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XIV

Eben huschte wieder eine Ratte mir zwischen die Füße. Komm doch näher, geliebtes Tierlein, ich fürchte dich nicht, so fürchte denn auch du mich nicht.

Diese Tiere waren mir von Kindesbeinen an etwas Gewohntes, und trotz eines schauderhaften Widerwillens waren sie mir doch vertraut. Aber das Biest traut mir nicht und verkrümelt sich unter die Taue.

Für meinen Vater waren sie die Schicksalstiere. Er hätte nicht gerade ein Haus zu bewohnen brauchen, in dem die Ratten sich »zu Hause« fühlten. Aber er wollte zeigen und beweisen, daß er stärker war als sie.

Sie traten sporadisch auf. Es gab trockene und heiße Sommer, in denen man kein Exemplar der Gattung bemerkte. Dann wieder kamen sie in großer Zahl hervor, und zwar war es in den ersten Jahren meiner Kindheit die etwas zahmere Art, die auf dem Rücken gleichmäßig blaugrau gefärbt ist, und erst in den späteren Jahren erschienen nach einem besonders regenreichen, herbstartigen Sommer Ratten der anderen Abart, die etwas größer, kraftvoller ist und längs der Wirbelsäule einen dunklen Streifen trägt. Die sanftere Art waren die Hausratten, die andere, siegreiche, die Schwächeren ausrottende Art war die der Wanderratten. Kampf ums Dasein? Kampf aller gegen alle, Familie gegen Familie, seinesgleichen gegen seinesgleichen? – hätte mein weiser alter Vater, der kluge, listenreiche Teufel mir die Gesetze des Lebens, wie er es sah, besser demonstrieren können als an diesen Tieren?

Ich erinnere mich noch des Jahres, der Juli war stürmisch und von Güssen und Stürmen erfüllt wie ein November an der See. Während des Regens sah man im Garten meist nichts von ihnen. Dafür trieben sie sich im Haus umher. Sie stürmten die Speisekammer, minierten sich in die Kellerräume durch trotz aller Eichentüren, sie schlugen in den Dienstbotenbetten (mein Vater hatte aus Sparsamkeit einen Teil des Personals entlassen, und die Betten standen leer) ihr Wochenlager auf und veranstalteten Wettrennen und olympische Kämpfe auf den Dachböden, während der Sturmregen auf die Schieferplatten prasselte. Als dann die Regenperiode zu Ende war, strotzte jeder Winkel des Parkes von ihnen, die kostbare Hühnerzucht wurde über Nacht zugrunde gerichtet, im Gewächshaus wurde alles zernagt und auseinandergerissen. Mit Hunden wollte mein Vater (erst später erfuhr ich, warum) nicht gegen die Nager losziehen. Kammerjäger bemühten sich zwar, kamen aber gegen die Bestien nicht auf. Als Masse widerstanden sie allem. Es wurde bekannt, daß auch die früheren Besitzer des Grundstückes das Haus geräumt und es für ein Butterbrot an meinen Vater losgeschlagen hatten, weil sie der Ratten nicht hatten Herr werden können. Zu dieser Zeit lebte meine geliebte Mutter nicht mehr. Sie war die Schwester eines bedeutenden Gelehrten, der meinen Vater auf seiner Nordlandexpedition begleitet hatte. Aber der Geograph hatte es in der Heimat nicht ausgehalten, war später zum zweiten Male losgezogen und war verschollen, man hat nie wieder von ihm gehört.

Ab und zu fing sich ein Tier in einer Eisendrahtfalle. Ich erinnere mich eines solches Ereignisses. Mein Vater bemerkte mit seinen Falkenaugen von seinem Zimmer aus, daß sich unten im Hofe am Fuß der Platane in einer Falle etwas regte. Es muß spät am Abend gewesen sein. Er ließ mich mit in den Hof hinabkommen. Er gab mir zum Schutze gegen die kühle Feuchtigkeit der Nacht seinen seidengefütterten Hausrock, der mir jungem Burschen bis an die Knie reichte.

Unter der Dachtraufe stand ein großes Regenfaß, welches das Wasser sammeln sollte. In der damaligen Zeit hielt man das Regenwasser für besonders rein und besonders geeignet zum Waschen der Haare. Wir kamen hinunter, und er ließ mich die Falle aufheben. Sie schien mir so leicht an Gewicht, als wäre das Tierchen (offenbar ein unerfahrenes Jungtier) aus Papiermaschee. Die Ratte rannte hinter den Drähten eilends im Kreise, blickte ängstlich umher, verrichtete im Laufen ihre Notdurft, knabberte mit den scharfen vorstehenden Zähnen an dem Eisendraht, der ziemlich dick und vom Regen sehr verrostet war. Klug wie sie war, rüttelte sie sogar an dem Türchen, durch das sie hineingewutscht war und schrillte ab und zu. Sie schnupperte an dem Häkchen, an welchem der Speckbrocken befestigt gewesen, und begann dann ihr Umherlaufen von neuem. Plötzlich hopste sie hoch, klammerte sich mit allen vieren wie ein Äffchen an das Dach der Falle an und sah uns mit ihren rötlich-schwarzen Augen, über welchen die Augendeckel auf und zu schlugen, von unten an. Ihr langer, staubfarbener Schwanz ringelte sich an die Drähte. Ich wurde weich.

»Ins Wasser damit«, sagte mein Vater. »Was sollen wir sonst damit beginnen? Ich werde dir dann die Geschichte meiner Reise wieder erzählen.« Ich konnte diese Geschichte nie oft genug hören.

Leicht ist mir das Umbringen des Tieres, so sehr es mich vor ihm ekelte, nicht geworden. Die Fenster, hinter denen meine beiden Geschwister bereits schliefen, waren dunkel. Der Mond schien stark, war aber durch den Rand einer muschelähnlichen Wolke verhüllt, der sich nach Osten verschob. Andere dunkelblaue Wolken zogen in einer höheren Schicht vorbei.

Das Fenster der Bibliothek meines Vaters war offen und erleuchtet. Ich sah, nach oben blickend, die goldbedruckten Rücken der Bücher und Atlanten.

Das Tier hatte sich wieder, mit seinen Krallen kratzend, auf dem Boden der Falle niedergelassen. Es rannte nicht mehr. Es saß nun da, den sehr langen, quergeringelten, nackten, häßlichen Schwanz um sich geschlungen und drehte nur den Kopf in großer Eile und Unruhe.

Das Holz des Bodens der Falle ruhte auf meiner Handfläche. Ich fühlte ein taktförmiges, wenn auch nur sehr zartes Vibrieren. War es der Schlag des Herzens? Die Wolken hatten sich hinter Baumkronen und die nahen Schornsteine verzogen. »Nun, zeige, was du kannst, Georg Letham«, sagte mein Vater mit kühlem, aber zärtlichem Spott.

Ich hob die Eisendrahtfalle mit der rechten Hand hoch und warf sie, während ich die Augen krampfhaft schloß, in den Bottich.

Das Wasser spritzte uns beiden ins Gesicht.

»Gut«, sagte mein Vater und lachte. Er legte den Kopf zurück, er wischte von meinem Gesichte zuerst, dann von dem seinen das mulmige Wasser mit einem feinen Taschentuch ab, das er der Brusttasche seiner seidenen Hausjacke entnahm, die ich gerade über dem bloßen Hemd anhatte. Ich fühlte an mir seine langen, mageren Hände.

Luftblasen stiegen aus dem Fasse noch ziemlich lange auf, etwa zwei bis drei Minuten. Die Augen meines Vaters hingen an meinem Gesicht mit einem brünstigen Ausdruck, den ich nie enträtselt habe. Liebe, Haß? War ich ihm alles oder nichts? Bloß ein Versuch? Wollte er mir gut? Er hatte mir beigebracht, wie man ein lebendes Wesen vom Leben zum Tod befördert. Und doch liebte ich ihn, wie er war – und mehr, denn je zuvor.


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