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Zweites Kapitel

I

Die Gefangenentransporte aus den verschiedenen Städten, die alle paar Monate fällig sind, sammelten sich im Laufe eines Tages in einer südlichen Hafenstadt, die ich von früher kannte. Es sollten, man wußte es nicht genau unter uns, hundert oder einige hundert zusammenkommen, um in eisernen Pontons auf den ausgedienten, aber auf neu hergerichteten Transportdampfer »Mimosa« gebracht zu werden. Unser aller Reiseziel war, ich sagte es wohl schon, C., die Strafkolonie.

Das breite, niedrige Schiff mit der kleinen, weißen, höckerartig vorstehenden Kommandobrücke vorne und dem kurzen, schrägen Schornstein hatten wir schon am Morgen draußen auf der Reede liegen gesehen, als wir aus den vergitterten Viehwaggons, je ein Mann an einen anderen angeschlossen, über eine Rampe auf den Frachtenbahnhof zwischen zwei Reihen von Bajonetten auswaggoniert worden waren. Wir sage ich, als fühlte ich mich schon als eingewöhntes Glied unserer Gemeinschaft.

Vorläufig war diese Gemeinschaft mehr körperlich als seelisch. Ich habe schon gesagt, daß ich mich vor und nach meiner Tat in fast völliger Vereinsamung (von meinem Bruder vielleicht abgesehen) befand, die so weit ging, daß ich niemandem gegenüber mich aussprach, ja nicht einmal irgendeiner Menschenseele zutraute, daß sie mich, meine Motive und das, was man Schicksal nennt, begreifen könne. Nun wurde ich mit einem anderen Menschen zusammengespannt im wahrsten Sinne des Wortes.

Anfangs war ich benommen von den schweren, wie von Gewürzen erfüllten Luft, von der direkten, grellen Sonnenstrahlung, von dem Lärm, von dem Anblick des freien Himmels, der fauchenden Lokomotiven, der dröhnenden Lastautos, der arbeitenden Krane mit den rasselnden Ketten etc., – Staub, Sonne und Palmen überall –, kaum konnte ich begreifen, was mit mir vorging. Man muß Wochen und Monate in streng geregelter Lebensweise, eben mönchisch, von aller Welt abgeschlossen, verbracht haben, um zu begreifen, was es heißt, mit einem Male eine weite Eisenbahnreise zu machen, aus der kühlen, dumpfen, sonnenlosen, stillen Zelle in das Getriebe eines modernen Hafens zu kommen.

Tagsüber herrschte auf dem sonnenüberströmten Winkel des Hafenplatzes, wohin wir in langer Kolonne in früher Morgenstunde geschafft worden waren, großes Gedränge. Für die Kleinstadt (die Stadt hatte nur den allmählich versandenden Hafen, eine alte, aber unbedeutende Industrie, dafür aber eine ziemlich starke Garnison) war unser Abtransport ein aufregendes Ereignis, etwa wie die Ankunft eines großen Zirkusses. Die Aufmerksamkeit schmeichelte vielen von uns.

So abgelegen die Stadt im allgemeinen war, so hatten sich doch ein paar Touristen hierher verirrt. Welch ein Ziel für die Kodaks! Auch ich war einmal hier gewesen und in meinem Album mochten Photos auch von dieser Stadt sich befinden. Und jetzt! Wir in unseren flohfarbenen, härenen Anzügen, dicke Säcke und schwere Bündel auf dem Rücken und unter den Armen, die Sträflingskappe schief auf dem rasierten Kopf, die Mäntel nach Soldatenart umgeschnallt um Achsel und Hüften, staubbedeckt, in unseren Gesichtern die Geschichte unseres Lebens, welch eine Sehenswürdigkeit! Wir waren den guten Leuten ebenso spannend wie ein Theater und viel billiger.

Ein Pressephotograph, der sich offenbar auf einer Urlaubsreise befand, machte seinen Apparat zurecht. Ehe er fertig war, waren wir vorbei. Ich sah mich um. Neben ihm stand ein älterer Mann, dem Photographen sehr ähnlich, vielleicht dessen Vater oder älterer Bruder. Beide schwammen geradezu in ihrem Schweiß, der ihnen, so leicht sie gekleidet waren, von den Gesichtern hinunterlief.

Die zwei Pressemänner versuchten, als wir uns schon dem Hafen näherten, uns nachzukommen und sich durch die Wachen zu uns hindurchzudrängen. Es reizte sie wohl, eine große Nummer, das heißt den Helden eines Sensationsprozesses, der während der Verhandlung schon durch alle Journale geschleppt worden war, jetzt beim Straf antritt festzuhalten.

Aber ihre Zähigkeit und ihr Eifer waren nichts gegen die gewaltigen Anstrengungen, welche die Angehörigen der Strafgefangenen machten, um an diese heranzukommen. Aus den vielen kleinen Straßen und Gäßchen, über Treppen, aus Gasthöfen und Schenken strömten sie schnell zusammen.

Ein etwa achtzigjähriger, gelähmter Mann wurde von einem braungebrannten, kräftigen Burschen im Rollstuhl herangefahren. Ein anderer, jüngerer, schien angetrunken zu sein. Eine dünne, hagere Frau in Schwarz hielt ihren käsebleichen Säugling im Arm und winkte mit der freien Hand.

Man hatte uns das Datum der Deportation bis zum letzten Abend geheim gehalten. (Ich hatte im Gefängnis an diesem Abend unbegreiflicherweise eine Art Heimatgefühl für meine Zelle empfunden, in der ich zum letzten Male übernachten sollte.) Trotzdem mußten die Angehörigen doch davon benachrichtigt worden sein. Nur die Stunde der Ankunft hatten sie nicht gewußt. Sie hatten uns erst gegen Mittag erwartet. Nun waren wir da, und sie waren in unserer Nähe.

Aber es war vergebens. Sie stießen gegen die Wachen wie gegen eine Mauer. Die Posten standen breitbeinig da. Die geladenen, entsicherten Karabiner hatten sie waagrecht in den schweren, bräunlichen Händen, wobei stets eine silbern blinkende Bajonettspitze und ein von langem Gebrauch glänzend und glatt geschliffenes Gewehrkolbenende von der Farbe einer Kastanie einander berührten. Jeder dritte Mann hatte an einem Riemchen links von dem Koppelschloß seine Eierhandgranate. Wir waren fast alle im Weltkrieg gewesen und wußten daher, was eine brisante Eierhandgranate, aus zwei bis drei Meter Entfernung geschleudert, bedeutet. Aber war es ihnen ernst? Die Sprengstücke hätten ebensoviel Opfer unter ihnen, den Wachsoldaten, gefordert wie unter uns. Sie fürchteten uns. Wir fürchteten sie. Und unter dieser Voraussetzung waren wir friedlich wie Lämmer.

Die Posten meinten es gut. Sie wollten uns vor der Liebe schützen. Spott beiseite! War denn nicht alles vergebens? Welchen Nutzen wollten Eltern jetzt ihren Kindern, Kinder ihren Vätern, Brüder ihren Brüdern gewähren? Welche himmlische Liebeslust wollten Mädchen und Frauen den Helden ihrer Herzen schenken, was sollte das späte Überangebot von Herz und Gemüt? Es änderte nichts. Nichts mehr. Ja, gehet hin in Frieden! Gut. Gut. Mag sein, die »liebenden Herzen« hatten alle unsere Untaten vergeben und vergessen. Sie dankten dem Undank mit Dank und hielten ihre Wangen zum Geschlagenwerden hin wie einst meine arme Frau. Aber waren deshalb die Taten ungeschehen? Wer gänzlich frei von Gewissen ist, trete vor! Ich bin nicht dabei.

Ihrer Lage wurden sich zwar die allermeisten nicht bewußt. Es hat ja nicht jeder das Unglück, leben und zugleich stets erkennen zu müssen, schuldig zu sein und dennoch nicht alle menschlichen Regungen in sich ausgerottet zu haben. Es waren die meisten keine rechnenden, grübelnden, ja nicht einmal streng logisch denkenden Wesen wie ich. Daß sie überhaupt noch auf der Erdoberfläche umherkrabbeln durften, war wohl das größte Plus ihres Lebens. Und dieses Gefühl, das letzte, was ihnen blieb, mußten die »liebenden Herzen« ihnen verbittern. Oder war es nicht so? Sollte es sie trösten? Liebe als Trost ohne eine größere praktische Wirksamkeit – war dies nicht eher eine Strafverschärfung?

Mein Bruder tröstete mich nicht. Er appellierte nicht an mein fragwürdiges Gewissen. Er verschärfte meine Strafe nicht. Er war jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach wieder einmal glücklicher Vater geworden. Mein Vater hatte ihm wohl finanziell unter die Arme gegriffen und als Gegenleistung von ihm verlangt, daß er mich meinem Schicksal und meiner Einsamkeit überlasse. Ich weiß nicht, ob sich alles so zugetragen hat, aber es paßt zu meinem Vater ebenso wie zu meinem Bruder.

Mein Bruder kämpfte sich mit seiner mittelmäßigen Begabung wacker durch das Leben und hatte unter meine Existenz einen Strich gemacht. Noch in der pathetischen Geste meines Vaters, der meinen Namen verleugnen wollte, hätte ich eine Art verderbter Liebe, die an ihrem Objekt leidet und verblutet, sehen können. In dem Verschwinden meines Bruders sah ich nur die kälteste, weil diskreteste Vernunft. Ich war glücklich, daß er mich nicht belästigte und zugleich (immer der alte Widerspruch in mir) nagte etwas wütend in meinen Eingeweiden wie Hunger ... und doch war es alles andere eher als körperlicher Hunger.


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