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II

Ich muß der Wahrheit entsprechend gestehen, daß ich vor der Frau Walters, Alix hieß sie, kein ganz reines Gewissen hatte, als ich jetzt ihre Tränen stoßweise zu den Salutschüssen fließen sah. Sie hatte ihren schönen, etwas männlichen Kopf in die Ellenbogenbeuge hinabgesenkt, und man sah noch am Nacken, unter dem Haaransatz, die Einstichstelle des Insekts mit winzigen schwärzlichen Resten des Insektenkörpers überkrustet. Offenbar hatte sie in ihrem wahnsinnigen Schmerze sich seit dem Ableben ihres Gatten nicht mehr richtig gewaschen und gekämmt.

Muß man mit einem so verelendeten Menschen nicht Mitleid empfinden? Aber leider war es mehr als bloßes Mitleid. Es war die innere Stimme, es war der Unfriede in mir. Ein Stück meines Ichs, das sich gegen ein anderes auflehnte, und ich wußte im voraus, daß ich keine gute Zeit zu erwarten hatte. Aber war denn die arme Kreatur, die eben ihren besten, ja, den einzigen Freund verloren hatte, nicht noch tausendmal schlimmer daran?

Die Frau klagte jetzt über krampfhafte Schmerzen im Unterleibe. Sollten es vielleicht die ersten Wehen sein? Ich fragte sie, die Sache so zartfühlend wie nur möglich umschreibend, aber sie verneinte, und ich nahm an, sie habe nach den früheren Geburten Sicherheit und Erfahrung genug, um zu wissen, wie es um sie stand.

Mir lag nur daran, daß sie das Y. F.-Haus sobald als möglich verließ. Wie sollten wir ihr hier im Falle einer plötzlichen Entbindung den nötigen Beistand leisten? Ich hatte zwar einige geburtshilfliche Kenntnisse, die ich mir auf Wunsch meiner verstorbenen Gattin seinerzeit angeeignet hatte, bevor ich meine Privatklinik eröffnet hatte. Aber ich hatte genug von gefährlichen Experimenten. Das wird jeder verstehen.

Nur der verstand es nicht, auf den ich bis jetzt am meisten gerechnet hatte, March. »Du willst sie wohl los sein, du willst die Verantwortung für deine Niedertracht nicht tragen?« zischte er mir entgegen, als ich ihn bat, seinen Einfluß bei der Witwe unseres Freundes wahrzunehmen und sie zu veranlassen, ihre Wohnung in der Stadt, (im Hause des gastfreundlichen Subagenten ), wieder aufzusuchen.

»Niedertracht?« Ich wiederholte das Wort mit ruhiger Stimme und blickte March solange fest ins Auge, bis er seinen Blick senkte. Noch war ich ihm überlegen, und er wußte es. Es mußte anderes kommen, um uns auseinanderzureißen.

Aber auch er wußte sich zu fassen. Er antwortete mir, zwar zögernd, aber mit unwiderlegbarer Logik. In diesem Punkte war er durch meine Schule gegangen, wie Carolus in bezug auf medizinisch-bakteriologische Technik durch die Schule Walters. »Siehst du nicht ein, Louis«, (zum ersten Male verwechselte er meinen Namen mit dem seines verstorbenen Freundes, des »Kadetten«), »begreifst du nicht, Georg, daß die Frau dieses Haus jetzt nicht mehr verlassen darf? Sie darf absolut nicht zu ihren Kindern zurück, wir dürfen diese nicht auch noch gefährden.«

Für dieses »wir«, das er so beiläufig anbrachte, war ich ihm dankbar. Ich rückte näher zu ihm und bat ihn, er solle mich nie verurteilen, bevor er mit mir gesprochen habe. Er versprach es, es war ja auch nichts leichter als das. Eine Lösung war es nicht.

Ich hätte mich nur zu gerne täuschen lassen, ich traute ihm, wie ich nie einem Menschen außer meinem Vater und meinem Bruder getraut hatte. Es war Unrecht, denn die menschliche Natur verträgt kein unbedingtes Vertrauen, keine grenzenlose Hingabe der Seele. Man hat nur mit Tatsachen zu rechnen.

Die Entbindung schien glücklicherweise noch nicht unmittelbar bevorzustehen. Wir, Carolus und ich, rechneten aus, in welchem Monate der Schwangerschaft die Frau sich befinden könne, und kamen zu dem Resultat, daß mindestens noch vier Wochen bis zum Schluß fehlten, Etwas beruhigt gingen wir auseinander.

Als ich allein war, meldete sich die Stimme meines bösen Gewissens von neuem. Hatte March recht? War es »Niedertracht«? Ich hatte, als ich die Mücke an dem Nacken der Frau ungehindert stechen ließ, nicht nur kein »Ansehen der Person« gekannt, wie ich es eben genannt habe. Bis zu dieser Grenze wäre ja alles erlaubt gewesen. Unerlaubt aber und auch in meinen eigenen Augen jetzt, in ruhigerer Minute, nicht zu verantworten war, daß ich wissentlich eine vom Schicksal schwer geprüfte Frau gegen ihren Willen zu einem Experiment herangezogen hatte, das, wie das Beispiel des Gatten zeigte, sehr leicht mit dem Tod enden konnte. Und was dann? Die fünf Kinder, die der eitle und oberflächliche Subagent aus einer Art Mitleid jetzt noch bei sich wohnen ließ, die aber schon im Falle einer längeren Erkrankung unmöglich bei ihm bleiben konnten.

Und was sollte dann aus den armen Würmern werden? Die Pension, die der Witwe zukam, war gering. Noch geringer aber die Beträge, die für die Waisen in Betracht kamen. Und hätten sie selbst Millionen gehabt, wer ersetzte ihnen eine Mutter? Ich hatte es in meinem eigenen Leben erfahren, was es heißt, eine Mutter zu früh zu verlieren.

Ich verstand jetzt, weshalb der arme Walter so sehr gelitten hatte. Er hatte bereut. Er hätte niemals seine Frau und noch weniger seine Kinder in dieses höllische Klima mitbringen dürfen. Er für seine Person durfte Opfer über Opfer bringen, solange Atem in ihm war. Das berechtigte ihn aber nicht, auch den Seinen solche Opfer zuzumuten. Ich hatte, als ich mich von der Stegomyia stechen ließ und damit das ganze Martyrium sehenden Auges, wissenden Geistes auf mich nahm, ein Opfer gebracht, das einem Menschen meiner kaltblütigen Art schwerer zuzumuten war als einem anderen. Aber ich war mein eigener Herr. Einem anderen Menschen die Fülle solcher Leiden aufzubürden, hatte ich kein Recht. Ich hatte, wenn die Frau nun wirklich nach Ablauf der Inkubationsfrist auf Tod und Leben erkrankte, ihr eine schwere körperliche Verletzung vorsätzlich zugefügt. March hatte nicht unrecht, wenn er meine Hand von sich stieß.

Starb sie aber und ließe sie ihre armen Kleinen nun als Vollwaisen zurück, dann hatte ich außer dem Mord an meiner Gattin, für den ich deportiert war, noch einen zweiten veritablen Mord auf meinem Gewissen. Freilich hatte ich diesen zweiten Mord nicht aus egoistischen Gründen verübt. Aber gab dies dem Opfer das Leben wieder? Mußte ich ein Gewissen haben? Leider hatte ich es ebenso, wie ich Augen im Kopfe hatte und Finger an meiner Hand.

Mein bißchen Friede und innerer Ausgleich, (alle Ethik ist innerer Ausgleich der sittlichen Kräfte), alles war dahin. Ich liebte mich nicht. Ich verließ mich selbst und war damit ganz isoliert. Die Nacht, die mich nun erwartete, war nicht weniger qualvoll als die Nächte, in denen ich infolge des Leidens am Y. F. verzweifelt dagelegen und mein Leben verwünscht hatte. Auch March schlief jetzt nicht. Sonst war es des öfteren vorgekommen, daß ich meine linke Hand über den Rand meines Bettes hinausstreckte und meinem March, der auf der Erde an meiner Seite schlief, in sein wuschliges Haar ganz zart hinabfaßte. War er wach, antwortete er mir dann gewöhnlich mit seinem albernen, aber wohltuenden Lachen, und wir verplauderten einen Teil der Nacht. Schlief er aber, so störte ihn diese zarte Berührung nicht. Auch diesmal wiederholte ich mein Manöver. Meine Hand faßte nach seinem Kopf, wo die nach seiner Krankheit üppig neu sprossenden Flaumhaare wie bei einem jungen Tiere, einem Achttagelamm etwa, zu fühlen waren. Aber er, der entweder schon vorher wach gelegen hatte oder soeben wach geworden war, warf seinen Kopf zur Seite. Er antwortete mir nicht auf meine flüsternden Rufe. Und dabei hätte ich doch die leiseste Antwort aus seinem Munde gehört, denn ich war seit dem Überstehen meiner Krankheit überfeinhörig geworden und vernahm das Huschen der Ratten im Keller, das Marschieren der Wachen in den Korridoren des Souterrains und im Erdgeschoß, die leichten Schritte der Schwestern in den oberen Stockwerken, ja sogar das Wehklagen der Kranken in ihren im ganzen, weiten Hause verteilten Räumen, das Ticken von Marchs Uhr (eines Geschenkes Walters), alles ging in wechselnder Reihenfolge durcheinander.

Das jetzige und das künftige Leiden dieser unseligen Mutter und Gattin stand mir mit einer Deutlichkeit vor dem geistigen Auge, die es bei Tage nie hätte erreichen können.

Ich wollte es nicht sehen, ich wollte es nicht ausdenken. Ich stand auf und ging im Morgengrauen im engen Kellerraum umher, warf, ohne Rücksicht auf March, mit den Stiefeln nach den Ratten, die ich so gut traf, daß sie quiekten, aber nicht so gut, daß eine auf der Strecke geblieben wäre. Aber selbst diese dumme Jagd vermochte mich nicht von der Witwe Walters abzulenken. Unabweisbar quälte mich der Gedanke, ob ich meine letzte Tat wiederholen würde, wenn ich wieder vor ihr stünde, statt wie jetzt nach ihr. Mit diesem monomanen, ganz aus dem Zusammenhang gerissenen Gedanken warf ich mich nach Sonnenaufgang noch einmal auf die krachende Lagerstatt zurück und schlief über diesem Problem, das keines war, unruhig und schweißgebadet ein, träumte davon. Ich konnte mich weder zu einem Ja noch einem Nein entschließen.

Es würde mir vielleicht Ehre machen, wenn ich wenigstens jetzt die Tat richtig hätte bereuen und alles zur Wiedergutmachung hätte tun können. Aber es war mir nicht gegeben.

Wie gerädert, müder als beim Einschlafen und verzweiflungsvoller als je zuvor erwachte ich spät am Vormittag. March war bereits lange im Laboratorium. Er hatte von meinen Kleidungsstücken, die er sonst so pünktlich und eifrig reinigte, nichts angerührt. Alles lag so unordentlich da, wie ich es gegen Morgen in meiner Verzweiflung hingeworfen hatte. Der Ärmel meines Kittels war in das Faß mit Schmierseife gefallen, und ich hatte Mühe, alles zu säubern.

Inzwischen drangen gellende Schreie durch das Haus: die Frau Walters, Alix, die vor Schmerzen heulte und jammerte, wie ich nie ein lebendes Wesen hatte jammern hören. War denn die Welt nichts als eine Hölle?


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