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Der erste Versuch sollte am Spätnachmittag beginnen. Es traf sich günstig, daß ein frischer Fall, der sich im ersten Fieberstadium befand, eben aufgenommen worden war. Wo sollten nun die Versuche stattfinden? Es rächte sich, daß Walter während der letzten Zeit abwesend gewesen war und daß wir in unserer ersten Besprechung nachher nicht alle Einzelheiten mit ihm hatten festlegen können.
Sollte man die Glasgefäße mit den jungen Mücken in die Krankenzimmer hinaufbringen? Oder sollte man den Kranken heimlich, still und leise in das Laboratorium hinabtransportieren?
Wie würde es gelingen, die Mücke erst einmal richtig zum Ansaugen zu bekommen? Und wie sollte man sie dann dazu bewegen, unmittelbar darauf (oder später?) ein zweitesmal zu stechen?
Sollte man günstigenfalls den Übertragungsversuch sofort an Nummer eins (March) und zwei (mir) durchführen, oder sollte man sofort differenzieren? Das heißt, sollte man bis zum Erreichen des ersten positiven Ergebnisses immer die Versuchsanordnung die gleiche bleiben lassen, oder dieselbe sofort abändern? Zum Beispiel mich erst am zweiten oder dritten Tage stechen lassen? Ja, hätte man »Hekatomben« von Experimentalwesen, etwa ein paar hundert Kaninchen oder Tausende Mäuse oder Ratten zur Verfügung gehabt, dann hätte man die Versuche nicht vorher bis ins letzte ausklügeln müssen. Wie die Sache aber stand, konnte man nicht genug vorsichtig sein, und alle Eventualitäten mußten gründlich erwogen werden, bevor man auch nur ein einziges Experiment wagte.
Es erscheint nur natürlich, daß alle unruhig waren. Ob man aber das Gefühl, das uns erfüllte, mit Angst im gewöhnlichen Sinne bezeichnen darf, bezweifle ich. Wir wollten ja alle das Experiment und was mich anbelangt, muß ich sagen, daß es meine ersten lichten Minuten seit dem Ableben der geliebten M. waren, als ich, in den Armen die Glasgefäße mit den jungen Mücken, vorsichtig die Treppe zu dem Krankenzimmer hinaufging, gefolgt von meinen Freunden. Waren diese Augenblicke deshalb »licht«, weil ich nicht Nummer eins war und noch eine Gnadenfrist vor mir hatte? Ich war damals noch wie im Rausch, später wurde es anders.
Walter war nicht der gleiche, wie ich ihn früher gekannt. Eine Kleinigkeit konnte ihn aus dem Gleichgewicht bringen.
War es denn mehr als eine Kleinigkeit, war es etwas anderes als eine Bagatelle im Vergleich mit unseren großen Plänen, wenn es mit dem Assistenzarzt zu Differenzen kam? Der junge Arzt war zurückgekehrt, er hatte pflichtgemäß die Kranken übernommen. Er arbeitete angestrengt und wollte nachts seine Ruhe, seine gute Matratze. Aber wie ich schon sagte, bewohnten nun der Generalarzt und Walter seine Dienstwohnung, die er sich so behaglich wie nur ein kleiner Pfahlbürger mit Decken, Kissen, Photos an der Wand, einer koketten Seidenschirmlampe auf dem Nachtkästchen, mit Ventilator und sogar mit Moskitonetzen über seinem Bett und vor dem Fenster ausgestattet hatte. Nun war er zurückgekommen und hatte sein Nest von anderen Gästen eingenommen gefunden. Man hatte ihn nur notdürftig anderenorts untergebracht. Die Oberin, eine bigotte, materialische, aber sehr tüchtige Person, hatte alles versucht, was sie konnte, um den verwöhnten, hübschen, jungen und nicht einmal ganz untüchtigen Arzt zufriedenzustellen, dessen Dienst in dem Infektionslazarett, abgeschnitten von der Welt, nicht der allerleichteste war. Aber was war viel zu tun? Alle mußten sich in Geduld fassen und vielleicht hätten einige höfliche Worte Walters Wunder getan. Aber Walter hatte, als der Assistenzarzt seine ehemalige Behausung aufgesucht hatte und sich einige Gegenstände, Bücher, Ventilator, Lampe und Schreibzeug etc. hatte herausholen wollen, ihn brüsk angefahren. Dabei war doch er der Gast, der andere der Besitzer! Es war zu einer erregten Unterhaltung gekommen, und wir hatten vielleicht einen Gegner mehr. Und gerade dieser junge Arzt, der doch die unmittelbare Pflege und klinische Behandlung der Y. F.-Kranken zu leiten hatte, wäre uns ein sehr brauchbarer Helfer gewesen. Wir hatten ihn übrigens unterschätzt. Er erwies sich später als verschwiegen und loyal, half mit und trug uns nichts nach.
Wie sehr wir die Hilfe einer jeden wahrhaft hilfreichen Hand benötigten, sollte sich sofort zeigen, als wir nun das Krankenzimmer betraten. Der Patient war ein halbwüchsiger Junge mit sehr ausgesprochenen Krankheitserscheinungen. Die Gelbsucht fehlte noch, aber die Augen zeigten das bekannte entzündete, tränende Aussehen. Er war benommen, fast somnolent, und es war nicht einmal leicht, ihn ohne fremde Hilfe richtig zu entkleiden. Davon, daß wir ihm unsere Absicht klarmachen konnten, war natürlich keine Rede. Endlich war es so weit. Sein schlanker Oberarm war entblößt, die Adern standen hervor. Die Haut zeigte nicht allein die leichte Röte mit dem bei Y. F. häufigen Stich ins Bläuliche, sondern auch den etwas selteneren nesselartigen Quaddelausschlag, wie ihn sehr schwere Fälle gleich im ersten Stadium haben.
Wir zogen die Vorhänge vor den Fenstern zusammen, trotzdem war das Zimmer, das nach Westen lag, noch hell.
Carolus hatte ein Merkblatt für Nummer eins angelegt und zeichnete mit seinem schönen Füllfederhalter den Namen, das Alter etc. des ersten Versuchsobjektes auf. Die Feder wollte auf dem rauhen Papier nicht fließen. Der gute Carolus beleckte daher in seiner ganzen Naivität die Iridiumspritze und – jetzt schrieb die Feder. Solche Dinge waren ihm ebensowenig abzugewöhnen wie es ihm anzugewöhnen war, zum Beispiel die Türen richtig hinter sich zu schließen. Ob es wie auf dem Schiff die Tür des Klosetts war oder wie jetzt die Tür des Krankenzimmers, er ließ sie offen. Auf dem Schiff war das ohne Folgen gewesen, denn was er dort vollbrachte, war kein Geheimnis. Aber hier?! Zum Unglück ging gerade Dr. P., der junge Assistenzarzt, vorbei, gewahrte durch den Spalt der Tür unsere ansehnliche Versammlung, diese fremde Ansammlung von Ärzten und Helfern mit Glasgläsern etc. in seinem Bereich, bei seinem Kranken, zu Gott weiß welchem Eingriff entschlossen. Was sollte er sich denken, der von unserem Plane nichts wußte?
Aber Dr. P. hatte das gentlemanmäßige Empfinden, sich nicht um Geheimnisse zu kümmern, deren Zeuge er gegen die Absicht der Beteiligten geworden war. Er blickte uns offen an, verbeugte sich sogar leicht vor uns allen, schloß aber dann sachte die Tür von außen und ließ uns ungestört. Wir hatten in Zukunft an ihm einen zuerst nur diskret helfenden, dann aber mit allem Eifer für unsere Sache sich einsetzenden Unterstützer. Ohne ihn und ohne die alte Oberin des Hauses, der ich später einige Worte widmen will, hätten wir nicht einmal die ersten, die geringsten Schwierigkeiten überwunden. Man glaubt vielleicht, es wäre schon viel damit gewonnen gewesen, daß wir auf dem richtigen Wege waren. Aber dieser richtige Weg war bis jetzt nichts als eine unbewiesene Theorie. Wie schwer sie exakt zu beweisen war, sollten wir sofort sehen.
Eigenartig war die Situation, wo wir gleichsam mit der Uhr in der Hand uns selbst einer Krankheit ausliefern wollten, deren Schrecklichkeit uns eben ad oculos demonstriert wurde.
Mir wenigstens klopfte jetzt das Herz beängstigend bis zum Halse, obgleich noch nicht ich, sondern nur March heute an der Reihe war und bis zum nächsten Experiment, dem meinen, die Welt untergehen oder sonst ein Wunder geschehen konnte. Vom Standpunkt der experimentellen Forschung war es nichts besonderes.
Endlich waren also alle Vorbereitungen getroffen. Wir suchten eine weibliche Mücke heraus (die Männchen unterscheiden sich ja sehr deutlich von den Weibchen, und nur die Weibchen sollten beißen oder stechen, hieß es) und siedelten sie vorerst in einem Glasröhrchen an, wie man es zur Urinuntersuchung und zu allen chemischen Experimenten in der internationalen Welt der Gelehrten verwendet. Die Mücke hockte sich bucklig an die glatte Wand des mit einem Wattepfropfen verschlossenen Röhrchens und schwang das letzte Beinpaar rhythmisch auf und nieder. Wir hatten dafür gesorgt, daß sie seit zwei Tagen kein Zuckerrohr, keinen Zucker etc. bekommen hatte, und es war anzunehmen, daß sie sehr ausgehungert sein würde. Dann nahm ich den Wattebausch von dem Röhrchen und hielt dieses mit der Mündung nach unten über die Haut des Kranken, der, schon in der charakteristischen, aashaften Dunstwolke seiner fürchterlichen Krankheit, schnell und oberflächlich atmete und uns kaum beachtete. Seine Hände hielt Carolus fest, während Walter mir behilflich war. March, Nummer eins unserer Versuchsreihe, stand mit entblößtem Oberarm daneben und lächelte mir zu, wie um mir Mut zu machen.
Aber ich hatte keine moralischen Bedenken. Die technischen Schwierigkeiten füllten mich durchaus aus. Jetzt war das Insekt zu der Haut des Kranken hinabgeglitten, so schnell, als falle es auf die Haut hinab: mit immer schnelleren, wippenden Bewegungen des Beinpaares hielt es sich im Gleichgewicht. Den Hinterleib, weißgestreift, hielt es etwas erhoben, das winzige Köpfchen senkte es hinab. Die winzigen Antennen, befiederten Zweigen vergleichbar, preßten sich an die Haut, den nadelförmigen Stachel bohrte es in das Gewebe. Die Stegomyia durchdrang es mühelos, und während der nur scheinbar bewußtlose Kranke aufzuckte, so daß wir ihn festhalten mußten, (nur ein Mückenstich!), sog sich die Stegomyia fasciata an.
Voll und toll. Das war gut. Es war fünf Uhr dreißig Minuten am ... 192 ..., an einem Wochentag; Dienstag, glaube ich. Das Zimmer war übrigens das gleiche, in dem meine Portugiesin gelebt hatte.