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Auch ich schlummerte auf einige Augenblicke ein, aber schon kurze Zeit später erwachte ich durch das scharfe Klappern meiner Zähne.
Ich setzte mich auf. Eisiger Frost überlief mich am ganzen Körper. Die Hitze- und Frostwellen, einander zum Verwechseln ähnlich, folgten jetzt ununterbrochen aufeinander. Ich faßte mit der Hand durch den Schlitz meines Hemdes an die Brust, an das Herz. Es pochte lebhaft, einhundertzehn bis einhundertfünfzehn Schläge die Minute, wie ich als erfahrener Arzt schätzte. Die Kreuzschmerzen hatten sich womöglich noch verstärkt. Die Ohren sausten. Hinter der Stirn bohrte es. Kein Zweifel, ich war schwer krank. Schüttelfrost, erhöhter Puls, sicherlich auch stark erhöhte Temperatur, Lendenschmerzen, wahnsinniger Druck im Kopf; was fehlte noch? Auch im Hals spürte ich Schmerzen, die Zunge brannte, als hätte ich spanischen Pfeffer geschluckt.
Das Haus war totenstill. March hatte zu schnarchen aufgehört. Er lag ruhig auf seinem Lumpenhaufen auf der Erde. Was sollte ich tun? Ihn wecken? Was konnte er für mich tun? Ich mußte versuchen, selbst Klarheit zu gewinnen.
Mein Leiden mußte ja nicht unbedingt Y. F. sein. Zwar stimmten alle Anzeichen. Aber auch das Wechselfieber (Malaria) beginnt auf ganz ähnliche Art und Weise. Ich war vor fünf Tagen mit March nachts im Lazarettgarten spazierengegangen, Moskitos waren auch hier gewesen, man hatte nicht alle durch den Rauch der Zigarren vertreiben können. Wenn es aber glücklicherweise nur Malaria war, dann konnte mit ein paar Chininpulvern die Sache in Ordnung gebracht werden. Und unser Axiom I? Ich gestehe ganz offen, daß ich, ein so schwer leidender Mensch, jetzt nur daran dachte, mein Leben zu retten. Man muß alles durchgemacht haben, um zu begreifen, wie einem Mann am Vorabend einer solchen Krankheit zumute ist.
Aber es ist doch dein freier Wille gewesen, Georg Letham? Du hast dich doch großmütig der Wissenschaft zur Verfügung gestellt? Du hast doch darauf gehofft, das Experiment möge gelingen? War es denn nicht eine Sache von ungeheurer Wichtigkeit, ob dieses Experiment gelingen würde oder nicht?! Das Leben unzählbarer Menschen hing davon ab, die Entseuchung, die Assanierung ganzer weiter Landstriche.
Nur Ruhe! Nur Vernunft! Das alles sind Überlegungen eines Gesunden. Ein elender, leidender, gemarterter Kerl denkt nicht.
Ich hätte alle großen Gedanken denken können, die sich auf das Heil der Menschheit und auf den Segen der sittlichen Selbstaufopferung beziehen, aber ich klapperte nur mit den Zähnen, ich stöhnte mit zusammengebissenen Zähnen vor Schmerz, ich erhob mich leise mit aller Mühe, um meinen March nicht zu wecken und kletterte mit einem Bein trotz allen Lendenwehs über die Kante des Bettes heraus. Dabei krampfte sich mir der Wadenmuskel scheußlich schmerzhaft zusammen, damit ich nicht gar zu übermütig würde. Dabei krachte mein Bett.
Der schwere, gute Schlaf Marchs war zu bewundern. Daß er auch jetzt nicht erwachte! Oder wollte er nicht erwachen, weil er begriff, ich wünschte es nicht, denn ich wollte keine Zeugen, ich mußte allein sein? Ich suchte meine letzten Kräfte zusammen. Wenn man sie haben muß, hat man sie.
Ich stand auf, tippelte Schritt für Schritt, mich an den kühlen Wänden festhaltend, durch den Korridor zu dem Laboratorium, drehte das Licht an und setzte mich vor allem erst, krächzend vor Qual, in den bequemen Lehnstuhl, den sich der auf Komfort in jeder Lebenslage bedachte Carolus ins Laboratorium vor das Mikroskop hatte stellen lassen. Ich schloß die Augen. Ich konnte das Licht nicht ertragen. Aber ich brauchte doch Licht, um die erste Untersuchung zu machen.
Die erste Untersuchung, ob ich Y. F. hatte? Im Gegenteil, ob ich das Y. F. nicht hatte. Ich fahndete nicht auf die unbekannten Keime des Y. F., als ich das Mikroskop aus dem Holzkästchen heraushob, sondern ich fahndete auf die altbekannten Erreger der üblichen Malaria in den Tropen.
So ist der Mensch. Er stellt sich ein Ziel. Er baut sich einen Altar. Sobald es ans Beten kommt, betet er. Sobald es aber Blut kostet, will er sich fortmachen. Wozu lügen? Was ich hier schreibe, hätte nicht den mindesten Wert für mich, geschweige denn für die anderen, wollte ich bewußt lügen. Unbewußt lügt ja jeder ohnehin genug.
Ich stach mich mit einem Schnepper wacker in die Fingerbeere des linken kleinen Fingers. Ich tauchte den Rand eines papierdünnen Glasplättchens in den rubinrot glitzernden Tropfen. Ich strich mit zitternden Händen, die wie bei einem geschüttelten Hampelmann gegeneinander schlugen, das Bluttröpfchen auf einem zweiten, dickeren Glasplättchen aus. Ich mußte es über einer Flamme trocknen, zog es also durch einen Bunsenbrenner durch und – verbrannte mir die Hand, so ungeschickt war ich geworden. Ich sah die Färbeflüssigkeiten sauber aufgereiht auf einem Regal. Aber wie sie herunterbekommen? Noch einmal aufstehen! Unmöglich. Sollte ich March rufen? Noch unmöglicher. In solchem Augenblick ist man gerne ungestört. Ich verzog mein Gesicht krampfhaft zu einem Grinsen. Was gibt es besseres als Humor in allen Lebenslagen?! Ich schüttelte den Kopf über meine Trägheit und kommandierte mir, als wäre ich ein fremder Mensch. Zum Glück hatte der Generalarzt in seiner Unordentlichkeit ein Schälchen mit der neuartig zusammengesetzten Färbeflüssigkeit in der Ecke eines von meinem Lehnstuhl aus leicht erreichbaren Tischchens stehen lassen.
War das nicht ein Wink des Schicksals? Ich war abergläubisch geworden. Zum zweitenmal nahm ich eine dumme Bagatelle als Omen. Und zum zweitenmal betrog mich das Schicksal. Zum erstenmal bei meiner Geliebten, zum zweitenmal bei mir selbst.
Endlich hatte ich gefärbt, ich hatte das Präparat im Wasser und Alkohol abgespült, getrocknet, ich nahm es unter das Mikroskop. Bei einem Malariaanfall sieht der Untersucher, der etwas Erfahrung hat, die bekannten Plasmodien, die für das Wechselfieber charakteristisch sind, in jedem gut gefärbten Präparat eines Blutausstriches. Ich versuchte also emsig zu mikroskopieren. Die Mikrometerschraube, welche die Objektivlinse des Mikroskops um ein hundertstel Millimeter hebt und senkt und so die präzise Distanz des Präparates von der Objektivlinse herstellt, wollte meinen zuckenden Fingern nicht gehorchen. Ich drückte von oben etwas zu brutal zu und das Glasplättchen mit meinem Blut zersplitterte. Was sollte es auch tun? Es war den ungeschickten Bewegungen eines um sein klein bißchen Leben zitternden Mannes nicht gewachsen.
Ein Glück noch, wenn nicht auch die kostbare Objektiv-Frontlinse des Mikroskops Schaden auf immer gelitten hatte. Nun saß ich da, schweißüberströmt, halb gelähmt und wußte auch jetzt noch nicht, was war.
Da wendet sich der Mensch an seinen Nebenmenschen und nennt ihn Bruder, Herzensfreund und Arzt!
Ich begann nach March zu rufen. Aber meine Stimme war nicht mehr stark genug. Sie drang nicht durch. Die Zeit verstrich. Ich hörte die Glocke auf dem Turm des Lazaretts schlagen und lag noch immer zähneklappernd in dem Lehnstuhl, vor mir das zerbrochene Präparat und das demolierte Mikroskop.
Ich gab aber nicht nach. Etappenweise, immer nur einen Handgriff vollführend und mich alsdann sorgfältig wieder schonend und erholend, wiederholte ich die Blutentnahme, das Ausstreichen in gleichmäßiger, dünner Schicht, die Fixierung in der Bunsenflamme, die Färbung, die Abspülung und Trocknung des zweiten Präparates. Nach etwa einer Stunde war ich so weit, das zweite Präparat unter das Mikroskop zu nehmen. Ich war so weit. »Ich«, sagte ich: denn ich blieb allein, ich konnte und mußte nur mit mir rechnen. Ich behandelte jetzt die Mikrometerschraube mit aller erdenklichen Vorsicht. Zum Glück hatte die Frontlinse nicht gelitten. Das zweite Präparat war gut gefärbt, die roten Blutkörperchen sah man als karminrote Scheibchen, die weißen Blutkörperchen zeigten Kontrastfärbung, kornblumenblau, und der Kern der Leukozyten war prachtvoll gekörnt, gelappt, himmlisch saphirgrün.
Ein wunderbares Präparat – aber keine Spur von Malariaplasmodien. Alles »normal«. Denn das Y. F. verursacht keine Veränderung im mikroskopischen Blutbild.
Ich hockte keuchend, zähneklappernd vor meinem Apparat. Nur mit der äußersten Anstrengung hielt ich die Augen offen, die bereits entzündete Bindehäute hatten, wie dies dem Y. F. angemessen ist. Menschenskind, Sohn deines Vaters, was willst du mehr? Und doch wollte ich noch nicht glauben! Ist denn das Glauben so schwer, wenn es sich um ein bedrückendes, ein schauerliches Glauben handelt? Ist es so schwer, dem wahren Angesicht des Daseins ins Auge zu sehen? Ist es so schwer, die Zeitung zu lesen statt des Evangeliums? Melden sich dann immer die entzündeten Bindehäute? Mein Vater! Wird dann jeder Mensch lichtscheu? Ruft dann jeder seinen Herzensfreund so laut, trotz der schmerzenden Kehle, daß jener es hören muß und läge er auch im tiefsten Schlaf? Und faßt man ihn dann immer noch zitternd an der Schulter und zieht ihm den Kopf zu dem Okular des Mikroskopes hinab: »March, sieh her! Siehst du etwas?« Natürlich sah er etwas. Er war doch nicht blöd. Aber wie sollte er die Plasmodien der Malaria erkennen, ein kleiner, ungebildeter Beamter, ein Waisenkind im Gebiet der Bakteriologie – ja ein altes und bereits etwas grauhaariges Kind, das wegen allzu großer Liebe zu einem Kadetten ins Gefängnis gekommen war? Das war ihm an seiner Wiege nicht gesungen worden, daß er »Plasmodien« suchen solle, wie ein Kind Pilze im Walde sucht. Abwechselnd sah er und sah er nicht, wie er eben glaubte, es mir recht zu machen. Plötzlich fiel ich zusammen. Ein seliger Augenblick der Ohnmacht. Aber er konnte nur eine Sekunde gedauert haben, ich erwachte und sah, wie March halb wahnsinnig im Laboratorium umherrannte und hörte, wie er nach Ärzten schrie! Aber es waren nun einmal keine da, bloß unten im Kellerkorridor waren die schlafenden Tiere erwacht und begannen in das Schreikonzert des geliebten und liebenden Marens einzustimmen. Und über dem alten Lazarett auf dem baumbestandenen Hügel über der Stadt C. begann sich brausend und orgelnd ein ungeheures Gewitter mit Donner und Blitz zu entladen.