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XII

Es bedurfte noch sehr großer Anstrengungen des Generalarztes, um die Witwe unseres Mitarbeiters endlich zum Abzug aus dem Y. F.-Hause zu bewegen. Ich will die verschiedenen Versuche, die mißlungenen wie den endlich gelingenden, nicht des langen und breiten ausführen, welche die beklagenswerte Frau machte, um mit mir in irgendeiner Weise zusammenzukommen und sich »auszusprechen«, wo es nichts auszusprechen gab. Sie liebte. Ich nicht. Ich sah in ihr bloß eine Kranke, bei der sich das Leiden nicht auf den mit so riesiger Zähigkeit und so prachtvollem Gesundheitswillen gesegneten Körper, sondern auf die Seele geworfen hatte. Ich hatte es nicht in der Hand, diese Seele zu heilen. Ich mußte sie mit Schweigen strafen, weil jedes Wort sie zu unerfüllbaren Hoffnungen zu ihrem sicheren Verderben ermutigt hätte. Die Frau hatte andere Aufgaben, die Zukunft ihrer unversorgten Kinder mußte ihr wichtiger sein als jedes persönliche Glücksphantom. Denn es war nur ein Phantom.

Endlich sollten wir alle die Freude haben, sie aus dem Y. F.-Hause scheiden zu sehen. Das Abschiednehmen dauerte eine Woche.

Ich verbarg mich während dieser Zeit meist im Laboratorium, und wir gaben vor, das Betreten dieses Raumes sei mehr denn je lebensgefährlich. Auf diese Art und Weise schützte ich mich vor dem letzten Abschied der Frau. Manchmal dachte ich an ihr wahrhaft furchtbares körperliches und seelisches Leid zurück, das sie, fast möchte ich sagen, unter meinen Händen durchgemacht hatte. Aber keine Spur davon war zurückgeblieben in ihrem Gesicht, das, von den schönen, rötlich-braunen, gewellten Haaren umgeben, sich immer wieder ab und zu, und am verzweifeltsten am letzten Tage, gegen die Glasscheibe preßte, welche das Laboratorium mit dem Korridor verband. Und ihre Seele?

Ich bemitleidete sie aus tiefstem Herzen. Man glaube mir dieses kurze Wort.

Endlich war es soweit, sie saß in dem Wagen des Subagenten, den dieser galanterweise die Höhe zu dem Klosterlazarett hatte hinauffahren lassen. Man gab ihr die junge Hilfsschwester mit, damit diese in den nächsten Tagen sich um den Säugling kümmere und der Witwe einen Teil der Arbeit bei der endgültigen Übersiedlung abnehme. Über die Quarantäne sahen alle hinweg. Es mußte sein.

Auch das Hündchen, das an die Desinfektion glauben mußte, war zu seinem Entsetzen glatt geschoren, mit Sublimatlösung abgebürstet, mit Karbol besprengt, und hockte jetzt im Wagen da, kaum mehr sich selbst ähnlich und heiser von stundenlangem Bellen. Es sah besseren Zeiten entgegen.

Es blieb mir die Unterschrift unter das erwähnte Dokument, die Todesart des hoch versicherten Militärarztes Walter betreffend, nicht erspart. Ich mußte sie nun also doch leisten, gegen mein besseres Gewissen, ebenso wie sie Carolus gegen sein besseres Gewissen hatte leisten müssen. Mit sonderbaren Gefühlen malte ich meinen Namenszug, zum erstenmal seit langer Zeit wieder, hin. Ich entsann mich des Tages, als ich ihn zum erstenmal, unter Führung durch die Hand meines Vaters, mit seiner sonst eifersüchtig gehüteten Goldfeder in ein Schulheft gekritzelt hatte. Jetzt setzte ich dem Namen Georg Letham nach: III. C, Sträfling dritter Klasse. In meinen jungen Tagen hatte ich auch geschrieben: Georg Letham, III. Classe. Vergangen, Weiter! So kehrt alles wieder in diesem kurzen Leben. Erst recht weiter!

Walter hatte sich in C. ebenso wie an seinen früheren Dienstorten immer der größten Achtung und Liebe erfreut. Die Versicherungsgesellschaft, oft auf das Wohlwollen der Verwaltungsbehörden angewiesen, wußte dies und unterließ es, seinen Erben im Anfechtungsprozeß weitere Schwierigkeiten zu machen. Ebenso unterblieben genauere Nachforschungen. Es war auch besser so. Das medizinische Gutachten des Assistenzarztes wurde anerkannt, obgleich es dies nicht verdiente. Wir waren aber alle fest entschlossen, lieber zehn Meineide zugunsten der Witwe abzugeben, als diese fast mittellos einem erbarmungslosen Schicksal zu überlassen.

Der Gouverneur hatte nach fünf Jahren ununterbrochenen Dienstaufenthaltes auf C. nicht mehr die beste Gesundheit.

Einen befristeten Erholungsurlaub zu nehmen und ihn in Europa oder sonst in einem Y. F.-freien Lande zu verbringen, war schon aus dem einen Grund unmöglich, weil er die Immunität gegen Y. F., das er schon einmal, gleich nach seiner Ankunft vor fünf Jahren, hier überstanden hatte, bei längerer Abwesenheit wieder verloren hätte. Er lebte nicht ungern hier und legte viel Geld zurück und residierte wie ein Fürst. Was half es? Seine Leber ertrug den Aufenthalt auf C. nicht länger, und er mußte fort.

So traf es sich infolge der geschwächten Gesundheit seiner Exzellenz für die Witwe Walters und die Ihren gut, daß ein größeres, bequem eingerichtetes Schiff, bereits in der Außenreede liegend und den Gouverneur aufzunehmen bestimmt, auch sie und die Kinder nach Europa transportieren konnte.

Als wir aus unseren Fenstern den großen Dampfer mit den zwei Schornsteinen (nicht die kleine »Mimosa«) unter Dampf sahen und die Regierungsbarkasse von und zu dem Schiffe durch das Wasser schoß, ertönte wieder einmal die Glocke des Fernsprechers, die mit ihrem grellen Klang so oft unseren verstorbenen Freund aus seiner Tätigkeit aufgeschreckt hatte. Carolus meldete sich, hörte flüchtig hin, rief dann mich heran und übergab mir mit sonderbarem Lächeln, seine langen gelben Raffzähne bleckend, den Hörer. Über den Inhalt des Gespräches spreche ich nicht. Es war das letzte Lebewohl der Witwe, die es nicht über sich hatte bringen können, wortlos zu scheiden, es war ihr »endlich gelingender Versuch«. Die Unterredung hatte keine lange Dauer. Mehr als zwei bis drei Minuten werden es nicht gewesen sein, und ich selbst bin dabei fast gar nicht zu Worte gekommen.

Gleichsam als Gegendienst hatte Carolus, der mich in der letzten Zeit als Menschen seiner Klasse behandelte, eine Bitte an mich. Aber ich konnte nicht.

Ich war ihm dankbar. Ich konnte und mußte ihm dankbar sein. Und doch konnte ich seinen Wunsch, (den ersten und einzigen, den er schon auf der »Mimosa« vergeblich ausgesprochen hatte), nicht erfüllen. Er wollte nicht mehr und nicht weniger, als daß ich mich endlich meiner Sohnes- und Bruderpflichten erinnere und daß ich nun sofort mit den Meinen in der Heimat in Verbindung trete. Ich konnte es nicht. Dieses Leben, (glaubte ich), lag abgelebt hinter mir. Ich vermochte es ebensowenig wieder zu beginnen, wie ich mich an Kot sättigen konnte. Auch um unserer Sache willen nicht. Nein. Andere, größere Männer, Heldennaturen über dem Kriege, die konnten es. Ich erinnere hier nur an den genialen Entdecker der Syphilisspirochäte, Schaudinn, der an sich Experimente mit Menschenkot gemacht hat. Er, dem die Menschheit doch bereits eine ungeheure, epochale, bahnbrechende Entdeckung verdankte, war an diesem scheußlichen Experiment, »wie das Gesetz es befahl, das er selbst sich gesetzt«, vor wenigen Jahren in der Blüte seiner Tage zugrunde gegangen.

Ich konnte mich noch nicht so überwinden. Mein Vater war mein Vaterland. Mein Vaterland lag hinter mir. Man hatte mich deportiert. Ich war innerlich deportiert. Ich wollte meine früheren »liebenden Herzen« als tot betrachten. Ich wollte auch selbst tot für sie sein. Ich wollte nichts erhoffen von ihnen und nichts von ihnen zu fürchten haben. Versteht man das?

Er verstand es nicht. Ich schüttelte nur stumm den Kopf auf seine Bitten, so herzlich sie aus seiner hölzernen Kehle herausgeknarrt wurden. Ich dankte für die guten Ratschläge des alten Carolus.

Am Abend dieses Tages, nachdem wir das Regierungsschiff zwischen den schwarzfelsigen Inseln im weinfarbenen Meere, eine goldfarbene Rauchfahne hinter sich herschleifend, hatten verschwinden sehen, begann March, mein früherer Freund, sich zum erstenmal wieder an mich zu wenden. Es war keine freudige Nachricht, die er mir zu bringen hatte. Er suchte Trost bei mir, und ich – alles zwischen uns Vorgegangene zu streichen entschlossen – versuchte ihm diesen Trost zu geben. Er wollte gern fort von hier. Waren die Versuche nicht schon endlich abgeschlossen? Er sehnte sich nach der Heimat! Und nach mir! Und zum dritten handelte es sich bei ihm um die »liebenden Herzen« daheim, um seinen morphium- und kokainsüchtigen Vater, der, wie der Sohn durch Briefe der Mutter erfahren hatte, sich die abgefeimtesten Betrügereien und Schwindeleien, und zwar immer auf Kosten der Ärmsten, denen er ihr Letztes entlockt hatte, hatte zuschulden kommen lassen. So konnte es in dieser drolligsten und schauerlichsten aller Welten als möglich angesehen werden, daß der verkommene alte Drogist eines Tages unter den Deportierten in einer flohfarbenen Montur, eine Nummer in Schwarz über der Brust, hier auftauchte, vielleicht gerade an dem Tage, an dem sein Sohn, begnadigt für seinen Heroismus, die unselige Deportationsinsel verließ.

Ich tat, was ich konnte, um ihn zu beruhigen. Den Fragen über die Versuche und über meine Gefühle wich ich aus. Aber ich bemühte mich, ihm die Verurteilung des verlorenen Vaters als unwahrscheinlich hinzustellen, obgleich ich sie für sehr gut möglich hielt. Hätte doch nach meiner Ansicht der alte, moralisch verkommene Mensch viel eher hierher auf C. gehört als der Sohn, den ich immer noch nicht so sehen wollte, wie er war. Ich wollte es nicht erkennen. Ich schob alle Schuld den Verhältnissen, der ungeschickten oder böswilligen Hand des Schicksals zu. Und noch in dieser Nacht sollte ich zu meinem Kummer sehen, daß ich immer noch nicht der Welt gewachsen war, wie sie in Wirklichkeit dastand, wie sagte ich einmal? in ihrem stupiden Ernst, »unverbesserlich« im besten, hoffnungsfreudigsten oder im schlechtesten Sinn. War sie nicht zu verbessern, zu ändern? Mußte man sie und sich selbst als Objekte eines grausigen, unmenschlichen, zynischen Humors betrachten? Und wenn jedermann hätte lachen, grinsen müssen, konnte ich es?


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