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Jetzt zischt es vorne über dem wackligen Tischchen des Generalarztes Carolus. Eine Sekunde lang sind sein Gesicht, seine von den Gummihandschuhen bedeckten, lachsfarbenen Hände und der magere krumme Rücken des gerade von ihm gründlichst untersuchten Sträflings in kalkweißes Licht getaucht. Dann spritzt eine Stichflamme hervor aus dem zackig zerberstenden blechernen Kalziumkarbidbehälter der alten Azetylenlampe. Alles weicht in bengalischer Beleuchtung auseinander. Denn ist alles in Dunkelheit gehüllt. Ohne eine Verabredung haben alle Sträflinge den kritischen Moment erfaßt. Sie rasen vor den brillenbewehrten Augen des schreckerstarrten Generaldilettanten die offenstehende Schiffstreppe hinab, das Becken mit dem Sublimatwasser in der Finsternis umschüttend, in einem Zuge in die Unterkunftsräume, zwei einander gegenüberliegende, nach der Mitte zu mit starken Eisenbohlen versehene Säle oder Ställe, an deren Decke je eine altgediente, schaukelnde, geruhsam blakende Petroleumlampe hängt.

Im Kampf um die besten Plätze, die in den Ecken, bin ich den Ellenbogen der anderen nicht gewachsen. Aber mein Handgefährte ist es. Er zieht mich mit unwiderstehlicher Gewalt durch das Gewühl, er schiebt uns beide hindurch, während er sich so fest an mich gepreßt hält, daß ich seine Körperwärme halb angenehm, halb widerwillig, empfinde. Er wendet sich hin und her, auf seinen Rücken oder auf seinen Sack, den er trägt, prasseln die Püffe und Schläge, aber er erobert einen Eckplatz und hat er ihn einmal, wird ihm niemand ihn entreißen. Ich empfinde, während er mich stumm, aber tief aufatmend anblickt, ein selten erlebtes Gefühl der Beruhigung. Daheim. Ruhe. Hier? Jetzt? Bei ihm? Und doch! Oder ist es nur Müdigkeit? Ich kann keinen klaren Gedanken fassen und doch will das Bild meines Vaters nicht aus meinem Bewußtsein weichen. Liebe ich ihn immer noch so tief? Ich weiß es nicht. Aber ich will seinen Bericht zu Ende nacherzählen.

Es spricht für die hemmungslose Energie meines Vaters und für seine Menschenkenntnis, die sich von jetzt an nur noch auf die niedersten Motive der Menschennatur gründete, auf Gier und Eitelkeit, Grausamkeit und Stupidität, daß er zu den drei Überlebenden der Expedition gehörte, die von einem Walfischfänger bei Skoreby aufgenommen wurden. Er, der Geograph und der Missionar, der Missionar mit getrübtem Geist, vielleicht im Alkoholdelirium. Mein Vater war nicht im Delirium. Er war nur allzu klar. Ein anderer Mensch. Er haßte und haßt die Menschen, mich und sich ausgenommen. Aber auch die Menschen mögen mit ihm nicht zum besten umgegangen sein. Die Weltordnung hatte ihm nicht gerade ihr Angesicht zugewandt.

Wenn ich ihn bat, mir auch das glücklichere Teil seines Abenteuers, seine Rettung, mitzuteilen, schwieg er, sagte er sei diesmal zu müde. Nein sagte er nicht, sagte er überhaupt selten.

Auch von dem Ende seiner Hündin Ruru schweigt des Sängers Höflichkeit. Eine ovale Narbe an dem linken Handrücken, dort, von die Venen in ihrem Zuge von den Fingern in weicher Schwellung sich unter der Haut dahinschlängeln, mochte möglicherweise die Spuren eines scharfen Hundegebisses nachzeichnen; ob aber dieser Hundebiß vor oder nach der Versöhnung im kritischen Augenblick zustande gekommen war, habe ich nie erfahren. Mag sein, die Ratten haben Menschenfleisch und die Menschen Hundefleisch gefressen, er sagte nicht ja, nicht nein, sondern er strich mit seiner linken, schweren Hand mir durch das damals sehr volle, je nach dem Wetter weiche oder spröde, straffe oder etwas gewellte blonde Haar. Jetzt, wo es nicht mehr so voll ist und sein helles Blond einem gedämpften Nußbraun gewichen ist, kann es meinen Handgefährten verlocken, mir durch das Haar zu streichen. Erstaunt sehe ich ihn an, spreche aber nicht, sage nicht ja, nicht nein.

Ich muß ein schönes Kind gewesen sei. Ein glückliches nicht.

Mein Vater wurde zum unverbesserlichen Menschenfeinde. Auch der Bruder meiner Mutter, die er sechs Monate nach seiner sang- und klanglosen Rückkehr aus dem hohen Norden geheiratet hatte, auch der war nicht sein Freund. Er ließ ihn ruhig ziehen und forschte dem Verschollenen nicht nach. Meine Mutter grämte sich sehr. Er nicht. Ich sollte sein Freund sein.

Er wollte mich mit sieben Jahren als vierzehnjährigen Jüngling haben, er mochte nicht warten, er brauchte mich, als Vierzehnjähriger sollte ich wie ein Zwanzigjähriger sein, wissen, was Freihandel, Niedertracht und Rattensieg durch List ist, ich sollte ihm Kameradschaft leisten. Ich war sein Lieblingssohn. War? Bin ich es jetzt vielleicht erst gerade geworden? Er hat mit mir experimentiert – und was weiß das Experimentobjekt, wann der Versuch zu Ende ist? Das weiß nur der Versucher und der liebe Gott weiß es.

Um mich gegen das Leben, sinnlos und unbarmherzig, wie es ist, abzuhärten, scheute er kein Mittel bei mir, seinem Sohn.

Ich möchte mich weiter meiner Jugend erinnern, aber die Augen fallen jetzt mir zu. Ich habe ein Kissen, das mir mein Nachbar vorbereitet hat, es ist der Kindergrammophonkasten, in einen Mantel eingewickelt. Auch eine Decke hat der unbegreifliche Mensch um meine Knie gewickelt. Ich bin zu allem zu schwach, selbst zum Essen. Ich sehe und rieche das Essen, ich empfinde den Geschmack der mit Gewürzen angemachten, kräftigen Suppe auf den Papillen meiner Zunge, aber ich kann nicht. Schlafen, schlafen und nicht mehr erwachen. Nie mehr erwachen als der Sohn meines Vaters, jetzt steht er bei mir, verschwimmend in dem flackernden Licht der sich wiegenden Petroleumlampe, nicht mehr als der Witwer meiner Frau, nicht mehr als der Bruder meines Bruders, jetzt hat er mich endlich erreicht und flüstert mir alles zu, was ihn seit jener letzten Begegnung gehindert hat, zu mir zu kommen ... er ist vom gelben Fieber erfaßt worden, er ist zwar gerettet, aber noch nicht erholt, er zeigt mir seine abgemagerten Hände, die sich aber unter dem stärker anwachsenden Lichte der Petroleumlampe allmählich ins Nichts auflösen. Er rüttelt mich an der Schulter, hebt meinen Kopf, läßt ihn wie ein Stück Blei fallen und, über die Schulter zu einer großen Menge von Zuschauern oder Schülern gewendet, spricht er meinen Namen aus, er, der Gründer des Institutes, den ich nie gesehen habe, nennt mich Dr. Georg Letham den jüngeren ... Georg Letham, Doktor der Philosophie, war mein Vater, war er ...


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