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VI

Mit dem alten Morphinisten verschwindet aber noch etwas anderes, und dies führt weiter in die Geschichte dieses großen Kindes, March, genannt Gummibonbon. Es verschwinden die zwei guten Koffer mit Wäsche und Kleidern und es bleibt zurück der Pappkarton mit der schmutzigen Wäsche und dem noch brauchbaren, aber unverkäuflichen, unansehnlichen, altmodischen Revolver. Ein diabolischer Witz des humoristisch veranlagten Vaters ist es, daß er diesen Gegenständen auch noch das »Andenken« des Sohnes, den alten Kindergrammophonkasten, hinzugefügt hat. Dafür aber verschwindet auch die goldene Uhr des braven Sohnes March. Der Vater hat sein liebes Kind zum Abschied zärtlich an seine moosige Brust gedrückt, Tränen sind an seinen mageren Wangen hinabgeflossen, und er hat seine dicken Augenlider, die wie ein Schwamm im Wasser aufgequollen sind, geschlossen, aber die Hände haben nicht gezittert und haben flink dem gerührten Sohne das letzte Wertstück, die goldene Uhr, aus der linken unteren Westentasche stiebitzt. Jammer über Jammer! Was sage ich, Jammer? Abgrundtiefe Verzweiflung, unermeßliche Enttäuschung. So können Menschen handeln! So kann ein Vater handeln an seinem Sohn! Unbeschreiblich die Sehnsucht nach Louis, nach Lilli, selbst nach dem gestrengen, aber sittlich gefestigten Magistratsbeamten, der ihn, March, aus dem Paradies vertrieben hat und jetzt mit feurigem Schwert vor diesem steht.

March rafft die letzten Reste seiner Energie zusammen, er erscheint noch einmal am Spätnachmittag bei seiner vor Schreck versteinerten Mutter und sagt ihr alles. Die Mutter steht da, die Hände in den Taschen ihrer blauweiß gestreiften Wirtschaftsschürze verkrampfend und flüstert entgeistert ihrem Sohne immer nur zu: Leiser! Leiser! Damit der ehrbare Dentist nichts höre. Jetzt erst begreift sie, was vorgefallen ist. Mit einem Mann! Warum? Mit einem Mann! Wieso? Gibt es nicht schöne und junge Frauen genug? Und du warst doch verlobt! Du warst doch versorgt! Ich war es, gibt March in seiner Verzweiflung zu. Er weiß sich keinen Rat.

Die Mutter durchsucht den Pappkarton. Wenn »wenigstens« die goldene Uhr noch da wäre! Vielleicht hat sich der Papa, ihr Exgatte, nur einen Scherz erlaubt, hat das Ührchen dort versteckt. Nichts. March sagt kein Wort mehr, er beißt die Zähne in die Unterlippe und will gehen, zerstreut faßt er in die Westentasche, um nach der Uhr zu sehen, obwohl ihm jetzt nichts gleichgültiger sein kann als die Stunde und Minute dieses Unglückstages. Die Mutter denkt nach. Könnte man nicht die Polizei hinter dem Gauner und Exgatten hinterhersetzen? Nein, sagt March, es wäre nutzlos und würde das (im Grunde sehr problematische) Eheglück und den Familienfrieden seiner Mutter zerstören. Also was dann? fragt die Mutter. Um eine Ausrede zu haben, wirft March hin: ich gehe nach Amerika.

Diesen Plan greift die Mutter auf. Sie sieht einen Ausweg, sie verschafft ihrem Sohne durch die abenteuerlichsten Anstrengungen noch am gleichen Abend das nötige Geld, wäscht und flickt ihm über Nacht die Hemden und Strümpfe des verlorenen Vaters, in aller Heimlichkeit bringt sie alles in Ordnung, und beide berechnen zum zehnten Male mit Bleistift am Rande der Zeitung, ob der von der Frau bei einer gutgesinnten Verwandten ihres Mannes (des Dentisten) als unverzinsliche Schuld ausgeliehene Geldbetrag bis zum anderen Ufer des Weltmeeres ausreichen wird. Er muß, sagt March endlich, dem die Augen vor Müdigkeit zufallen.

Er schläft ein, er träumt von seinem Freund.

Am Nachmittag des nächsten Tages ist er natürlich nicht im Hafen, wo das Schiff zur Abfahrt nach Südamerika bereit liegt, sondern er wartet vor dem Portal der Handelsschule auf seinen Louis. Sie begrüßen einander forsch, als ob nichts wäre. March spricht zuerst ironisch von seiner Lage, beiläufig wirft er hin, er gehe nach Amerika. Der Junge Louis meint ebenso beiläufig, wer da mitkönnte, ich wäre gleich dabei. Bei diesem unüberlegten Wort, dieser dummen Jungenphrase, packt ihn March. Er legt ihm den Arm um den Hals, seine Stimme zittert, aber er weint nicht. Er sagt ihm, er hätte immer gewußt, welcher Unterschied zwischen Louis und der eigenen Familie wäre, ein Manneswort sei ein Manneswort, Treue sei Treue, Liebe überwindet alle Hemmnisse, die Botschaft klingt, und ähnlichen Unsinn, und er könnte dafür Louis die Hände küssen etc.; er redet absoluten Nonsens. In Gegenwart seines Herzensgefährten, der nach Hause zum Abendessen eilen möchte, ist er seiner Sinne nicht mächtig, nie und nimmer wird er ohne ihn leben. Er beschwört ihn bei allen Heiligen und Unheiligen des Kalenders, unbedingt mitzukommen, Louis, der Kadett, soll das Schiffsbillett im Zwischendeck benutzen, March wird Kohlen tragen, wird Geschirr waschen, wird sich Geld verschaffen, wird seine Uhr versetzen. Aber die ist gar nicht mehr da. Der Junge ist verschüchtert. Trotz seiner Blasiertheit rührt ihn diese hündische Anbetung, wie mich einmal die Anbetung meiner Frau gerührt hat, er lächelt verzeihend, wie man einem hübschen, blondgelockten Kind zulächelt, wenn es die ersten Gehversuche macht. Sie verabreden sich für den Abend im Park bei einem Monument. March ist da, Louis nicht. March wartet die ganze Nacht. Er hungert. Lieber verrecken, als das Reisegeld »seines Louis« in Brot und Wurst umsetzen. Vater und Schwester haben wohl den armen Louis in Ketten gelegt – sonst wäre er doch längst da! Doch!!! March lernt, was Verzweiflung ist, wenn er es bis jetzt nicht kennengelernt hat.

Am nächsten Morgen kommt er zu dem Entschluß, das Haus seines geliebten Jungen aufzusuchen. Maßlos erstaunt öffnet auf sein aufgeregtes Klingeln seine ehemalige Braut. Sie läßt ihn eintreten, sie sieht ihm seinen Kummer, seinen Hunger an den einst geliebten Zügen an, sie kocht ihm Kamillentee, um ihn zu beruhigen. Beruhigen Sie sich, beruhige dich! Sie und du durcheinander. Wäre doch der gute March nur etwas Menschenkenner, etwas Diplomat! Lilli, die Komtesse, ist in einem dunklen Winkel ihres Herzens immer noch für ihn. Aber er wittert nur Verrat, sagt, man möge ihm Louis herausgeben, sonst würde ein Unglück passieren. Herausgeben? Wen? Louis. Ein Unglück? Ja, und er hebt seinen Karton und läßt ihn fallen, wobei der schwere Revolver ein dumpfes Geräusch verursacht. Sie sollen vor ihm zittern, dem Idioten! Lilli verliert endgültig die Geduld. Nachsicht will sie mit March nicht mehr kennen, aber sie beherrscht sich, sie bläst spöttisch mit ihren gespitzten, gesunden, roten Lippen über den heißen Kamillentee und sagt dann, March solle »in aller Ruhe« austrinken und ein paar Keks essen und endgültig verschwinden. Nicht ohne Louis. Louis ist in der Schule. Unmöglich! Louis in der Schule wie an jedem anderen Tag?! Er will die Wohnung durchsuchen, Lilli läßt ihn gewähren, aber sie schiebt ihn, als er bei diesem stupiden Rundgang im Flur bei der Ausgangstür angelangt ist, schleunigst und nicht gerade sanft bei der Tür hinaus und – sperrt hinter ihm zu.

Alles bisherige hat March in ruhigem Ton vorgebracht. Bloß bei der Erwähnung des Zusperrens wird sein Blick bestialisch, und man versteht das, was noch am Abend dieses Tages gekommen ist. March hat Louis auf den Knien angefleht, mit ihm zu kommen – oder ihn zu erschießen. Als der arme Louis zu weinen angefangen hat, hat March – der eine Sekunde vorher noch nicht wußte, was geschehen sollte, die Waffe von unten her auf die Brust seines Herzlieblings gerichtet und bevor der Junge den Lauf wegstoßen konnte, ist das alte, aber immer noch gebrauchstüchtige Gerumpel losgegangen und der erste Schuß ist gefallen. Gefallen ist der arme Liebessklave Louis. Der zweite Schuß war gegen Marchs eigene Brust gerichtet und versagte. Natürlich! Zu einem dritten fehlte, noch natürlicher, der Mut. Traurig, aber wahr. So endete diese keusche Liebesgeschichte eines Frosches mit zwanzig Jahren Zwangsarbeit.


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