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V

March macht eine Pause. Die anderen Sträflinge amüsieren sich nachts nach ihrer Art. Nur die zahmsten spielen Karten, oder sie rülpsen ihre tierische Natur auf ihre Weise hervor, oder balgen sich umher. Was die meisten tun, Männer unter Männern, seit Monaten ausgehungert nach »Liebe«, das will mir March verbergen, er will mich durch seine keusche Erzählung fesseln, und wenn ich ihn kühl frage, »liebes Herz, warum erzählen Sie mir das?« senkt er die Augen, schmiegt sich unmerklich an mich und antwortet mit etwas heiserer Stimme: »Damit Sie mich nicht für ihresgleichen halten!« Soll ich ihn also nicht für einen gemeinen Verbrecher halten wie die anderen Kumpane? Oder soll ich ihn nicht für einen Mann der Männerliebe halten?

Ich schließe die Augen. Ich versuche zu schnarchen, aber er hat feine Ohren und Augen. Trotz des Halbdunkels unterscheidet er die Maske des Schlafs vom echten Wesen des Schlummers und das echte Schnarchen von dem künstlichen. So gebe ich es auf. Ich erhebe mich auf den Ellenbogen, blicke durch die offene, von zackigen Scheibenresten ausgekleidete Luke an der Schiffswand hinauf in den lilafarbenen Tropenhimmel, der von fast krankhaft leuchtenden Sternen, Licht bei Licht, erfüllt ist.

Das Meer geht stark, ab und zu gischt ein scharfer Spritzer hinein und fällt auf mein wüstes Haar, verfängt sich in meinem starken, ungepflegten Bart. March erzählt plötzlich etwas von einem Hotelzimmer. Man hatte ihm wegen des Skandals seine gemütliche Behausung gekündigt. In der kleinen bigotten Stadt will ihn niemand als Untermieter aufnehmen. Und dabei ist seine Liebe zu Louis, dem Kadetten, so rein, so keusch, so verhalten. Ein wenig mehr Geduld! Ein ganz klein wenig Milde für ihn! Und er, March, hätte sich in alles gefügt, wäre ein braver Beamter und guter Bürger geworden – so verspricht er wenigstens jetzt, wo alles vorbei ist für immer.

Er liegt also in seiner Verzweiflung bis Mittag im gleichen Bette wie sein Vater, der sich wie eine Klette an ihn gehängt hat. Es ist schlecht Wetter, er liegt in seinem Hotelzimmer, die Ellbogen aufgestützt. Und blickt seinen Papa an. Elend und unaufhaltsamer Verfall sind auf den Zügen des ehemaligen Drogisten und Rauschgifthändlers geschrieben. Es ist nicht schön, sein Bett mit ihm zu teilen. Auch das Hotelpersonal ist damit nicht einverstanden. Aber Not kennt kein Gebot. Bis jetzt hat sich March immer auf die Seite der tapferen, lebensbejahenden Mutter gestellt; da war sein Platz, sein Herz. Aber jetzt, wo er geschlagen und diffamiert ist, wo er das Elend der von Gott verpfuschten und vom Satan nicht rechtzeitig zu Pech und Schwefel verbrannten irdischen Welt an sich selbst, an seinem eigenen, von Kummer zerfressenen Herzen empfindet, wo man ihm auf der Straße ausweicht, wo man ihn von einem Tag auf den anderen gekündigt hat, wo man ihm den Eintritt in die Büroräume verwehrt, wo er nicht daran denken kann, Louis und Lilli wiederzusehen – jetzt begreift er den Vater, und beide beschließen, sich – an die Mutter zu wenden.

March schildert, wie seine Blicke sich auf den Schrank aus braunlackiertem Fichtenholz klammern, der fast das einzige Mobiliar des ärmlichen Hotelzimmers bildet, abgesehen von einem wackligen Stuhl und einer verrosteten, eisernen Waschgelegenheit. Auf dem Schrank befinden sich zwei Koffer und eine Schachtel in bläulicher Pappe. Der eine Koffer ist aus Leder, der andere aus gepreßter Fiber, beide sind sein Eigentum. In dem Lederkoffer ist das berühmte Grammophon, »das Geschenk der Kinder«, untergebracht. Die Schachtel in blauer Pappe gehört dem Vater und enthält die Reste von Wäsche, die der alte Herr aus dem Untergang gerettet hat. Waschsachen besitzt er nicht, aber er hat wenigstens Sinn für Reinlichkeit (auf fremde Kosten) behalten.

Der Sohn kann ihm nicht verwehren, wenn er, der Vater, sich mit Marchs teurer Seife wäscht, mit seinem englischen Rasiermesser rasiert und mit seiner Zahnbürste die Zähne putzt. So hat denn der Vater nichts mitgebracht? Doch, einen Revolver hat er, (außer reichlichem Morphiumvorrat), er hat ihn in besseren Tagen von einem herabgekommenen Fürsten aus dem Baltikum erworben, um immer »einen Notausgang« zu besitzen. Man könnte ihn verkaufen, um Reisegeld zur Mutter zu gewinnen, aber niemand nimmt das alte Gerumpel. March besitzt eine gute goldene Uhr. Keine massiven Deckel, aber echt und mit Monogramm geziert. Aber von diesem einzigen Geschenk seiner teuren Mutter trennt er sich nie. So müssen die letzten Pfennige heran. Vater und Sohn nähren sich von Brötchen und sitzen nach dem Mittagsmahl aus dem Bäckerladen im öffentlichen Park und gähnen einander in nebliger Kälte vor Hunger an.

Nachts geht der Sohn mit dem Vater an dem Haus vorbei und zeigt ihm die Fenster, hinter denen sein Louis und seine Lilli wohnen. Aber sein Vater klappert vor Kälte und Hunger mit den Zähnen, die Zeit ist fortgeschritten, in einer halben Stunde soll der Zug gehen. Die Nacht will man in der Eisenbahn zubringen, und so wird das Geld für eine Hotelnacht gespart. So geht March wieder trübselig unter Musikbegleitung ab, immer mit den Augen an den Fenstern hängend, über die Katzenkopfsteine stolpernd, die Augen voller Tränen und das Herz voll Kummer.

Frühmorgens kommen die beiden bei der Mutter an. Sie ist glücklich, das heißt, sie ist vorderhand friedlich verheiratet, sie ist Frau eines kürzlich verwitweten Dentisten geworden, und offen gesagt, schämt sie sich jetzt vor ihrer neuen Familie und fürchtet sich vor ihr, als die alte Familie in Gestalt ihres verstörten Sohnes und des herabgekommenen ersten Gatten hier in diesem bürgerlichen Hause erscheint, wo alles nach Sauberkeit und nach dem vulkanisierten Kautschuk der künstlichen Gebisse riecht.

Weder Sohn noch Ehegatte wagen die ganze Wahrheit mitzuteilen. Sie geben ihr zwar zu verstehen, daß sie im Druck sind, und sie nickt nur und stellt sich taub. March ist wie vom Schlage gerührt. Undank! Undank! Hat er deshalb seine besten Jahre zu Hause vertrauert, hat er deshalb seinen letzten Pfennig der Mutter an jedem Monatsersten abgeliefert, hat er ihr deshalb durch bald zehn Jahre eine sorgenfreie Existenz ermöglicht, damit sie ihn mit einem Butterbrot (im wahrsten Sinne des Wortes) abspeist!

Sie kann ihn aber doch nicht brauchen. Die beiden unliebsamen Gäste auf anständige Weise los zu werden, ist ihre erste Sorge.

In diesen Vormittagsstunden, während vom Laboratorium des Dentisten her das leise surrende Rollen der Bohrmaschine und die unterdrückten Aufschreie der geplagten Patienten herüberdringen und die drei Mitglieder einer gewesenen Familie, Vater, Mutter und Kind einander gehässig schweigend gegenübersitzen, da wird das Gefühl des armen March zu seiner Familie, nämlich der des Obersekretärs, elementar, es wird überwältigend, er ist wie im Dusel, wartet kaum das Mittagessen ab, das wegen des Dentisten und seiner Patienten verspätet eingenommen wird – March liebt, liebt und muß zurück zu den Seinen. Dort wird man ihn verstehen. Die Verlobung ist zwar aufgehoben, das Amt ist vergeben, das Zimmer gekündigt, aber die »liebenden Herzen« dort existieren weiter und zu ihnen muß Gummibonbon, süß und zäh, wie er ist, zurück.

Mit dem Zynismus der Hoffnungslosigkeit sieht der alte Morphinist dies ein, pumpt noch die Exgattin an (er muß neues Morphium haben) und verschwindet aus dieser Geschichte.


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