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Meine Frau, eines neuen Liebesfrühlings gewärtig, hatte es mir sehr zum Vorwurf gemacht, daß ich sie bei dieser Reise nicht begleitet hatte. Konnte ich es denn, ich, der ich mich nach nichts so sehr sehnte wie danach, der lästigen Nähe dieses Menschen möglichst lange enthoben zu sein?
Aber diese Zeit war trotzdem keine gute für mich. Meine Gläubiger gingen mir nicht von den Fersen, sie zwangen mich dauernd, ihnen auszuweichen, am Fernsprecher mich zu verleugnen, mein ganzes Leben umzustellen, den Kampf gegen ihre nur zu berechtigten Forderungen mit allen Mitteln aufzunehmen. Ein Teil von ihnen erklärte sich mit der Rückzahlung der Gelder ohne Zinsen, ein anderer Teil mit einem Ausgleich einverstanden, aber ich konnte nicht daran denken. Und dabei besaß ich keine Aussicht, sie jemals gänzlich los zu werden. Ein Teil von ihnen war sehr unverschämt und drohte mit allem möglichen. Aber es nutzte ihnen nichts.
Im Klub war ich nicht mehr so gerne gesehen, da häßliche Gerüchte über mich umliefen. Ich sollte als Arzt unzuverlässig und habsüchtig sein, sollte Tiere unnütz gemartert, ihnen Eau de Cologne in die Augen gespritzt haben, den Hunden, die ich bei Bekannten heimlich mitgenommen, also gestohlen hatte, sollte ich vor den Experimenten die Stimmbänder zerstört haben, um sie am Heulen zu hindern, etc.; ich sollte durch sadistische Mißhandlungen meiner Frau die letzten Reste (!) ihres Vermögens ausgepreßt haben, nachdem ich sie hypnotisiert und ihrer Willensbestimmung beraubt. Meine wissenschaftlichen Arbeiten sollten auf Bestellung und gegen Bezahlung von anderen, begabteren, geliefert sein. Ich sollte auch Menschen in meiner Klinik qualvollen unnützen Experimenten unterzogen und mich nur durch ungeheure Geldopfer (daher angeblich meine Geldnot!) von der Strafverfolgung durch die Hinterbliebenen meiner Opfer befreit haben. Ich konnte niemals den Ursprung dieser infamen Gerüchte direkt ausfindig machen. Es mußte jemand aus meinem engeren Kreise sein, aller Wahrscheinlichkeit nach war es der Mann meiner Stieftochter. Meine Briefe an meine Frau wurden nie ernst genommen, das heißt nie richtig beantwortet, ich schrieb täglich, empfing trotzdem von ihr Klagebriefe, in denen sie mir vorwarf, ich dächte nicht mehr an sie. Was sollte ich tun?
Aus meiner gewohnten Beschäftigung gerissen, (die Versuche mußten angesichts der vollständigen Geldebbe stocken und gerade jetzt hatte ich das Toxin Y fast isoliert, weißliche, hygroskopische Kristalle), irrte ich in der Stadt umher – auf der Suche nach etwas Neuem. Vor den Schwestern wußte ich mich zu schützen; die ältere hatte mich angesichts meiner Geldknappheit verlassen, die jüngere hing aber noch immer an mir. Ich konnte sie aber durchaus nicht brauchen. Ich sagte es ihr brutal ins Gesicht. Sie weinte auf offener Straße, aber sie begriff mich dann und zog sich zurück. Ich habe nie wieder von ihr gehört.
Ich traf durch Zufall einen Bekannten, einen ehemaligen Mitschüler. Einst war er einer der am wenigsten Begabten der Klasse gewesen, hatte aber die schnellste Karriere gemacht, war Mitdirektor einer chemischen Fabrik, die sich auch mit der Erzeugung von medizinischen Präparaten befaßte. Haarmittel, Kalkpräparate, Verjüngungsmedizinen. Sein Versuchslaboratorium befand sich in einer weit entfernten Stadt. Er machte mir ein Angebot.
Ich schrieb am Abend noch einmal meiner Frau. Ich legte ihr nahe, der Ehe ein friedliches Ende zu machen, da diese uns beide körperlich und seelisch zermürbe. Statt aller Antwort kam sie selbst. Sie hätte »zufällig« diesen Brief erhalten, die früheren hätte ihr die Tochter vorenthalten. Sie war aufgeregt, verängstigt, deutliche Zeichen körperlichen Verfalls waren nicht mehr zu übersehen. Manchmal griff sie mit ihrer reich beringten, runzligen Hand (Hände zu emaillieren hatte man noch nicht heraus) sich ans Herz. Mich durchzuckte der Gedanke, wie glücklich wir beide wären, wenn sie heute oder morgen einen schmerzlosen Tod fände. Ihre Krampfadern machten ihr Beschwerden. Einmal hatte sich ein Teilchen gestockten Blutes aus den Venen des Unterschenkels losgelöst und war in das Gehirn gedrungen. Sie zweifelte, ob sie wieder ganz gesund würde. Vor einer Operation hatte sie Angst, vielleicht weil sie bei mir gesehen hatte, daß die Ärzte keine unfehlbaren Götter sind. Ja, nichts weniger als das. Ich kam durch eine seltsame Gedankenverbindung auf die eigentümliche Wirkung, die ich bei dem Toxin Y, meinem aus Scharlachkulturen gewonnenen Giftstoff in kristallinischer Form beobachtet hatte; es waren ebenfalls abnormale Gerinnungserscheinungen, die bei den Versuchstieren einen plötzlichen Tod, einen Lungenschlag, einen Hirnschlag, einen Herzschlag hervorgerufen hatten. Man hatte es in der Wahl. Gelitten hatten sie nicht. Glaube ich.
Ich machte mich, es war Spätnachmittag, unter einem Vorwand von der durch die Reise und die Aufregung ermüdeten Frau frei. Sie wollte mich halten, wollte mir noch ausführlich anvertrauen, wie ihre Tochter und deren Mann ihr mit Entmündigung und Vermögensentzug gedroht hätten, wenn sie nicht von mir ließe. Sie wollte mich mit ihren bloßen Armen umfangen – mit Mühe rettete ich mich.
Die Dienstboten hatten keinen Lohn, der Hauswirt keine Miete bekommen. Ich mußte den unliebsamen Auseinandersetzungen mit meiner Frau entgehen. Meine Klinik stand fast ganz leer. Ich hatte keinen Patienten, und der Schwiegersohn, der sich an den Kosten hätte beteiligen müssen, fand Ausflüchte und legte seine Kranken in eine andere Privatklinik. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich nicht meinen Vater aufsuchen solle. Seine Unterschrift auf einem Scheck war ebenso viel wert wie die eines Arztes auf dem Totenschein meiner Frau, der mich in den Besitz des Geldes setzte. Aber ich wagte den Besuch bei meinem Vater nicht.
Ich begab mich in das Laboratorium. Einige Briefe beruflicher Art lagen auf meinem Schreibtisch. Ich nahm aus dem versperrten Schrank die kleine Eprouvette, die etwa vier Zentigramm des Toxin Y enthielt. Ob ich einen klar umrissenen Plan meiner Tat schon jetzt faßte oder ob ich mich selbst nur auf die Probe stellte, wie es wäre, wenn ... ich kann dies heute nicht mehr sagen, genausowenig wie ich den Grund sagen kann, der mich in die Gegend meines Geburtshauses, das sogenannte Rattenpalais, führte, eine weitläufige alte Villa am Flusse, wo ich mit meinen Eltern und Geschwistern meine Jugend verbracht hatte. Den Namen hatte das Haus von der Anwesenheit vieler Ratten. Um mich abzuhärten, hatte mich mein Vater einmal drei Nächte lang mit Ratten, (die er haßte), in einem Zimmer schlafen lassen. Jetzt war das Haus lange schon frei von Ratten, es diente Arbeitern und Angestellten zum Quartier, in viele kleinere Wohnungen aufgeteilt. Ratten mochten kaum mehr hier hausen, eher eine Überzahl von Kindern, sie wimmelten umher. Ungezogen, unterernährt, aber voll Lust und Lärm. Ich beneidete sie um ihre Jugend.
Der Garten bestand nicht mehr. Auf dessen Grund und Boden erhob sich, mit feuchten Flecken in den Mauern, eine Mietkaserne. Mich überkamen beim Vorübergehen Erinnerungen an meine Kinderjahre. Bitterkeiten, ergebnislose Grübeleien. Haßgefühle gegen meinen Vater, Neidgefühl gegen meine Geschwister. Mitleid mit meiner Frau und mit mir selbst.
Spät kehrte ich zurück. Ich hatte in der Stadt zu Abend gegessen und nahm an, daß meine Frau, von der Reise ermüdet, schon längst schlafen gegangen sei. In solchen Fällen übernachtete ich manchmal, um ihren leisen Schlaf nicht zu stören, auf einer bequemen Lederkouchette im Herrenzimmer. Auch ich war außerordentlich müde. Der Barometerstand war für diese Jahreszeit, Mitte August, ungewöhnlich niedrig, die Luft erstickend schwül. Feucht, aber ohne Neigung zu Regen. Bevor ich schlafen ging, nahm ich das kleine Glasgefäß mit dem Toxin aus der Tasche und stellte es abseits auf die Spiegelplatte einer Vitrine. Aber ich konnte nicht schlafen. Auch meine Frau hörte ich plötzlich in ihrem gerade über dem Herrenzimmer liegenden Zimmer hin und her gehen. Sie war erwacht oder noch nicht eingeschlafen. Sie sprach laut. Mit sich?
Ich fand keinen Schlaf. Ich war leise in das Badezimmer gegangen, wo in einem Wandschrank immer Pyjamas sich befanden. Der Schrank war aber abgesperrt, und ich hatte die Schlüssel meiner Frau übergeben. Ich kleidete mich also nicht aus. Die Schritte im Zimmer meiner Frau hatten jetzt aufgehört, ebenso das Geräusch ihrer Stimme. Eben wollte ich mich zur Ruhe begeben, als sie auf dem Treppenabsatz erschien, in ein lachsfarbenes, mit Glasperlen reich besticktes, kostbares Schlafgewand gehüllt. In ihren Augen lag ein Ausdruck, der mich stets in der unbegreiflichsten Weise sowohl angezogen, als auch abgestoßen hat, eine hündische Zärtlichkeit, eine Wollust, geschlagen zu werden. Ich zog die Schultern zusammen, ich senkte den Kopf. Die Wut gegen diese Frau, die jetzt noch lächeln konnte, stieg in mir hoch. Ich ließ es sie merken, daß ich nur den einzigen Wunsch hatte, allein zu sein. Sie hatte, in dem Herrenzimmer die Lichter andrehend, das blitzende Glasgefäß mit dem Toxin bemerkt. Sie hielt es für Morphin. Sie fing erst an, mir wegen tausenderlei Lappalien Vorwürfe zu machen, dann weinte sie und ohne Übergang, läppisch lächelnd, stellte sie an mich die Bitte, ihr dieselbe Injektion zu machen, wie ich sie ihr vor ihrer Reise gemacht hätte.
Ich empfand die tödliche Ironie des Schicksals so stark, daß auch ich lächeln mußte. Oder ahmte ich nur ihre ungeschickte, gläserne Gesichtsgrimasse nach? Einerlei, das versetzte sie sofort in bessere Laune, sie umfaßte mich, ihren sinnlichen Trieben von neuem Untertan, mit den kurzen, rosig gepuderten Ärmchen, sie schleppte mich mit sich nach oben in unser Schlafzimmer, zog die Vorhänge vor und umarmte mich. Ich stieß sie fest fort, und das war der Beginn. Sie wollte das, was sie immer gehabt hatte. Ich konnte ihr nicht widerstehen. Je ärger ich es trieb, desto verbissener ihr Ausdruck in ihrem Glück! Ich war in ungeheurer Erregung. Würde sie unter ihrem masochistischen Rausch vergessen, worum sie mich gebeten hatte? Die Injektion? Ich wollte es, ich wollte es auch nicht. Niemals widersprach so sehr ein Teil meines Ichs dem anderen. Denn die äußerste Notwendigkeit einer gewaltsamen Lösung von ihr bestand ja seit kurzem nicht mehr. Ich konnte die Stellung in einer entfernten Stadt annehmen und ein neues, ein bürgerliches Leben ohne sie beginnen.
Das Telephon schlug an. Ich dachte – warum gerade jetzt? – an meinen Vater. Das Signal wiederholte sich. In einer besonders schrillen, aufreizenden Art, wie mir schien. Aber weder ich noch meine Frau gingen an den Apparat. Das Klingeln muß bald aufgehört haben.