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Siebentes Kapitel

I

Wir standen nun mitten in dem wichtigsten Teil unserer Untersuchungen und waren ohne Führer. Ich kann gar nicht beschreiben, in welcher Verzweiflung uns das Hinscheiden dieses Mannes Walter zurückließ. Wir alle, March nicht minder als Carolus, der Direktor des Hauses ebenso wie der Kaplan, waren fassungslos. Die Arbeitskameraden saßen stumm, die Köpfe auf die Brust gesenkt, in dem totenstillen Laboratorium. Bloß die Tiere im Souterrain rumorten und über unseren Köpfen die Kranken in ihren Zimmern. Er war gestorben, und nichts hatte sich geändert.

Unten in der kleinen, elektrisch beleuchteten Totenkammer lag unser Freund. In seiner Schreibtischlade fanden wir seine Orden. Einer von uns sollte zu der Leiche gehen und ihm die Ehrenzeichen, die er sich während des Krieges erworben hatte, an die Brust heften. Keiner wagte es. Auch seine goldgefaßte Brille fand sich (zerbrochen) hier im Laboratorium wieder. Sollten wir nicht auch sie, die ihn lange Jahre des Leben begleitet hatte, in seine letzte Ruhestätte ihm mitgeben?

Schließlich wiederholten wir (March war es, der daran gedacht hatte), die Wahl durch die Streichhölzer, nur in umgekehrtem Sinn. Ein Streichholz mit abgebrochenem Kopf wurde in ein Einmachglas gelegt, dazu drei unverletzte Hölzchen. Wer das abgebrochene Hölzchen herauszog, sollte die Mission übernehmen, zu der sich keiner hatte freiwillig melden wollen.

Dabei war es natürlich nicht dasselbe. Ich, der auch in dieser Lage logisch dachte, weil ich logisch denken mußte, erkannte, daß man das abgebrochene Streichholz auch bei verbundenen Augen leicht herauserkennen konnte. Man brauchte ja nur die Hölzchen einzeln sich durch die Finger gleiten lassen. Aber daran dachte sonst niemand.

Den Kaplan traf es schließlich und er verband mit der Ehrung des Toten auch die Anbringung des silbernen Kruzifixes an dessen Brust, desselben, welches von der Hand des Walters vor wenigen Monaten bei der Sektion von der Brust des Wasserwerksdirektors fortgenommen worden war. Wir beschlossen, daß dieses Kruzifix keinem anderen Toten mehr dienen und dem Arzt in die letzte Ruhestätte mitgegeben werden sollte. Von einer Untersuchung der Leiche nahmen wir Abstand. Keiner hätte das Sektionsmesser zu führen vermocht.

Der Befund war ja ohnedies klar. Ich setzte in dem Protokoll, das ich nun mit Carolus gemeinsam verfaßte und das beim Notar oder beim Gouverneur verabredungsgemäß hinterlegt werden sollte, unter unseren anderen Experimenten auch das des Dr. Walter als gelungen und einwandfrei beweisend ein.

Ich hatte angenommen, daß ich bei dem Leichenbegängnisse meines verstorbenen Freundes mit in der Reihe der Leidtragenden würde gehen dürfen. Man hatte uns ja die Freiheit versprochen. Aber ich hatte mit der legendären Schwerfälligkeit der behördlichen Verfügungen nicht gerechnet. Unser Schicksal war im übrigen noch ganz ungewiß. Walter war die Seele des großmütigen Beschlusses der staatlichen Verwaltung gewesen. Er war nicht mehr.

Am Spätnachmittage des nächsten Tages wurde die Leiche aus der Kapelle des Lazarettes abgeholt, und zwar wurde sie von den Schwestern in einem schönen Sarge aus hartem Holz (Sträflingsarbeit) in den Leichenwagen der Verwaltung gebracht, ohne daß dabei einer von den Kutschern (ebenfalls freigelassene Sträflinge) oder von den eskortierenden Marinesoldaten in eine, auch noch so flüchtige Berührung mit einem Insassen des Y. F.-Hauses kommen durfte.

Wozu dies? Selbst wenn die vierundzwanzig prächtigen Burschen, die den Wachdienst bei den Küstenbatterien von C. taten, die gallengelben Hände der Leiche gedrückt hätten, ihnen wäre nichts geschehen. Nicht die Berührung steckte an, die Mücken taten es. Ob man die Leiche zwischen zwei Lagen ungebrannten Kalkes versenkte oder in gewöhnliche Erde, war ganz gleich. Für diese Idee war Walter gestorben. Nur für dieses Axiom hatte er gelitten, mehr gelitten, der weiche, gefühlvolle, keusche Mensch, als wir anderen auch nur ahnen konnten.

Aber darauf kam es nicht an. Für die Welt galt immer noch die alte Weisheit, und weder ich noch Carolus, noch die bemitleidenswerte Gattin des Toten durfte sich dem letzten Gang ihres Gatten anschließen.

Die vierundzwanzig Marinesoldaten traten, wir sahen es aus unseren Fenstern, in großer Gala an. Ihre Waffen glänzten in der Abendsonne ebenso wie ihre Musikinstrumente – nicht nur »Trompeten«, von denen der arme Walter phantasiert hatte, sondern auch Posaunen, Hörn etc. und dazu das bei Militärkapellen übliche Schlagzeug. Ich dachte an die Militärkapelle auf dem Hafenplatz.

Die hohen Herren der Kolonieverwaltung, der Direktor der Gefangenenlager etc. etc. schritten voran. Die Musik setzte mit dem schmachtenden Begräbnismarsch aus der bekannten Sonate von Chopin ein. So brachten sie unseren Lehrer und Meister fort, zur Kalkgrube, die Füße voran, wie es im alten Liede heißt.

Ich hielt mich an die Arbeit, die endlich erledigt werden mußte. Daß aber meine Gedanken nicht ausschließlich bei ihr waren, wird man leicht begreifen. Beim Mikroskop kam ich nicht zur Ruhe. Kaum war die Marschmusik mit ihrem funebren dröhnenden Klang etwas leiser geworden, da erscholl über uns das verzweiflungsvolle Jammern und Rufen der Frau Walters aus ihrem Zimmer, wo man sie mit Gewalt festhalten mußte. Die Oberin des Hauses bemühte sich um sie, Carolus trug seine Dienste an, auch March meldete sich, der bei den gellenden Rufen des armen Weibes totenbleich geworden war und mir einen finsteren Blick nach dem anderen aus seinen törichten, hübschen Knabenaugen zugesandt hatte. Aber ihre verzweiflungsvollen Gebärden wurden zu richtigen Tobsuchtsanfällen, sie schrie jetzt wie eine Wahnsinnige, stampfte, trampelte auf die Diele. Vergebens alles Beschwichtigen, alle guten Ratschläge, aller gutgemeinter Trost. Sie hatte übermenschliche Kräfte bekommen. Eine beruhigende Injektion gegen ihr Herzeleid wagte man ihr nicht zu geben, aus Angst, das keimende Leben in ihrem Leibe zu schädigen. Drei Schwestern, der Kaplan und der ganze Stab der Ärzte waren um sie versammelt, und alle versuchten durch Güte oder sanfte Gewalt die Tobende zu bändigen. Dabei waren neue Kranke eingeliefert worden. Einige davon befanden sich bereits im bedrohlichen Stadium, bedurften der Ärzte, der Pflegerinnen, des Geistlichen, man wußte nicht, was man mit der Witwe Walters, diesem jetzt sehr unbequemen Gaste, beginnen solle.

Schließlich ließ auch ich mich von March gegen meinen Willen zu ihr hinaufzerren.

Ich habe bereits erzählt, daß ich die Fähigkeit besaß, (vielleicht von meinem Vater ererbt), auf Kinder, Irre, auf Tiere und auf leidende Menschen einen beruhigenden Einfluß auszuüben.

Ich trat jetzt ruhig zu der sich wie toll gebärdenden Frau, deren Halspartie dick angeschwollen, blaurote Adern zeigte. Sie war gerade wieder im Begriffe, sich, mit ihrer pfauenartig grellen Stimme unausstehlich kreischend, aus dem Fenster zu stürzen. Natürlich war sie dazu nicht imstande, schon wegen des gewaltig vortretenden Unterleibs, der das glatte Durchschlüpfen durch das relativ enge Fenster nicht gestattete. Ich ließ sie scheinbar gewähren. Ich bat die anderen, das Zimmer zu verlassen. Sie taten es anscheinend alle gern, mit Ausnahme Marchs, der nur widerwillig wich und seinen »fressenden Blick«, wie ich ihn an ihm schon lange nicht bemerkt hatte, auf mich und auf die arme Frau heftete. Aber er tat es zu absichtlich, ganz echt konnte dieser Blick nicht sein. Als alle fort waren, trat ich näher zu ihr, faßte sie so zart als möglich an dem Ärmel ihres dunklen Kleides, ohne ihre Haut zu berühren, und zog sie sanft fort vom Fenster. Sie folgte mir schreiend, aber ohne starkes Widerstreben. Ich drückte sie in den Rekonvaleszentenlehnstuhl, der hier wie in jedem Krankenzimmer in einer Ecke stand, nieder und flüsterte ihr, die Silben möglichst scharf akzentuierend, ein paar nichtssagende Worte zu. Man muß manchmal beim Sprechen mit Schwerhörigen deutlichst flüstern, wenn man sich ihnen verständlich machen will. Nicht schreien. Sie hatte noch nicht aufgehört, ihre langgezogenen, betäubenden Rufe auszustoßen, als sie meine Mundbewegungen wahrnahm. Sie sah mir in die Augen, und ich tat dasselbe bei ihr. Jetzt verstummte sie und las mir die simplen Worte an den Lippen ab. »Ihr Gatte läßt Ihnen sagen ...« Sie riß die Augen auf und starrte mich stumm an. In diesen Augenblick völliger Stille drangen die donnerartigen Detonationen der Marineschützen, die vor dem frischen Grabe ihres Mannes ihm den letzten Salut erwiesen. Sie hörte das dreimal sich wiederholende Krachen, wie es, vom Echo verstärkt, sich über das hügelige Gelände der Stadt verbreitete. Dunkle Röte und fahle Blässe wechselten auf ihrem Gesicht, die verzerrten Züge lösten sich. Und totenstill begann das unbewegte Gesicht zu weinen.


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