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VIII

Das Wetter hat sich indessen fortlaufend zum Bessern gewendet. Plötzlich ist der immerwährende Tag das. Man muß die unbeschreibliche Freude der bisher so gedrückten Mannschaft gesehen haben – wie zum Beispiel ein Matrose dem andern die Pelzmütze vom flachshaarigen Schädel nimmt und seine Hand zwischen die Sonne und den Kopf hält, um zum erstenmal wieder einen Schatten zu bewundern, den ein Gegenstand auf eine Fläche wirft und dann den Glanz, den die Sonnenstrahlen auf dem strubbligen, blonden Haar seines Kameraden hervorzaubern. Und bei den Gelehrten welche Glücksgläubigkeit, welches Vertrauen auf das Gelingen! Wer wird es wagen, sie aufzuklären! Die Tiere in der Unterwelt sind inzwischen beinahe die Herren des Schiffes geworden – sind sie es ganz, beherrschen sie die Räume vollständig – dann ist alles zu Ende.

Inzwischen schlürft jedermanns Brust die laue Luft. Kleider und Pelze werden von Zeit zu Zeit fortgelegt, gelüftet, die Polster und Decken unter Bewachung in der Sonne ausgebreitet.

Das Packeis rührt sich. Manchmal geht ein Vibrieren durch die durchscheinender gewordenen Massen. Ein zackiger Spalt reißt durch. Ein dunkelblauer Blitz durchfährt das in der Sonne funkelnde Gebilde, der Berg spaltet sich unter Donnergetöse, riesige Eistrümmer stürzen hoch aufschäumend in das mit vielen Schollen wie mit Fischschuppen bedeckte, kobaltblaue Wasser. Das Schiff ist mit einem Male frei geworden – die Insassen sind vom Schlaf erwacht und haben gemerkt, wie das Schiff sich unter ihnen wiegte. Das Schiff? Ein Schiff ist es nicht mehr – alle wissen es, keiner will in dem kurzen Sonnenrausch zugeben, daß es ein wanderndes Rattenheim geworden ist. Das warme Wetter hat die Tiere aus dem Bauch des Schiffes herausgelockt, sie sind buchstäblich überall, man tritt allerorts auf sie. Sie glänzen gemästet und rund in der Sonne, ihr Pelz ist glatt und sie haben sogar eine Art Schönheit, wie sie die gute Nahrung und das Mitderwelteinverstandensein selbst in häßlichen Individuen hervorruft.

Sie fauchen und zischen empört, wenn man sie mit Füßen tritt. Sind sie durch Karabinerschüsse verwundet, so quieken sie markerschütternd, andere Tiere schaffen das verwundete Biest fort, man weiß nicht, ob deshalb, um es zu retten, oder um es zu verzehren. Der Proviantmeister (Missionar außer Diensten) und der Schiffskoch besprechen mit meinem Vater, ohne den andern Gefährten genaue Mitteilung zu machen, die Lage. Die Ratten lassen niemanden ohne Waffengewalt in die Nähe der Tonnen und Fässer, Säcke und Kisten, wo die letzten Lebensmittelvorräte eingelagert sind. Sie verteidigen ihren Besitz.

Kein Schiffsrat mehr. Es gibt nur einen Ausweg. Die Lebensmittel mit Gewalt provisorisch auf die riesige, unabsehbare Scholle hinbringen, die vor dem Schiff nach Osten zu sich erstreckt und die vor Ablauf einiger Monate nicht zerfallen wird – wenn das Glück es so will. Aber ohne Schiff sind sie als Gesamtheit verloren, nur im Schiff können sie es versuchen, sich polwärts triften zu lassen – oder südwärts, der Heimat zu, zu den »liebenden Herzen«, zum Daheim. Sind die Vorräte erst einmal vorläufig auf der Scholle, dann los mit aller Energie gegen die schauerlichen Bestien. Man will mittels Kohlenoxyd gegen sie vorgehen. Das Schiff muß zu retten sein.

Kohlenoxyd wirkt sicher. Man hätte es längst verwenden sollen. Es sind noch einige Säcke mit guter Kohle da. Jetzt, in der wärmeren Jahreszeit, sind sie zu entbehren. Auf eisernen Becken, auf Kupferpfannen aus der Schiffsküche sollen sie unten im Raum verschmoren. Kohlenoxyd ist für alle Säugetiere unbedingt tödlich. Unten im Rattenheim, im untersten Raum des Schiffes wird sich das Gas zuerst ansammeln, da es schwerer ist als Luft. Es wird nicht, wie seinerzeit das unselige Arsen, nach oben entweichen.

Also zuerst die Vorräte von Bord. Die Schiffswache, zu gleichen Teilen aus Gelehrten und Mannschaftspersonen ausgewählt, geht in den Raum, ein Teil schafft Kisten und Fässer fort, ein anderer knallt währenddessen in das Rattengewimmel hinein. Und wenn eine Kugel zwei oder drei und vier Tiere auf einmal trifft, – nach einigen Stunden, als alles zu Ende ist und die Vorräte so gut wie möglich in einem der zwei Rettungsboote fortgeschafft sind und der Missionar mit der Laterne unten umherleuchtet, dann sind scheinbar genau so viele Tiere da wie zuvor. In dem tiefstgelegenen Winkel des Laderaumes entzündet man die Kohlenbecken und nun: auf dem zweiten Rettungsboot fort vom Schiff.

Drei Gruppen sind auf der Scholle, etwa dreihundert Meter vom Schiff: Erstens die Offiziere, Mannschaften und Gelehrten von der Expedition, zweitens die Eskimos mit ihren Hunden, drittens Ruru, die sich als letzte vom Schiff geschleppt hat, auf drei Beinen hinkend, eine feuchte Spur hinter sich herziehend und die sich nun am Rande der Scholle auf einer alten, halbzerfransten Decke gelagert hat, sich rücklings wälzend, um die Pfoten zu schonen und sich dabei die wunde Schnauze mit der Zunge beleckend.

Das Schiff steht blank da, die durchlöcherten Segel sind straff gerefft, der Eisbehang ist vom Takelwerk überall abgeschmolzen. Es weht ein leichter Wind.

Ein winziges Rauchwölkchen pufft vom Deck auf. Später schwelt ein dunkler Nebelschwaden von unten her um die Mäste, verflüchtigt sich in der Luft.

Ruru heult. Das Maul aufgerissen, stöhnt sie ihren Schmerz aus. Die Mannschaften haben viel Rum und Arrak mit sich genommen. In Kesseln kochen sie unter den Eskimozelten Punsch. Die Gelehrten haben den Ernst der Lage erkannt, sie gehen an dem Ronde der Scholle hin und her, unter ihnen herrscht düsteres Schweigen.

Der Geograph, der Missionar und mein Vater treffen sich bei Rurus Schmerzenslager. Sie bemitleiden das Tier. Die tausende und aber tausende von Ratten, die im Schiffsraum langsam schmoren und ersticken, bemitleiden sie nicht. Sie würden die Ratten auch nicht bemitleiden, wenn sie verbrennen würden. Und das Schiff mit ihnen? Brennt es? Brennt es? Brennt es aus? Immer stärker wird die Wolke, dunkler, von Fünkchen durchzuckt, Viertelstunde vergeht auf Viertelstunde in dem gleichbleibenden fahlen Licht des Polartages, bis aus der schweren, schieferfarbenen Rauchwolke mit einem Kanonenknall eine hellfeuerfarbene Lohe herausschlägt.

Zum erstenmal, seit Menschen leben und die Erde fest gegründet ist und seit Schnee und Eis hier unter dem siebenundachtzigsten Breitegrad die Erdkrume und das Gestein unten umpanzert halten, bekommt diese Eis- und Wasserwüste helles Feuer zu sehen.

Die Gelehrten wollen es nicht sehen. Auf den letzten Kistenbrettern wird von der Mannschaft der letzte Kessel Arrakpunsch erhitzt. Diesmal trinken die Herren mit. Unter ihren hohen, schmutzigen Pelzkappen, welche über den Nasenwurzeln abschneiden, zeigt sich auf ihren dunklen oder fahlen, ausgemergelten Gesichtern ein entrückter Ausdruck, der ebenso die Miene des fassungslosen Grauens als die Miene einer durch den heißen Alkohol bewirkten dumpfblöden Fidelitas sein kann. Viele sind zahnlos. An den verwahrlosten Bärten hängen Tropfen des starken geistigen Getränkes. Nur Verzweiflung ist es, die allem zugrunde liegt. Stumme Verzweiflung, als sie, einer vom andern lautlos darauf aufmerksam gemacht, ihre Blicke noch einmal dem von Flammen geschüttelten Schiffe zuwenden: sie sehen, wie die Ratten, so dicht an dicht gepreßt, daß sie einander den Platz im Wasser streitig machen und eine die nächste fast heraushebt, ein glattes, glitzerndes, dunkler geströmtes Rückenfell an dem nächsten und so fort, – die scharfen Köpfe weit vorgestreckt, die schwarzen Rattenaugen aufgerissen, – sie sehen, wie die Rattengemeinschaft, ohne einen Vorboten vorauszuschicken, in einem Zuge, als wären die zehntausend Tiere ein einziger Körper, in dem Zwischenraum auftaucht, der nun im Frühling zwischen der westlichen Bordwand und dem östlichen Schollenrand herausgetaut ist. Aus allen Luken stürzen ihnen Rattenvölker über Rattenvölker nach, erst an Deck und von da in das eisblau-goldene Wasser, in dem sich die Flammen wogend spiegeln.

Die Tiere haben ein einziges Ziel, einen einzigen Willen, sie schwimmen mit ruhiger, ausgeglichener Kraft. Die kleinen Eisschollen schieben sie gewaltig vor sich her. Sie streben dem Lande zu. Den Menschen zu.


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