. Aber nun verstand ich ihn noch besser, denn er hatte mich auf den unüberbrückbaren Abgrund zwischen uns in dieser letzten Nacht hingewiesen, ich konnte nicht mehr blind sein. Was tut der Mensch nicht alles, wovon der Mensch nichts weiß?! Alles verstehen, alles verzeihen. Gern, liebend gerne, March, lieber Junge, Lebenskamerad, solange es nur mich selbst betraf. Niemals, wenn er sich gegen meine Arbeit wehrte und wenn er sie zu zerstören versuchte. Mein letztes Wort? Ohne das geringste Schwanken mein letztes.
Als ich ihn morgens ansah und die Spuren der Verwüstung in seinem ehemals so jovialen, hier oben dick und froh gewordenen, und inzwischen wieder bis auf die Backenknochen abgemagerten Gesichts bemerkte, als er wieder einmal mit seinen blaugrauen, schönen Hundeaugen an mir hing und einen Vorwurf, einen Zornausbruch, eine »menschliche« Regung von mir erwartete, fiel es mir schwer zu tun, was ich doch tun mußte.
Ich ging zu Carolus in dessen Zimmer hinauf, das er nun nach dem Tode von Walter mit dem jungen Assistenzarzt teilte. Carolus war gerade dabei, seine langen, gelben Zähne zu putzen. Und wie tat er das! Er tauchte eine alte borstenarme, vergilbte Zahnbürste immer wieder, ohne sie abzuspülen, in das Glas, mit drei Finger hohem Mundwasser gefüllt. Wirtschaft! Wirtschaft! Er sparte, auch hier. Und die Tropfen rannen auf sein Nachthemd nieder.
Ich unterbrach ihn bei dieser unappetitlichen Beschäftigung, bat ihn, sich zu beeilen und wartete draußen vor der Tür auf ihn.
March schlich mit auf die Brust hinabgesenktem Kopf einmal und zweimal an mir vorüber. Wie ein Tier, dem doch die Sprache nicht gegeben ist, stieß er mich mit dem Ellbogen an. So wie ein Hund seinen Herrn in die Kniekehlen stößt, um ihn zu einer Lebensäußerung, einem Spaziergang, zu der Darreichung eines Leckerbissens zu veranlassen oder einfach deshalb, um sich, den Hund, bei seinem Herrn in seiner tierisch naiven Art einfach in Erinnerung zu bringen. March, du mußt keine Angst haben, dachte ich bei mir, ohne diese Annäherung zu beachten, ich werde dir nicht schaden. Aber March, das weißt du so gut wie ich, du darfst keine Hoffnung mehr haben, wir müssen uns trennen und du darfst das Laboratorium nicht mehr betreten.
Carolus hatte die besten Beziehungen zu dem Gouverneur-Stellvertreter und dessen Stab. Sein Einfluß und sein Generalsrang vermochten viel. Ich wollte es durchsetzen, daß durch seine Vermittlung dem allzutreu und allzuleidenschaftlich liebenden March kein Nachteil erwachse, sondern daß vielmehr der arme Junge einen bequemen Posten in dem Verwaltungswesen von C. erhalte, dem er dank seiner angeborenen Intelligenz und seiner Willigkeit gewachsen war. Und dann stand ja auch der Plan des Walter in Aussicht, diejenigen Deportierten, die sich wie er, March, den lebensgefährlichen Experimenten zur Verfügung gestellt und tatsächlich erkrankt waren, einer Spezialamnestie zu empfehlen.
Eben kam Carolus, so penibel, wie es ihm möglich war, gereinigt und gesäubert, aus dem Schlafzimmer und wir gingen zum Laboratorium, dessen Tür ich, sehr zum Erstaunen des Generalarztes, vor der Nase des bedrückt hinterherschleichenden March verschloß.
Carolus hatte unzerstörbares Vertrauen zu mir. Und ich, jetzt erkannte ich es, hatte es auch zu ihm.
Ohne Umschweife erklärte ich ihm die Sachlage, die persönliche Seite der Angelegenheit so wenig wie möglich berührend, und wir machten uns vor allem daran, die fehlenden Moskitos, die sich, wie es diese Tiere tagsüber tun, in dunklen Winkeln und Ecken verborgen hielten, herauszuholen. Wir bekamen auch allmählich eine ganze Anzahl zusammen.
Es wurden ihrer sogar mehr, als uns fehlten. Wenn auch die Moskitos auf der Höhe, auf der das Y. F.-Lazarett gelegen war, verhältnismäßig selten waren, mußten sich doch auch solche Insekten von außen her eingeschlichen haben. Und wer sollte die mit Menschenblut getränkten in lebendem Zustande von den ungeimpften unterscheiden?
Es blieb uns also leider nichts anderes übrig, als alle miteinander in dem Glase, das seine präzise Aufschrift nun zu Unrecht trug, einzusammeln und sie insgesamt durch Chloroform zu töten.
Carolus hatte mir schon vor einigen Tagen anvertraut, daß das hochherzige Beispiel Walters etc. bei den einfachen Soldaten der Küstenbatterien nicht ohne Eindruck geblieben war. Wir hätten die Möglichkeit gehabt, mit diesen prachtvollen jungen Menschen zu arbeiten. Nun waren die Menschen da und es fehlten die infizierten Moskitos! Was war zu tun? Wir mußten aus dem Insektuarium neue Tiere hervorholen und sie in vielen Stunden, zu zweit mühselig arbeitend, den Akt des Ansaugens an schwer kranken und sterbenden Y. F.-Patienten vollziehen lassen. Und dann warten. Am besten zehn bis zwölf Tage. Was konnte inzwischen nicht alles geschehen?
Meine Miene war düster, und ich gönnte March kein Wort. Mein Vorschlag, ihn in einer Kanzlei des Sanitätschefs der Verwaltung von C. unterzubringen, hatte die Zustimmung von Carolus gefunden, der sich jetzt in vielem blind auf mich zu verlassen begann. Aber die Mühlen der Behörden mahlen bekanntlich langsam. So kam es, daß March, beschäftigungslos, in stiller und nachts dann auch lauter Verzweiflung dahinlebte und schließlich ohne Worte, aber auch ohne Unterlaß an mein Mitleid appellierte.
Ich hielt ihn hin, bis ich ihm am Vorabend seiner neuen Verwendung Bescheid gab. Klar, kurz und so schonend wie möglich. Er erblaßte und faßte mir in seiner wilden Erregung an den Hals. Dann aber, in einer jähen Wandlung, wechselte der Ausdruck seines Gesichts, seine drohende Gebärde wurde zu einer ungeschickten, aber nur um so mehr rührenden Liebkosung an meiner Brust, wohin sich seine zitternden Finger verirrten. Er ließ keine bitteren Worte mehr hören, appellierte nicht mehr an meine Verzeihung und fragte mich nur mit künstlich fester Stimme, ob mir nicht vor meiner Gottähnlichkeit bange sei.
War ich Gott ähnlich? Ich tat nur, was ich mußte, und schwieg auf seinen stummen, innigst flehenden Blick. Ich strich ihm über sein Haupthaar, das flaumleicht wie das Kleid eines jungen Vogels auf seinem Kopfe zu wachsen begonnen hatte. Vielleicht betete er zu mir, wie sonst Menschen zu Gott beten, ohne daß dieser es will.
Und ebensowenig wie ich seine hündische Unterwürfigkeit wollte, so wenig wollte ich das, was er noch in dieser Nacht vollbrachte. Er war zum letztenmal ins Laboratorium, sein verlorenes Paradies geschlichen, hatte sich aus dem reinen Alkohol der dort in Gläsern vorrätig war, ein unheimliches Rauschmittel zurechtgemischt, (er war doch ein Sohn seines Vaters, wie ich der Sohn des meinigen war), und hatte sich gegen Morgen, nach Gott weiß wie fürchterlicher Nacht – (ich ahnte nichts. Ich schwöre es! Ich schlief!) – mit der durch Alkohol und Todesangst unsicher gewordenen Hand mit dem Armeerevolver des Walter in das Herz treffen wollen. Seine Hand muß aber im entscheidenden Augenblick hinabgesunken sein. Er traf sich. Aber statt in das Herz traf er sich in die Oberbauchgegend, in die Gegend unter dem linken Rippenbogen.