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Auch in dieser, meinem »Mückenstich« folgenden Nacht vermochte ich keinen ruhigen Schlaf zu finden. Ich versank zwar sofort nach dem Hinlegen in einen sehr tiefen Schlummer, schreckte aber, von kaltem Schweiß überströmt, auf, bevor sich March noch richtig hingelegt hatte. Ich sah ihn im unbestimmten Lichte mit etwas Hellem, Glitzernden hantieren, es war ein Rosenkranz, den ihm der Geistliche mit dem Amen an der Kehle (Nr. 4 unserer Versuchsreihe) gegeben hatte. So war auch March unter die Beter gegangen. Für mich, mein Seelenheil?
Ich wollte ihm seinen Trost nicht nehmen, aber ich war auch nicht imstande, ihm Trost zu geben. Ich beneidete ihn um seinen Glauben. Wie glücklich mußte ein Mensch in all seinem Elend sein, wenn er noch an Gott glauben konnte. Dankte March Gott vielleicht jetzt dafür, daß er durch die Allmacht Gottes vor der Ansteckung durch die Mücke bewahrt worden war? Nein, wahrscheinlich nicht.
Er hatte sich mir hingegeben, und er war natürlich glücklich, daß der Himmel ihn mit dem Y. F. noch nicht beim Wort genommen hatte. Jetzt sorgte er sich aber um mich, wie eine gute dumme Mutter um ihr einziges Kind. Er erwartete alles von mir. Er sehnte sich. Ein Kuß, eine ungeschickte, tölpelhafte Umarmung bei geschlossenen Augen, Liebesbeweise, an denen sich oft genug die unnatürliche, nicht auf Zeugung gerichtete Liebe der Gleichgeschlechtlichen Genüge sein läßt. Ich ließ es mir geduldig gefallen. Aber ich erwiderte es nie. Mein Gesicht war kalt. Ich wollte es nicht. Ich war dazu nicht imstande.
Warum es leugnen, dennoch klammerte ich mich an ihn. Aber nur im Geiste. Nicht mit dem Körper.
Er, und nicht Walter, der mir geistig gewachsen war, war mein Freund. Er war es geworden, ohne daß ich es bemerkt hatte.
Ich glaubte jetzt sogar, hätte ich eine Menschenseele von der Art Marchs während der letzten Jahre an meiner Seite gehabt, es wäre damals nicht so weit mit mir gekommen. Aber wenn er mir das gleiche sagte? Wenn er mir seine Neigung in der dümmsten, aber eben deshalb auch rührendsten Weise »auf den Knien seines Herzens« entgegentrug? Hatte ich doch die instinktive, krampfhaft zuckende Händebewegung des Fortwischens wahrgenommen, als sich die erste Mücke heute abend auf meinen Arm gesetzt hatte! Hatte ich doch auch gesehen, wie sein Gesicht freudig aufgeglüht hatte, als Walter mit dem zweiten gefährlichen Insekt über eine unvorsichtig fortgeworfene Bananenschale gestolpert war. Konnte man an soviel System glauben, daß March die Bananenschale trotz seines sonst so bewährten Ordnungssinnes an dieser Stelle gelassen hatte? Ebensogut möglich freilich war es auch, daß dies alles Zufall war. Ich wollte, als der ewige Zweifler, der an allem logischerweise verzweifelt, mir seine Liebe beweisen. Ich wollte ja glauben! Was half es? Was nützte es? Was war mir ein Mann, mit dem ich nicht einmal über unsere Sache – oder über mich sprechen konnte? Ich wollte auch dies! Seit jenem Vormittag auf dem Landungsplatz im Angesicht des Dampfers »Mimosa« auf der Reede, hatte es mich zu einer Beichte getrieben. Ganz genau so wie ihn. Aber nur er hatte sein Herz erleichtert. Ich nicht. Wie soll man reden? Wie kann man seine innersten Gefühle in Geschwätz und in triviale Zärtlichkeit umsetzen? Ich konnte es nicht. Ich bat ihn jetzt, mit dem Schlafengehen noch zu warten. Ich wollte noch einmal aufstehen, in den Klostergarten kommen. Die Nacht war sternenklar und relativ kühl. Ich bat ihn mitzukommen. Ich fühlte mich bedrückt. Ich fühlte mich elend. Ich hatte eine Ahnung, daß die Krankheit mit mir Ernst machen würde. Es war nur eine Ahnung, denn es war vom Standpunkt des wissenden Arztes grotesk, anzunehmen, daß sich schon drei bis vier Stunden nach erfolgter Infektion durch den Mückenstich an mir die ersten Erscheinungen des Y. F. zeigen sollten. Aber welcher Mensch denkt immer logisch und handelt immer konsequent? So nahm ich Marchs Hilfe beim Ankleiden an. Er zog mir die Socken an, so zart umfaßte er meine Fußknöchel, wie es meine Mutter einmal in meiner frühesten Jugend getan hatte, ich erinnere mich noch, daß ich gespürt hatte, wie ihr Atem, durch den damals üblichen, engen, mit Mustern bestickten Schleier (sie war im Fortgehen begriffen) hindurchziehend und diesen vor sich her treibend, meinen unbekleideten Unterschenkel gestreift hatte und wie die etwas locker sitzenden Haare unter ihrem Sammethütchen meine nackte Haut gekitzelt hatten. Ich war damals ein magerer, sehniger, trotziger, sehr stiller Bengel gewesen, zweieinhalb oder drei Jahre alt. Nicht auf übermäßige Zärtlichkeiten versessen, nicht durch übertriebene Zärtlichkeiten verwöhnt. Meine Mutter hatte ihre Kinder in nur kurzen Intervallen erhalten, sie konnte bei aller ihrer Herzensgüte sich keinem von uns ganz widmen. Bei der Sparsamkeit meines Vaters und seinen hohen Ansprüchen an Luxus war die Führung des Hauses nicht leicht. Die Mutter kam nie zur Ruhe. Als das jüngste Kind, meine Schwester, ein Jahr alt war, starb die Mutter. Auch damit schien sie Eile zu haben. Sie legte sich zu Bett, wir kamen auf fünf bis zehn Minuten zu ihr, und seither wurde sie nie wieder gesehen. Ich bin im allgemeinen kein Mann des Zurückdenkens, die Leser meiner Aufzeichnungen haben es vielleicht wahrgenommen, es liegt mir meist fern, Vergleiche zwischen dem Jetzt und dem Einst zu ziehen, die nutzlos und bitter sind. An diesem Abend war es anders.
Wir hatten beide außer unserer Unterkleidung bloß die Ärztekittel an, die im Nachtwind sich bauschten. Wir gingen auf strohgeflochtenen Pantoffeln, wie man sie hier trägt, leise durch die Korridore. Hinter den Türen tobten, klagten, würgten und delirierten die Y. F.-Kranken. Der halbwüchsige Junge, der uns sein Blut geliefert hatte, lag im Sterben, oder er war bereits auf und davon. Während wir an seiner Tür vorbeigingen, horchten wir in den Raum, er war totenstill, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Tür war übrigens versperrt. Der alberne, neugierige und, wie zugegeben werden muß, außergewöhnlich furchtlose March konnte es sich nicht versagen, lachend an der Tür zu rütteln. Er lachte zu gerne. Er benützte jede Gelegenheit dazu. Nichts antwortete ihm. Ich zog ihn fort. Chlorgeruch drang aus dem Raum, zwar nur in starker Verdünnung, doch stark genug, um meine stets sehr empfindlichen Nasenschleimhäute zum Niesen zu bringen. Mit einem »Helf Gott«! setzte der naive March lachend mit lauter Stimme auf der stillen Lazaretttreppe ein, er wußte wohl nichts davon, daß im Mittelalter das Niesen als erstes Symptom der Pest galt und daher von Abergläubigen stets mit dem Stoßgebet »Helf Gott!« oder »Gesundheit!« beantwortet wurde.
Abergläubig oder nicht, der Würfel war gefallen, und bald mußte es sich entscheiden, was aus uns wurde.
Wir traten hinaus in den Wirtschaftshof des Lazaretts, kamen vorbei an dem Schuppen der Spitalsmaulesel und des altersschwachen Gaules, dem wir eine Injektion versetzt, der aber dies wie alle Bitterkeiten seines arbeitsamen Tierproletendaseins überstanden hatte. Er scharrte drinnen im Schuppen mit den Hufen und rieb die Nase an den Wänden. Er wieherte sogar leise auf, vielleicht hatte er die Ohren gespitzt, uns gehört, und hatte gedacht, es ginge an die Arbeit.
Wir kamen in den Garten. Helle, wie zu einem Bukett angeordnete, üppige Blüten in den Beeten am Eingang schimmerten in dem strahlenden Licht der Sterne. Der Mond war nicht zu sehen. Um die weißen Blüten schwirrten Insekten, meist Nachtschmetterlinge, aber auch Moskitos, die wir durch die Zigarren, die wir rauchten, uns vom Leibe hielten. Am Boden leuchteten die Leuchtpilze mit grünlichem und silbrigem Schein. Die Luft war von balsamischem Duft erfüllt, der stärker war als das Aroma der Zigarren. Vanilleranken schwangen sich lianenartig von den Zweigen der hohen Bäume nieder, andere Fluggewächse, goldgrün, mit kornblumenblauen, mit safrangelben Blüten besät, schaukelten sich im Nachtwind an zarten, hellgrünen, saftigen, feuchten Schößlingen, an die wir mit den unbedeckten Köpfen streiften. Ich dachte bei mir, vorhin habe March meine Füße gestreichelt und jetzt würde meine Stirn von den Blättern der duftenden Lianen berührt. Ich dachte nach (alles Gedanken, die ich sonst nie hatte – war es schon das Beginnen der Krankheit?), ob dies der letzte Tag in der Natur und an der Seite eines mir zugetanen Menschen sei, ob ich Abschied zu nehmen hätte? Wer bürgte mir für eine zweite solche Nacht? Sollte ich abschließen? Sollte ich einen letzten Willen diktieren? Einen allerletzten, da ich doch schon im Gefängnisse vor einem halben Jahr mein Testament gemacht hatte? Damals hatte ich meinen Bruder zum Alleinerben eingesetzt. Sollte ich jetzt meinen lieben March zum Erben einsetzen, für den Fall, daß er zum Lohne für seine Furchtlosigkeit, für sein tapferes Erdulden der Impfung und der Y. F.-Gefahr, vielleicht doch begnadigt würde und zurückkehrte? Ein echter Verbrecher war es nicht, das große Kind mit seiner Zigarre im kleinen Mäulchen. Aber konnte nicht auch ich begnadigt werden? Walter hatte davon gesprochen. Was ich am heutigen Tage auf mich genommen hatte, war doch mehr als die zugemessene Strafe! Wir gingen immer wieder im Kreise um die wenigen, aber sehr hohen Bäume umher. Die Lichter der Krankensäle schimmerten von oben sanft grün, das Klagen der Kranken drang undeutlich zu uns. Die Schritte der Patrouillen klangen regelmäßig in geruhsamem Tempo, sie erklirrten metallisch, wenn die Wachen über eine Eisenplatte marschierten, die in einem Korridor in den Boden eingelassen war. Wir schwiegen. Ich legte meinen Arm um Marchs bloßen Hals. Ich entsann mich des Kusses, den mir meine verstorbene Geliebte nicht gegeben hatte. Ich zuckte die Achseln, ich schüttelte den Kopf. March, der treue, fragte nicht. Über uns reckte ein Urwaldbaum, die Jacaranda, ihr Haupt in den von Sternenlicht strotzenden, violenblauen, unergründlich tiefen Nachthimmel. Unter ihm auf dem Boden befanden sich veilchenblaue, abgefallene Blätter, ein ganzer Teppich, aber mehr noch wuchsen und dufteten an den zahllosen Zweigen des im Nachtwinde leise raunenden Baumes. Gerade über uns glühte ein Sternbild, das mir mein Vater auf der Sternkarte oft gezeigt hatte, nicht ahnend, daß ich es als Deportierter im Lazarettgarten des Y. F.-Hospitals von C. einst von Angesicht zu Angesicht sehen würde. Ein Gewirr von silbernen Kugeln, eine Art zauberhafter, seelenhafter, zusammengehaltener Milchstraße, genannt die Magellansche Wolke, das ferne Weltensystem, in sich geordnet wie ein Bau, wahrhaft himmlisch, behutsam aus mildem Licht und ruhevollem Glanz geformt. March seufzte. Ich lächelte über den Sternenschwärmer Georg Letham den jüngeren. War es schon Fieber? War es noch mein Lebensmut? Es mußte doch schön sein, zu leben. Ich lächelte. Ich lächelte so stark, so tief entzückt, daß es zu einem Lachen wurde. March, der immer gern lachte, stimmte ein. So kehrten wir lachend am Impftage nach Hause zurück; ich benommen, aber glücklicher, als ich die ganze Zeit vorher gewesen war.