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Vierundzwanzig Stunden später waren wir wieder um das Bett Walters versammelt. Die Temperatur war gesunken, so tief gesunken, daß sie unter dem normalen Stand blieb; 35,8; wir mochten das Thermometer so lange liegen lassen als wir wollten, sie erreichte das normale 36,9 nicht. Dr. Walter lag ruhig im Bett. Seine Haut hatte das Aussehen eines welken Buchenblattes.
Sein Blick war klar. Er war bei Bewußtsein. Die Krankheit hatte das trügerische Intervall erreicht, aber seine Augen leuchteten nicht auf, als wir ihm unsere Freude über die Besserung äußerten. Ich wollte nach dem Puls fassen, er zog mit Anstrengung, aber doch deutlich erkennbar, seine eiskalte, bereits safrangelbe Hand zurück. Er litt sehr. Seelisch vielleicht mehr als körperlich. Er wußte, daß er verloren war. Seine Kräfte hatten sich in den letzten vier Tagen bis zur Neige verzehrt. Es konnte sich nur noch um Stunden handeln.
Wir ersparten ihm alle anstrengenden Untersuchungen.
Carolus hatte eine Unterredung mit dem Gouverneur vor, wollte zum Telephon gehen und drückte ihm zum Abschied die Hand. Vorsichtig faßte er dabei nach der Schlagader, die bekanntlich am Handgelenk unter der Haut verläuft. Er fand aber keinen Puls. Er biß sich auf die Lippen. Er blieb. Auf seinen Blick hin wiederholte ich, trotz des Widerstrebens des Walter, diesen kleinen Handgriff. Ich ertastete wohl die Ader als das bekannte, stricknadelartige, leicht geschlängelte Blutgefäß, aber auch mir war es unmöglich, einen echten Puls wahrzunehmen.
Und doch lebte unser Freund noch, er wußte, was vorging. Aber er könnte infolge seiner tödlichen Schwäche sich weder richtig aufsetzen, noch ein deutlich artikuliertes Wort hervorbringen.
In seinen Zügen war Unruhe. Es war leicht zu erraten, daß er noch einmal seine Frau sehen wollte. Unter diesen Umständen bat ich March, er solle sie sofort benachrichtigen, wie es stand.
Sie hatte die letzten Stunden in dem Krankenhause in einem Gastzimmer, wo manchmal (trotz der Quarantäne!) ein Prior des Ordens übernachtete, verbracht und hatte sich nach einer schlaflosen Nacht und einem ruhelosen Tage eben jetzt zur Ruhe hingelegt. Aber was half es, man mußte sie wecken und an das Sterbelager ihres Gatten bringen.
Sollten wir die beiden allein lassen? Carolus war dafür, ich dagegen. »Noch nicht!« flüsterte ich. Wozu sollte man in das Sterben eines großen Mannes, (er war es), mehr Unruhe und Qual bringen als unvermeidlich war?
Während ich auf ihr und Marchs Erscheinen wartete, fielen mir die verquälten, ruhelosen Blicke des Sterbenden auf. War es der letzte geistliche Trost, den er erwartete? Der Kaplan trat eben wie zufällig ein. Er und nicht die erwartete Gattin. Meine Ungeduld war aufs höchste gestiegen. Sie hätte jetzt nicht zögern dürfen. Ob völlig angezogen oder nicht – es war keine Zeit zu verlieren, wenn sie ihren Mann noch am Leben antreffen wollte. Die suchenden Blicke Walters gingen von mir auf das Nachtkästchen, wo sich eine bereits desinfizierte Pravaczspritze mit der Digitalislösung befand, die das von den Y. F.-Giften gelähmte Herz Walters zu einer letzten Kraftanstrengung hätte aufpeitschen können. Ich verstand jetzt den Blick des Arztes. Er wollte noch eine kurze Frist Leben haben, um von seiner Gattin Abschied nehmen zu können. Und um sie nicht zu erschrecken!
Neben dieser Lösung befand sich, ihr zum Verwechseln ähnlich, eine Spritze mit Morphium. Sollte man die beiden Medikamente vertauschen?
Der Arme litt schwerer als schwer. Er beherrschte sich, ein Gentleman, im Leben wie im Sterben.
Bloß ein Menschenkenner sah hinter dem freundlichen, höflichen Gesichtsausdruck die vor Qual und Leiden zuckenden Muskeln und den Mund, erkannte das leichte Rümpfen der Nase, das Zusammenkrampfen der Finger, wozu den armen Mann sein Leiden gegen seinen Willen zwang. Seine Atemzüge wurden tief, langsam, ausholend, dann röchelnd. Seine Kehle blähte sich wie die Kehle eines singenden Vogels. Und doch hatte er nicht genug Luft. Er erstickte und wußte, daß er erstickte.
Das Atemzentrum mußte in kurzer Zeit völlig gelähmt sein, wie das Zentrum der Herztätigkeit bereits aufgehört hatte, genügend stark zu wirken und die peripheren Gefäße zu füllen.
Trotzdem tat ich, worum er mich beim ersten Anfall vor vier Tagen gebeten hatte.
Ich erleichterte ihm sein qualvolles Sterben nicht. Es war weder mein Recht noch meine Pflicht. Schweren Herzens überließ ich ihn jetzt den, ich kann nicht anders sagen als rücksichtslosen Schmerzäußerungen der in ihrem jetzigen Zustand doppelt hemmungslosen Frau, die sich von der Schwelle her in einem gewaltigen Satze zu dem Bette hinstürzte, sich dann schreiend über ihn warf, den beim Y. F. stets äußerst empfindlichen Unterleib mit ihrem schweren, schwangeren Leib belastete und dem armen, ohnehin fast atemlosen Mann die letzten Reste von Luft auspreßte! Vergebens versuchte ich, ihren Körper von dem Sterbenden zu entfernen, ich mühte mich ab, sie zu beruhigen, sie zu trösten, sie zu veranlassen, wieder zu gehen, damit ihr Mann in Ruhe sterben könnte, wenn er schon niemals in den schweren Jahren seiner Ehe in Ruhe hatte leben können!
Aber ihre Liebe behauptete ihr Recht, oder was die Welt darunter versteht. Sie überhäufte ihn mit sinnlichen Liebkosungen, als wäre er ihr Bräutigam, sie sprach und weinte und heulte und lachte hysterisch durcheinander, während er immer stiller und fahler wurde. Die Blässe, wie man sie sonst bei Menschen in der Agonie sieht, war bei ihm durch die Gelbsucht verdeckt, aber selbst wenn ein Fremder diese bereits glasartig hellen Augen in ihrem gelben Rahmen gesehen hätte, wie sie der Finger des Todes unverkennbar gezeichnet hatte, hätte er dem Armen die letzte ruhige Minute seines Daseins gegönnt. Der Kaplan stand hilflos zu seiner Rechten und versuchte vergebens, ihm die letzten Tröstungen der Religion zu spenden. Walter heftete bloß stumm seine Augen auf ihn und das Kruzifix und machte (als Linkshänder) mit dem linken Arm eine schwache Geste, eine Art Kreuzeszeichen.
Ich stand zu Füßen Walters. Aber nicht lange. Die Gattin erfaßte den Zustand immer noch nicht und roch an einem Fläschchen mit Kölnischwasser. Sie wollte allein mit Walter sein, wollte mich fort haben, aber ich ging nicht. Der sterbende Walter warf mir Blicke zu, er wollte mir etwas mitteilen – er formte Worte mit den Lippen, ohne sie auszusprechen, ein »v«, – vielleicht »Versicherung«. Ich konnte ihn allein nicht lassen. Sie zischte mir Worte der Wut wie »Galeerensträfling«, »Mörder«, entgegen, die ja den Tatsachen entsprechen mochten, aber in dieser Lage besser zurückgehalten worden wären. Oder sollte ich ihr das Wort »Mörderin« zurückgeben? Denn wäre sie geblieben, wo sie war, auf der fernen Insel oder in Rio de Janeiro, dann hätte Walter allen Infektionsversuchen widerstanden. Was sollte das Theater? Und selbst wenn er echt war, gut, was nützte der echte Schmerz?
Sie war erstaunt, daß Walter sich trotz seines fieberfreien Zustandes nicht rühren wollte und nicht sprach. Sie umklammerte seinen ausgemergelten Körper. Und in einem Atemzuge segnete sie und verfluchte sie, sich an seiner höflichen, gefaßten Ruhe zu neuer Wut aufregend, ihren Herzensgatten, dann schlug sie sich auf den Oberkörper, bis der Schal über den Brüsten feuchte Flecken bekam. Sie wußte nicht mehr, was sie tat, hatte vergessen, wo sie war. Tränenströme rannen ihr an den immer noch schönen Wangen entlang in den vom Schreien aufgerissenen Mund, und das kleine Zimmer widerhallte von ihren Lamentationen wie eine Tobsuchtszelle. Wir kannten ja ihr kreischendes, mißtönendes Organ von der Telephonzelle, aber jetzt gellte es uns und ihm direkt in das Ohr. March war mit ihr wiedergekommen, aber auch seine Bemühungen, so sanft und zart sie auch gemeint waren, konnten sie nicht zu einer Fassung zwingen, die ihr eben nicht gegeben war. Und dabei hatte sie immer noch nicht begriffen, wie es in Wirklichkeit stand.
So kam es, daß ich nie erfahren habe, was mein großer Freund mir in seiner letzten Stunde mitteilen wollte. War es etwas, das die Experimente betraf? War es etwas, was seine Verhältnisse, Versorgung, Versicherung, Vormundschaft der Kinder, (alles Worte, beginnend mit dem »V«, das er zu formen schien), betraf? Ich weiß es nicht und werde es nie wissen.
Bevor ich von den letzten Atemzügen des Walters berichte, muß ich einer Einzelheit Erwähnung tun, die man vielleicht schwer verstehen wird. Aber sei es wie es sei, ich will sie nicht verschweigen und darf es nicht.
Als sich nämlich der nackte Hals und Nacken der verstörten Frau über ihren Gatten beugte, sah ich auf ihrer rechten Halsseite in der Gegend des Haaransatzes, von den frisch zurechtgemachten, (deshalb hatte sie so lange gezögert, zu kommen!), glänzenden, rostbraunen, jetzt etwas locker gewordenen Haaren halb verdeckt, ein Insekt. Es war eine Stechmücke von der Familie culex, eine von den unseren, eine typische Stegomyia. Sie hockte bucklig da. Wippte mit den langen Hinterbeinen. Die silberartige, lyraförmige Zeichnung auf dem durch eine scharfe Einschnürung geteilten Insektenkörper war deutlich zu erkennen. Der Hinterleib schimmerte rötlich, rubinartig durch. Blutgefüllt? Mit Menschenblut getränkt? Vielleicht ja. Vielleicht nein. Ich glaube beinahe, daß es die gleiche Stegomyia war, die uns vor vierundzwanzig Stunden, nach ihrer reichen Mahlzeit von Walters Blut, bei dem letzten Versuch entflohen war und die sich vermutlich während dieser Zeit in einem dunklen Winkel aufgehalten hatte.
Ich machte in meiner Erregung March durch einen stillen Wink darauf aufmerksam. Hätte ich es doch nur nicht getan! Ich dachte, er sei ich und ich sei er. Ich mußte aber diese Entscheidung, wie viele vorher und nachher, mit mir allein abmachen. Ich konnte mit niemandem die Verantwortung für das Kommende teilen. Was ich wollte, brauchte Verantwortung. Ich trug sie. Er nicht. Ich wollte das Insekt nicht fortjagen. Ich wollte es nicht zerdrücken. Ich wollte es stechen lassen. Ich wollte einen wertvollen Versuch mehr. Es war zwar die Gattin, oder bald die Witwe, meines verehrten Freundes. Man hat das Wort »verehrt« und »Freund« nicht oft in diesen Zeilen gelesen. Hier schreibe ich es hin. Es war die Mutter von fünf unmündigen Kindern. Es war eine hochschwangere Frau. Aber hätte ich Ansehung der Person gekannt, hätte ich einen Unterschied aufkommen lassen zwischen dem einen und dem anderen Experimentierobjekt, wir hätten niemals das erreicht, was wir erreichen mußten. So ist es und nicht anderes.
March wurde totenbleich. Er zitterte so sehr, daß die Frau auf ihn aufmerksam wurde. Er wollte nicht. Zum erstenmal wollte er nicht, was ich wollte. Aber ich beherrschte ihn. Ich blickte ihn an. Er biß sich auf die Lippen, so unbeherrscht, daß ein Blutstropfen heraustrat. Aber er ließ mich gewähren. Er mußte. Der arme Doktor röchelte. Die Augenlider sanken allmählich hinab, ohne daß der glasige Schein seiner schönen grauen Augen inmitten der gelben Augenbindehaut ganz verdeckt wurde. Ich holte eine Ampulle mit Kampfer hervor, ich füllte die Spritze, denn es gilt als ärztliche Vorschrift, keinen Menschen an Herz- und Atemlähmung sterben zu lassen, ohne an ihm die letzte Aufpulverung durch eine Kampferspritze versucht zu haben. Aber dieser Versuch war nur eine Formsache.
Er hatte sein Digitalis bekommen und mußte seinen Kampfer haben. Nützen konnte beides nichts.
Wenn aber die Frau des in den letzten Zügen liegenden Mannes jetzt zusammenzuckte und mit ihrer schönen, vollen, bleichen Hand nach ihrem Nacken griff und das von ihrem Blut vollgesogene Insekt zerquetscht dort hervorholte, (alles unbewußt, denn ihre ganze Seele war bei ihrem Mann), – dann wußte ich, daß ich in unseren sorgfältig geführten Protokollen ein neues Versuchsobjekt anführen konnte. Glückte der Infektionsversuch, dann müßte sich auch zeigen, ob das Y. F. sich bei schwangeren Frauen auf das ungeborene Kind überträgt.
Die letzten Augenblicke Walters waren gekommen. Die Frau merkte es. »Retten Sie ihn! Zu Hilfe! Zu Hilfe! Er atmet nicht mehr! Oh Gott, oh Gott, er wird ohnmächtig!« Und sinnlos in ihrem Schmerz schüttete sie ihm ihr Kölnischwasser in das Gesicht, in die halb geöffneten gelben Augen. Aber er merkte es nicht mehr. Ich ging und überließ die letzte Kampferinjektion dem Assistenzarzt, der in derlei Dingen geübt war. Ich verließ mit Carolus, der sein Gespräch mit dem Gouverneur aufgeschoben hatte, das nach Kölnischwasser und Gelbfieberverwesung riechende Zimmer. Ich wollte March mitnehmen, der wie magnetisiert die jammernde und sich umherwerfende Frau Walter anstarrte. Ich faßte ihn an der Hand. Aber er schlug nach meiner Hand und blieb bei ihr.