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Ich muß noch eines Menschen Erwähnung tun, der der wichtigste für mich hätte sein können – vielleicht? Wer weiß es? Walter, mein Jahrgangskollege beim medizinischen Studium. Wir hatten einmal in einer Vorlesung ein eigentümliches Erlebnis, das ich seither lange schon vergessen glaubte. Aber jetzt in der Untersuchungshaft, in der Zeit zwischen Tat und Urteil, in den schwer zu ertragenden Stunden der Verlassenheit, im Stadium des Aufsichselbstangewiesenseins, des außerordentlich qualvollen Grübelns und Analysierens, wozu einen jeden die Einsamkeit zwingt, besonders wenn man bis dahin ein geistig intensives Leben geführt hat – da entsann ich mich dieses an sich unbedeutenden, episodischen Erlebnisses.
Der alte Professor der Physiologie hielt uns eben einen langen Vortrag über die optischen Eigenschaften des menschlichen Auges, als sich links hinter der großen Holztafel die kleine Tür öffnete, welche den Hörsaal mit den anderen Räumen des physiologischen Instituts verband.
Wir sahen anfangs gar nicht hin, denn jetzt war unsere Aufmerksamkeit auf die schwierigen Berechnungen und Formeln konzentriert, die der Professor mit knirschender Kreide auf die von der Mittagssonne grell beleuchtete schwarze Tafel schrieb.
Noch sehe ich die schöne, schlanke und doch männlich energische, sehnige Hand meines Kollegen vor mir, wie sie die Formeln in ein etwas unordentlich geführtes Kollegheft abschreibt; während die dunkelgrauen, leuchtenden Augen mit ihrem Ausdruck vollkommener, darf ich sagen? freudiger Intelligenz nicht von der Tafel abweichen, malt die Hand fast unkontrolliert, in der Zeilenrichtung nach oben und unten abweichend, die Ziffern nach.
Da entsteht plötzlich Bewegung, die Studenten in der Nähe des Katheders beginnen zu lachen, zu trampeln, von ihren Sitzen aufzustehen; etwas noch nicht einmal Kniehohes, Struppiges, Sonderbares, Rötlich-weißes schlängelt und windet sich zwischen ihnen durch, ich sehe jetzt hin. Ein schmutzig-weißer Pudel mit buschigem, krampfhaft wedelnden Schweif, den Kopf bis zu der hellbraunen nackten Schnauze mit Blut bedeckt, eine große, viereckige Wunde auf einer Seite des Kopfes, wedelt stumm, mit heraushängender, an den Rändern gequetschter Zunge, mit verdrehten Augen, an den Füßen des entsetzten, nein, nicht entsetzten! nur verblüfften Professors vorbei. An den hübschen Fesseln der mageren Beine sieht man zernagte, schmale Lederriemen nachgeschleppt. Bellen oder Winseln hört man nicht. Nur röchelndes Atmen.
Mein Vater hatte mich, ich erzähle es später in aller Ausführlichkeit, gegen die Schauerlichkeiten des Daseins, wie es wirklich ist, abgehärtet. Sonst hätte ich niemals das Studium der Medizin gewählt, ich hätte der Verlockung, auch dem körperlichen Leben hinter seine Geheimnisse zu kommen, widerstanden. Widerstehen müssen! Ich glaubte mich also gegen alle Eindrücke selbst der gräßlichsten Art gefeit. Ich wollte es sein. So wollte ich sein. Es schien so. Ich hatte Leichen in aller Ruhe seziert und dazu meine Zigarre geraucht, wie alle anderen Mediziner im ersten Semester es tun. Ich hatte auch bereits Vivisektionsversuchen beigewohnt, wie sie, um reiner Lehrzwecke willen, den Studenten im dritten Semester schon vorgeführt werden. Immer war ich auf derartige Nachtseiten des Daseins im Interesse der wissenschaftlichen, humanen Forschung vorbereitet gewesen und hatte sie, wenn auch nicht leicht, ertragen. Jetzt aber befand ich mich in einem Zustand grausigen Entsetzens, unvorbereitet, wie ich war, als das Tier schweifschlagend immer höher die Stufen des Amphitheaters emporkrauchte, mit seinem panisch verrückten Blick an uns emporsah – jetzt zog das Biest schlürfend tief die Luft durch seine semmelfarbenen, etwas blutigen Nüstern ein, um seine Qualen endlich in einem Heulen zu entladen. Da stand mein Nachbar schnell auf. Das Tier war schon bis an unsere Bank, die sich auf der höchsten Höhe des Amphitheaters befand, in schnellem Zickzacklauf hinaufgerannt, vielleicht, weil von hier aus eine Tür ins Freie führte, die wegen der herrschenden Sommerglut geöffnet war. Die Wunde am Schädel war aus der Nähe deutlich zu sehen, säuberlich war die Haut abpräpariert, die milchweiße Hirnhaut war in der Form eines Rhombus eingeschnitten, zwei sehr kleine, silbern glitzernde Instrumente, ich erinnere mich nicht mehr genau, welcher Art, vielleicht Ansätze von Injektionsspritzen hingen noch in dem Wundkrater, der deutlich pulsierte.
Der Tumult um uns war ungewöhnlich laut. Aber er trug eher heiteren Charakter. Die Studenten faßten die Sache als Ulk auf und der Professor tat desgleichen, er wischte mit einem großen Schwamm die Ziffern von der Tafel aus, als wolle er auch diese kleine Episode des Hündchens, des Ausreißers aus dem Arm der Wissenschaft auslöschen. Die Studenten und Studentinnen umringten ihn, der schwitzend und gestikulierend abwehrte. Besonders entsinne ich mich des lachenden Gesichts und der schönen Zähne einer blonden Studentin, die das Haar in Madonnenfrisur nach Art der damaligen Zeit frisiert trug und die jetzt leichtfüßig, die langen, seidenen Röcke raffend, dem Tiere bis zu uns beiden nachhüpfte, es so lockend, wie es junge Mädchen mit ihren Schoßhündchen tun, wenn diese ihnen auf dem Spaziergang weggelaufen sind und die sie mit Koseworten, »mein Liebchen«, »mein Süßes«, »mein Kleiner«, »böser Junge du« etc. etc., zurückzuschmeicheln versuchen. Grauenhaft, wie dem unseligen Tiere beim Klange dieser tiefen, gurrenden, lockenden Menschenstimme das Heulen in der Kehle erstarb, wie es sich plötzlich, in seinem ewigen Vertrauen auf seinen Gott, den Menschen, betrogen, mit dem Oberkörper an unsere Füße gestemmt, mit dem verwundeten Haupt nach dem schönen Mädchen umwandte.
Aber es kehrte nicht zu seinen Peinigern zurück. Mein Freund schlug mit dem silbernen Griff seines Spazierstockes dem Tier von rückwärts den Rest der Hirnschale ein. Er hatte die linke Hand gehoben, hatte gezielt, hatte zugeschlagen. Ein dumpfes Geräusch, – und aus. Lautlos legte sich das Tier zur Seite und war nicht mehr.
Der Student stand auf, stieg, den Spazierstock am anderen Ende in der Hand haltend, zu dem Katheder hinab, wusch dort den besudelten Griff, trocknete ihn an dem Handtuch neben der Tafel. Und kehrte zurück an seinen Platz. Das sonderbarste war, daß niemand, weder der Professor, noch die Studentin an diesen Handlungen etwas Besonderes fanden. Der Professor klingelte dem Laboratoriumsdiener, er solle den Kadaver hinausschaffen, die Studentin setzte sich, nachdem sie meinem Nachbar vergebens einen koketten Blick aus ihren blauen Augen zugesandt, wieder auf ihren Platz in der ersten Reihe, den sie dank ihrer Pünktlichkeit von der ersten Vorlesung an inne hatte, mein Nachbar wandte sich weiter seinem unordentlichen, alsbald kreuz und quer beschriebenen Vorlesungsheft zu, und es ergab sich weiter nichts. Später erfuhr ich, daß der mit dem Hunde beschäftigte Experimentator zum Telefon gerufen worden war. Der Laboratoriumsdiener hatte sich, um eine Zigarette zu rauchen, ebenfalls aus dem heißen Experimentierraum gedrückt, und das ungewöhnlich starke, kluge, unbetäubte Tier hatte sich – man verstand nicht, auf welche Art – losgemacht und war in seinen Qualen nach dem Hörsaal getrabt, für den es noch nicht völlig geeignet war. Denn es hätte erst in einigen Wochen vorgeführt werden sollen, als sich die Lähmungswirkungen der partiellen Gehirnexstirpation in richtiger Form entwickelt hätten.
Zu diesem Studenten Walter fühlte ich mich in der merkwürdigsten Art, für die es keine Worte gibt, hingezogen. Vielleicht so, wie der rettungslos Erkrankte zu dem Arzt. Aber was soll der eine mit dem anderen? Nichts. Rettungslos – Arzt. Auch ein Gott findet keinen Reim darauf.
Walter absolvierte seine Examina etwa zur gleichen Zeit wie ich. Er war gesund, stark, ein Bild blühenden Lebens. Er war der Sohn eines hohen Offiziers und ursprünglich ebenfalls zum Militärdienste bestimmt. Aber er hatte das Studium vorgezogen. Er hatte ebenfalls experimentelle Pathologie und Bakteriologie gewählt. Wir hatten also das gleiche wissenschaftliche Spezialgebiet. Er war Linkser, aber, wie viele Linkshänder, ungewöhnlich geschickt. Manchmal freilich ging ihm alles fehl. Aber er dauerte aus.
Ich machte oft Versuche, ihm näher zu kommen. Es ist nie gelungen. Er war fröhlicher Gemütsart, sportlich geschult, er erschien mir abgehärtet außen und innen, nicht ohne Humor, als »ein Mensch ohne Nerven«. Von allzu humanen Mitleidsregungen schien er, wie ich ihn später beobachtete, ziemlich frei. Er hatte dem Tiere, wenn man es recht begriff, den Gnadenstoß gegeben nicht aus Mitleid mit dessen Qualen, sondern weil durch das Losreißen des Tieres und dessen Andrängen an die Studenten aller Wahrscheinlichkeit nach infektiöses Material in die angelegte Hirnöffnung gelangt sein mußte und er, Walter, den Hund daher als verloren und für den Zweck des Versuches ohnehin unbrauchbar geworden ansehen mußte.
Der bildschönen Studentin, die sich dann später öfters in unserer Nähe gezeigt hatte und die in aller Unschuld ein herausforderndes Wesen zur Schau trug, wich ich aus. Ich beachtete sie nicht weiter. Meine Frau war körperlich und seelisch ihr gerades Gegenteil, wenn es überhaupt gegensätzliche Typen unter den Weibern gibt.
Mit Walter traf ich oft zusammen. Schon sein Äußeres gewährte Freude. Sein bezauberndes, jungenhaftes Lachen hat mich oft angesteckt. Ich lachte gern, ich kopierte sogar das Lachen anderer. Aber einem persönlichen Gespräch wich er stets aus, ich interessierte ihn offenbar nicht – im Gegensatz zu vielen Frauen, auf die ich, ohne zu wollen, Eindruck machte und die mir, in dieser oder jener Form, zur Last fielen und die mich meist viel ernster nahmen als ich sie.