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XIV

Die große Gefahr lag also nahe, daß unsere kleine Kommission, die nur aus Carolus, Walter und uns untergeordneten Geistern bestand, ihre Mission notgedrungen als beendet ansah. Es gab zwar noch für eine oder zwei Wochen Laboratoriumsarbeit, warum nicht? Man konnte noch hundert oder fünfhundert Schnitte von erkrankten, entzündeten Lebern, Magenwänden, Nieren etc. pedantisch in Formalin fixieren, mit allen möglichen raffinierten Färbemethoden tingieren, etikettieren und dann im Schweiß des Angesichts unter dem Mikroskop bei tausendfacher Vergrößerung durchforschen (nie wurde dieses biblische Wort vom Schweiß des Angesichts so wörtlich befolgt wie hier, in dem Dauerdunstbad von nie weniger als dreißig Grad, aber sehr oft auch mehr als vierzig Grad im sogenannten Schatten), das alles konnte man methodischerweise tun, man konnte die negativen Resultate genau so systematisch verbuchen, als man es mit den positiven getan hätte. Und wenn in der experimentellen Forschung ein Walter großer Meister war, so war es in der statistischen, ordnenden Zusammenfassung ein Carolus nicht minder. Aber aus Null plus Null wird nie eine Eins.

Alle standen durch Briefe, Walter auch durch den Fernsprecher, mit der Außenwelt in Verbindung, mich ausgenommen.

Mich hat in dieser Zeit kein einziges Lebenszeichen erreicht. Und wäre es nur eine kitschig kolorierte Ansichtspostkarte von einem Dampferausflug gewesen, den mein Bruder mit seinen Kindern und seiner Frau unternommen! Sooft man von dem hochgelegenen Hospital ein Post beförderndes Schiff, durch die Inselwelt hindurch vorsichtig lavierend, an den Bojen vorbei den versumpften Hafen der Stadt C. ansteuern sah, belebten sich die Mienen der zwei hohen Herren nicht minder als das Gesicht des treuen March, und wenn auch seine so sehnsüchtig erwartete Post (im übrigen genau zensuriert) fast nur unerfreuliche Nachrichten enthielt, die seine Familie ihm nicht vorenthalten zu dürfen glaubte (die Scheidung der Ehe wegen seiner Schande, die gefahrdrohende Erkrankung des Nesthäkchens, des »kleinwunzigen Brüderchens«, Erwerbsschwierigkeiten der anderen Geschwister etc.) – so war er doch wenigstens von allem Lebenden nicht so völlig abgeschlossen wie ich.

Ich machte keinen Versuch, diese Mauer zu durchbrechen. Ich hätte ja mit dem Schreiben beginnen können. Die Briefe wurden zwar gesiebt und mußten das Büro des Direktors offen passieren, aber ich, wie jeder Deportierte, hatte die Erlaubnis, monatlich einen Brief auf Kosten der Gefangenenverwaltung abzusenden. Nicht ein einziges Mal habe ich sie in Anspruch genommen. Ich hatte meinen Briefumschlag sogar meist weitergegeben, und zwar an March, dessen Glück über diesen Beweis meiner Anteilnahme gar nicht zu beschreiben ist. Nie ist mir ein Geschenk leichter gefallen – und nie hat mir jemand mehr gedankt.

Ich wiegte mich damals in dem Glauben, daß die zwar lästige, aber eben durch ihre Stetigkeit mich innerlich beruhigende Neigung des bornierten Jungen ewig anhalten würde und daß ich ihm paschaartig gelegentlich einen Brocken würde hinwerfen können. Er war ja für alles so dankbar. Wenn ich ihm z. B. einen Rat gab, derart, wie er seiner Mutter einen Rat geben sollte, wie sie den Erwerbsnöten seines arbeitslosen Schwagers, eines Versicherungsagenten, beispringen solle – ja, dieses Nichts, Komma Null an Liebe, war das nicht eher etwas, wofür ich hätte ihm danken sollen? Denn es stellte für mich eine, wenn auch noch so notdürftige Verbindung mit der Welt außer unseren vier wohlbewachten Mauern dar. Er bewahrte mich vor völliger innerer Erstarrung.

Denn so unbegreiflich es klingen wird, so wahr ist es doch: mein jetziger Zustand glich fast bis in die letzten Einzelheiten der geistigen Lethargie, der seelischen Lähmung, die mich unmittelbar nach Begehung meiner Tat umfangen hatte. Aber: damals war es ein so folgenschweres Verbrechen, das mich mit einem Schlage mitten aus den bisherigen Gesellschaftskreisen, aus meinem akademischen Stande, meinem angesehenen Beruf, meinen Vermögensverhältnissen, meinen erotischen Beziehungen herausriß, das mich bis hart an den Rand des Schafotts brachte, um diesen pathetischen Ausdruck zu gebrauchen jetzt nichts als der triviale Tod eines sammethäutigen, vierzehneinhalb Jahre alten Portugiesenmädchens, mit dem ich nie ein Wort gesprochen hatte, welches außerhalb des rein ärztlichen Vokabulars gewesen wäre. Ich war an ihrem Hinscheiden so unschuldig wie ich unschuldig gewesen wäre an ihrer glücklichen Heilung.

Was war ich ihr gewesen? Was konnte sie mir sein?

Und doch, wenn ich den Erdarbeiter, den Rekonvaleszenten von Y. F., im Lazaretthofe einherhumpeln sah oder ihn beobachtete, wie er seine blau und rot mit Ankern und nackten Weibern tätowierten, stark abgemagerten, knochigen, muskelschwachen Arme, über denen noch ein deutlicher Schatten von Gallengelb lag, wehmütig betrachtete – dann stieg ein Würgen in mir hoch. Es bedurfte meiner ganzen, nicht schwachen Willenskraft, um nicht aus Groll das Würgen und Erbrechen der Y. F.-Kranken zu kopieren, wie ich das Weinen der armen Kleinen vor einigen Tagen im Leiden kopiert hatte.

Wäre wenigstens die Möglichkeit dagewesen, sich mit Arbeit zu betäuben! Aber dies stand außer meiner Kraft. In die Krankensäle durfte (Bedenken der Deportiertenverwaltung!) und – offen gesagt – wollte ich nicht mehr zurück. Und so stand ich halb oder ganz müßig umher. Ich verkam in dem ungeheuerlichen Klima trotz aller Liebe und Güte meines Freundes immer mehr.

Ich brauche das nicht auszuführen, was von allen Beobachtern über die opiumartige Wirkung der mit Feuchtigkeit gesättigten und dauernd überhitzten Landstriche und Klimate innerhalb der Wendekreise festgestellt worden ist. Für manche Naturen (und ob nicht auch wir zu ihren gehörten, besonders Walter und ich, war noch nicht sicher) sind die Äquatorgegenden einfach eine Krankheit, und zwar eine auf die Dauer tödliche. Eine Krankheit selbst dann, wenn die betreffenden Personen von Tropen-Krankheiten, das ist: Fieber, Malaria etc. etc. bis zur Ruhr und Zuckerkrankheit, um das ganze Alphabet einzuschließen, frei bleiben.

Das war nicht nur mir bewußt, sondern auch der Gattin des Walter, die ich auf indirektem Wege bald kennenlernte, nämlich durch den Fernsprecher.

Es befand sich eine Telephonzelle in einem Korridor, der an unseren gemeinsamen großen Arbeitsraum (das ehemalige Refektorium der Klostergeistlichen) angrenzte. Die Dame war, wie ich hörte, eine Frau von über vierzig, also gleichaltrig mit unserem guten Walter, glückliche Mutter von fünf Kindern. Sie wohnten in der Altstadt oder besser gesagt, sie hausten dort wie das liebe Vieh, denn welche Fehler hatte dieses Quartier nicht? Welche Mängel die Waschküche! Welcher Schmutz lag auf den Treppen aus zerfallenden Ziegeln! Was für scheußliche, nackthalsige Geier patrouillierten frech auf den Straßen und versahen einzig und allein die Säuberung der Avenuen! Nirgends ein guter Laden, in dem man erstklassige Wäsche, Strümpfe, Kleider, Briefpapier, Kölnischwasser, Insektenpulver erhielt! Welches verbrecherische, durch Laster und Not entmenschte Gesindel trieb sich bettelnd, lungernd und drohend vor der Schwelle umher! Alles, alles hörte ich dank dem kräftigen, sonoren Organ der Frau Walter und der guten Akustik der nur zu durchlässigen Telephonzelle, deren Wände sich infolge der Feuchtigkeit geworfen hatten und nur unvollkommen schlössen! Auch ihr Gatte, sonst die Ruhe und Gemessenheit in Person, die leibhaftige Geduld, – der nobelste Gentleman, wie er im Buche steht, erhob oft ungebührlich laut sein schönes Organ, um sich der unglücklicherweise schwerhörigen Mutter seiner Kinder verständlich zu machen. Denn weil sie schlecht hörte, schrie sie aus Leibeskräften in den Fernsprecher –.

Als ob es die Stärke der Stimme ausgemacht hätte! Aber er ließ sich anstecken. So paradox es klingt, sprach er langsam und akzentuierte die Endsilben und hielt dabei seine Stimme zurück, dann hörten wir nur die Stimme seiner Frau aus der Fernsprechzelle. Wir verstanden ihn dann nicht, aber seine Frau hatte ihn offenbar verstanden, und darauf kam es an. Begann er aber zu schreien, so tönte immer wieder das entfernte, aber doch deutlich kreischende, in den höchsten Fisteltönen herausgestoßene Wie? Wie? Wie doch? der Frau aus der geheiligten Kammer. Gedämpft durch die Wand und das Mikrophon, aber doch zu hören oder leicht zu erraten. Walter, erfindungsreich wie immer, hing öfters den Hörer ab und setzte sich an den Schreibtisch, um seiner Frau das Wichtigste mit seiner deutlichen, aber etwas flüchtigen Schrift zu schreiben. Er schob sanft, aber bestimmt die massenhaften Schriftstücke der Kollegen zur Seite und schichtete die medizinischen Bücher, in die der unverbesserliche Unordnungsmensch Carolus seine gebrauchten Zahnstocher als Lesezeichen zu stecken sich nicht abgewöhnen konnte, säuberlich aufeinander. Und wären es bloß unappetitliche Zahnstocher gewesen! Aber Carolus legte sogar Kulturröhrchen hierher, und wären diese nicht so keusch und unberührt gewesen wie eine vierzehnjährige Jungfrau, dann hätte leicht das größte Unheil geschehen können.

Aber einerlei, kaum hatte sich der gute Walter zu seinem Schreiben hingesetzt, da läutete wiederum das Telephon mit unverschämter Hartnäckigkeit und Walter mußte kommen.

Es gibt nichts, was die gute Frau und treue Mutter unversucht ließ, um ihren Gatten zum Abbruch seiner ergebnislosen Arbeit zu bestimmen. Daß hier oben bei uns noch nichts herausgekommen war, wußte sie. Das gab ihren Worten immer soviel Gewicht, daß Walter ganz kopfscheu und betroffen das Kämmerchen verließ und uns wortlos um Rat zu fragen schien. Noch ein Anruf! Zu wenig Wirtschaftsgeld. Drohung mit der Scheidung. Bulletins über den schlechten Teint seiner Tochter, über die geringen Fortschritte seines sonst so hoffnungsvollen Sohnes in dem Privatunterricht. Und die horrenden Preise von Lebensmitteln und Kleidung. Die »schauerliche Gesellschaft« – Verbrecher und ihre Häscher! Die Misere der Wohnung. Die Sehnsucht der Frau nach ihrem Gatten. Was sollte er tun?

Und was blieb uns übrig? Was war unsere Aufgabe? Unsere Pflicht?


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