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Sollten diese beiden jungfräulichen Wesen auch zusehen, wie eine Mutter nach so fürchterlichen Leiden die Existenz ihres Jüngsten mit ihrem gerade jetzt für ihre Kinder unersetzlichen Leben bezahlt?
Ich muß sagen, als ich von dem Querbette forttrat und zu dem Waschtisch ging, um mir die Hände und das bespritzte Gesicht zu reinigen, war ich in einem solchen Maße der Verzweiflung nahe, wie ich es nach meiner Genesung vom Y. F. und dem Verschwinden meines inneren Schuldgefühls nicht mehr für möglich gehalten hätte.
Die hämischen Worte meines Freundes, die ich jetzt doch als Tatsache nahm, obwohl wenigstens das kleine, aber wohlgebildete Kind die Unglücksprophezeiung durch lautes Schreien und Quäken und Strampeln Lügen strafte, gingen mir zu Herzen. Ich konnte nicht fassen, daß March, daß gerade er, zu dem ich in der letzten Zeit eine innige Zuneigung gefaßt hatte, mir in den Rücken fiel. Aber ich mußte mich zusammennehmen und ich glaube, mein Gesicht hat nichts von dem verraten, was in mir vorging.
Ich kehrte zu der Mutter zurück, sorgte dafür, daß sie bis zum Abgang der Nachgeburt richtig gebettet wurde. Sie war im Erwachen. Während sich bei ihr die Nachwirkungen der Narkose wie gewöhnlich in Würgen und Erbrechen geltend machten, schlug sie die Augen auf. Sie war, wie sie mir flüsternd vor Schwäche mitteilte, noch immer von wehenartigen Schmerzen ergriffen. Aber als ich sie fragte, ob sie glaube, diese bis zum völligen Abschluß der Geburt ohne Beruhigungsmittel ertragen zu können und ihr dabei das Kind zeigte, das von den Schwestern sehr liebevoll und sehr ungeschickt in Windeln gehüllt worden war, so eng, daß das arme Wesen beinahe erstickte, kam sie, die Witwe Walters, mit ihren blassen, feuchten, einen starken Geruch von Chloroform ausströmenden Lippen von der Seite meiner Hand nahe, und sie versuchte in ihrer Torheit, mir die Hand zu küssen. Was sollte ich tun? Nur das eine, zurückspringen, so daß ich beinahe auf dem feuchten, schmutzigen Fußboden ausgerutscht wäre, was den immer noch anwesenden March zu einem theatralischen, höhnischen Gelächter reizte. Aber ich stand bald wieder sicher auf den Füßen. Ich schämte mich des Dankes der bemitleidenswerten Frau und dachte nur daran, ihr alles zu ersparen, was durch menschliches Wirken ihr erspart werden konnte.
Ich setzte mich an den Rand ihres Bettes, nahm zur Beruhigung ihre fliegenden Hände in die meinen, und wartete auf den Abschluß der Geburt, den normalen Abgang der Nachgeburt. Auch das war ein kritischer Augenblick. Nur zu oft schließen sich an die Ablösung des Mutterkuchens lebensgefährliche Blutungen an, und der Zustand der Frau war derart, daß sie auch nicht einen Tropfen Blut mehr verlieren durfte. Glücklicherweise ging dieser Augenblick gut vorüber. Mit einem schweren, aber die Brust richtig erleichternden Seufzer setzte sie sich auf, drückte und preßte schnell die Nachgeburt aus. Blut sickerte kaum nach. Wir legten ihr frische Tücher unter, flößten ihr etwas kalten Tee ein, (so kalt, als es bei der Bärenhitze möglich war), brachten das Kind in einem Körbchen unter, das sonst der Oberin für Haushaltszwecke gedient hatte, (denn man hatte die Beschaffung einer Wiege vergessen), löschte das Licht und ließen nur ein kleines Öllicht brennen, das auf das Nachttischchen zu stehen kam.
Die anderen hatten den Raum bereits auf den Zehenspitzen verlassen. Der Raum füllte sich mit den regelmäßigen Atemzügen der einschlafenden Mutter, zu denen sich die viel schnelleren und noch leiseren Atemzüge des schlafenden Kindes gesellten.
Der Irispuder, womit die Schwester das Kind eingestäubt hatte, duftete zart, und mit diesem Duft vereinigte sich schon der etwas süßliche Duft der Milch, die bereits jetzt aus der hohen Brust der still schlafenden Mutter zu dringen begann. Ich legte auf die Brüste eine leichte Schicht keimfreier Watte und fühlte vor dem Gehen mit der Hand über die Stirn der Frau. Das Fieber, das ich so sehr fürchtete, (Gelbfieber oder Geburtsfieber?), hatte noch nicht begonnen. Ihr Schlaf war nicht tief. Als ich mit meiner Handfläche über ihr Gesicht strich, hob sie die Augenlider und ihre langen Wimpern streiften die Innenseite meiner Hand. Sie wollte mir etwas sagen und mit Willen ihre sonst so laute, grelle Stimme dämpfend, begann sie einige Sätze, aber ich wollte und konnte sie nicht anhören, ich preßte ihr nur zart meine Hand auf die Lippen und bat sie, sich unbedingt ruhig zu verhalten. Denn bei dieser, wie bei jeder operativen Geburt, ist die Gefahr der Nachblutungen groß.
Die Hilfsschwester betrat eben wieder das Zimmer, um nachtsüber bei der Frau zu wachen. Besondere Hilfeleistungen waren hoffentlich nicht vonnöten. Ich trug ihr nur auf, alle zwei Stunden den Puls und die Temperatur zu messen und durch Aufheben der Steppdecke sich zu überzeugen, ob keine Blutung eingetreten sei. Denn mehr als einmal ist es vorgekommen, daß sich Frauen nach so schwierigen Geburten, ohne daß es eine Menschenseele gemerkt hat, mäuschenstill in ihrem Bett verblutet haben. Ich bat das Schicksal, es mit dieser Frau gut zu meinen.
Als ich meine Weisungen an die Schwester richtete, fiel mir auf, daß ihre Blicke mit einem Ausdruck der Abwehr auf mich gerichtet waren, den ich mir nicht erklären konnte. Aber das flackernde, dünne, blaßgoldene Licht der winzigen Ölflamme war vielleicht daran schuld, dachte ich mir, weil es die Züge wie eine Karikatur verzerrte.
Ich kehrte in meinen Schlafraum zurück. Ich war hundemüde und hoffte, ebenso wie nach dem Tode der teuren kleinen Portugiesin, meinen selbstquälerischen Gedanken durch einen tiefen, traumlosen, gramlosen Schlaf zu entgehen. Aber zu meinem Erstaunen war mein Bett besetzt. March hatte sich in den Kleidern und Schuhen, wie um sein Herrenrecht zu betonen, über das Bett geworfen. Er schlief noch nicht, sondern glotzte mich von unten herausfordernd an. Ich biß mir auf die Lippen, kleidete mich aber stillschweigend aus und legte mich auf den Fußboden, wo er bis jetzt gehaust hatte. Mein »Bett«, auf dem sich jetzt March wälzte, war kein französisches Kurtisanenbett gewesen. Wie wäre denn auch ein solches in den Ölkeller des Y. F.-Hospitals gekommen? Dennoch war es fürstlich im Vergleich zu dem dünnen Lumpenlager, mit dem March sich bis jetzt begnügt hatte. Nun war es das meine. Aber was war zu tun? Sollte ich der Liebe dieses großen Kindes nachtrauern? Hätte ich nur gewußt, warum? Oder wußte ich alles und wollte es nur nicht begreifen?
Ich breitete den linken Ellenbogen unter meinen Kopf, damit dieser höher liege, und versuchte, einzuschlafen. Vergebliches Bemühen. Die Erregung war noch zu groß. Ich konnte nur tun, als ob ich schliefe. March war ebenso unruhig wie ich. Er stand auf, zog sich aus, holte sich eine Zigarre, (sie stammte aus den Beständen des Generalarztes, der sehr gute, schwere Zigarren rauchte, die hier fast umsonst zu haben waren), und begann zu paffen. Ich sah den Kopf der Zigarre mattrot aufleuchten, hörte mit der ganzen, schauerlichen Feinhörigkeit, von deren Martern nur einer berichten kann, der dies selbst erlebt hat, wie March die Zigarre zwischen seine Lippen einquetschte und schmatzend daran zog. Hätte ich doch nur Ruhe gehabt! Aber er tat es wie mir zum Trotz! Wenn er die Zigarre aus dem Mund zog, wußte er damit einen leisen, widerlichen Knall zu verbinden, der mir ärger auf die Nerven ging als alles. Aber mochte er die Asche der Zigarre am Bettrande abstreifen und mir auf meine Knie fallen lassen, die wegen der schrecklichen, feuchten Hitze unbedeckt waren. Ich beherrschte mich. Viel größere Probleme gingen mir durch den Kopf.
Ich sah als Bakteriologe das Eindringen der Bazillen in die Gewebsbuchten, die durch die Geburtsverletzungen entstanden waren; ich sah das hemmungslose Weiterwuchern der Keime, ihr vitales Eindringen in die Blutbahn der Witwe Walters. Eiter, Fieber. Leiden, Tod ... Und niemand hilfloser als der Arzt, der dies verschuldet hatte. Ohne zu wollen. Aber nicht ohne zu müssen. Sollte ich dem Schicksal noch einen Pakt anbieten? Lasse die Frau Walter am Leben, nimm die Infektion durch meine linke Hand als nicht geschehen an, nimm die Infektion durch die Stegomyia am Sterbelager Walters als ungeschehen an, laß beide Experimente glücklich enden, – und ich zahle dafür. Was hatte ich zu zahlen? Was konnte ich hingeben? Worauf konnte ich noch verzichten? Auf nichts? Doch! Doch! Ich hatte in den letzten Wochen nach meiner Genesung vom Y. F. und beim planmäßigen Fortschreiten unserer Experimente eine Art Glücksgefühl empfunden, ein großes, oft geradezu herrliches Lebensgefühl, wie es jede positive, fortschreitende Tätigkeit dem Geiste des Menschen eingibt. Auf dieses konnte ich verzichten. Aber wie? Nur, indem ich mich erledigte. Ich konnte mich aufgeben. Ich konnte Selbstmord begehen. Ich konnte mein Dasein und meine Versuche auf diese radikale Art, aber nur auf diese eine Art, abbrechen. Denn solange ich lebte, würde ich versuchen, diese Aufgabe zu Ende zu führen.
Sollte ich es tun? Sollte ich es unterlassen? Sollte ich mich endgültig »opfern«, um endlich dieses ominöse Wort auszusprechen?
Ein lauwarmer Patzen Flüssigkeit traf klatschend meine linke Hand, die ausgestreckt mit der Handfläche oben dalag. March hatte etwas Zigarrenspeichel ausgespien und mich getroffen. Ich konnte mich nicht mehr halten und sagte drohend nur ein Wort: »March!« Aber darauf hatte er nur gewartet.
»March, March«, wiederholte er voll Wut. »Wer ist Ihr March? Was habe ich mit einem Mörder zu schaffen?« zischte er. »Lassen Sie mich schlafen und rühren Sie mich ja nicht an.« Er schwieg und wartete auf eine Antwort. Aber er konnte bis zum Morgengrauen vergeblich warten. Ich lag wach und antwortete ihm nicht. Vielleicht hätte ich sogar mein »March« unterdrücken sollen. Aber ein Mensch ist nur ein Mensch.