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Sollte man nicht glauben, ein solches Erlebnis wie das mit dem mitten im wissenschaftlichen Versuch geflüchteten Pudel müßte mich bewogen haben, dem medizinischen Studium im allgemeinen und den Tierversuchen im besonderen zu entsagen? Nichts wäre natürlicher gewesen. Ich hatte einen angeborenen Sinn für das ästhetisch Reizvolle. Als Kunsthistoriker oder dergleichen hätte ich mich immer behaupten können. Aber es trieb mich (vielleicht infolge von Kindheitseindrücken, die ich noch erzählen muß) zu Experimenten. Ich wollte mit einem Walter wetteifern, mit diesem klassischen Typ eines exzessiv praktischen Menschen, der in dem betreffenden Tier zum Beispiel bloß ein Stück Material sah, so wie ein Tischler in einem Stück dicht gewachsenen, schön ausgetrockneten, astfreien Holzes.
Aber solange bloß Tiere Gegenstand meiner Versuche waren, blieb alles gut. Vor diesem Punkt schließt die Kulturwelt gern die Augen wie vor dem Krieg etc. Erst als ein Mensch daran glauben mußte, wurde die Gesellschaft rebellisch und übte eine vernichtende Kritik an meinem Wesen. Wenn ich also sage, daß ich eines Tages meine Frau zu vernichten beschloß, mit der gleichen Ruhe diesen Entschluß fassend, mit der ich ein Versuchstier zu den Experimenten auswählte, will das nicht sagen, daß ich diese beiden Handlungen mit vollkommener Ruhe, mit vollständig reinem Gewissen unternahm. Hierin also bestand Übereinstimmung, daß ich mich niemals ohne Hemmungen dazu entschloß.
Aber diese Hemmung war nicht religiöse Angst vor der Sünde. Ich glaubte nicht an Gott. Ich konnte keine übernatürliche Sinngebung in der Welt anerkennen. Gerne hätte ich es gewollt. Möglich war es nicht.
Zu jung sind wir für den glaubenslosen Anarchismus. Tausende von Generationen haben vor uns im Schatten eines Glaubens gewohnt und haben, wenn sie schon leiden mußten, wenigstens im Schatten einer höheren Ordnung für diese gelitten. Vielleicht wird eine kommende, künftige Generation einem Leben ohne Glauben gewachsen sein. Wird dem Dasein ins Auge sehen können, es erkennen wie es ist. Wird nicht geblendet unsicher hin und her schwanken. Ich aber hatte dieses Glück nicht. Geblendet war ich von Kindheit an. Meine Laufbahn schien nur von außen zielbewußt und gradlinig strebend – in Wahrheit war sie es nicht. Hätte ich denn sonst in und von Experimenten gelebt? Außerhalb des Experiments hatte ich keinen Genuß, ja überhaupt keine Verbindung mit dem Leben. Aber im Experiment? Habe ich wenigstens hier Befriedigung gefunden? Ich muß sagen nein.
Gewiß, der Experimentator spielt eine Rolle wie Gott, nur im unmeßbar kleinen wie Gott im großen.
So war es bei den Tieren. So war es bei meiner Frau. Die Tiere waren mir untertan, ich hatte sie bar gekauft, einmal eine Anzahl von vierhundert Affen, die einem Übertragungsversuch dienten, für welchen man nur die Gattung »Rhesus« verwenden konnte. Niemand konnte mich hindern, zu tun was ich tat – so wenig in der heutigen Welt irgendwo moralische Hindernisse für den Forscher bestehen.
Das Tier ahnt nichts von seinem Schicksal. Der Forscher freilich, der Versucher weiß, was kommen soll. Nur er weiß, was kommen soll und muß. Er hat sein Interesse an der Sache gegen das Interesse des Tieres am Leben und Gesundbleiben und Ungequältbleiben längst grundsätzlich abgewogen und das Gewicht der leidenden Tiereskreatur als zu leicht befunden. Vielleicht läßt er sich herab, das verurteilte Versuchstier, etwa einen Hund, selbst aus dem Käfig zu holen. Es bellt lustig auf, wirft den Kopf hoch, sieht sich neugierig um. Es versucht zu laufen, von der langen Rast stocksteif geworden. Es ist guten Mutes. Den braucht es auch. Habe ich die Welt so geschaffen wie sie ist? Es wittert mit seinen feuchten dunklen Nüstern in die Luft und bildet sich ein, an dem schmierigen Strick, der um seinen Hals hängt, werde der Mann in weißem Kittel es ins Freie hinausführen oder an einen Futternapf. Der Mann hebt das Tier jetzt an dem Nackenfell hoch und legt es vor sich hin. Auf den Tisch. Auf das Brett, das sauber abgewaschene. Er hält den Brustkorb fest. Er fühlt, wie das Herz dieser kleinen Kreatur aufgeregt gegen die Rippen pumpert. Ganz anders der Affe. Der Affe ist eine Karikatur des Menschen. Oder ist der Mensch eine Karikatur des Affen? Aber in der Art, wie sich Mensch und Affe bei gewaltigen Schmerzen benehmen, ähneln sie einander sehr. Ein älteres, gut genährtes Tier der Gattung Rhesus – besonders das Männchen, das feiner organisiert ist als das Weibchen ... Ich führe die Erzählung hier nicht weiter fort. Vielleicht komme ich später dazu, das Schema eines wissenschaftlichen Versuches zu schildern, bei dem Hunderte und Tausende von Tieren nacheinander ad majorem hominis gloriam geopfert werden. Viele Versuche haben etwas Positives ergeben, tausendmal mehr Versuche haben nicht das geringste Positive ergeben. Für das Subjekt, für das zum Leiden bestimmte Tier war es auch gleichgültig, welchen Dienst es, objektiv betrachtet, der Wissenschaft erwies.
Vielleicht bedeuten wir der höheren Gewalt über uns (ich kann nicht an sie glauben und doch tritt sie mir manchmal in meinen Gedankenkreis) nicht mehr und nicht weniger als unsereinem Katzen oder Hunde, Ratten, Meerschweinchen, Affen, Pferde und selbst – Wanzen und Läuse. Auch an Wanzen und Läusen habe ich Experimente gemacht. Daß Kleiderläuse eine sehr gefährliche Infektionskrankheit, die besonders während des Krieges ungeheure Menschenverluste mit sich brachte, nämlich den Flecktyphus, typhus exanthematicus, übertragen, ist lange wissenschaftlich bekannt. Ich glaubte, den Erreger dieser Krankheit in einem bestimmten Bazillus gefunden zu haben. (Ein Irrtum, leider nicht). Im Jahre Neunzehnhundertsiebzehn stellte ich im epidemielogischen Militärlaboratorium an der russisch-polnischen Front Versuche mit Kleiderläusen an. Dieses Insekt ist so winzig klein, daß man die technischen Schwierigkeiten wohl begreifen wird. Was ist nun die Aufgabe? Man muß das Insekt mit Flecktyphusblut anstecken, damit es ansteckend wird. Ist dies klar? Einfach ist es nicht. Dennoch gelang es mir, dem Tier einen Stich mit einer ungemein feinen Kanüle beizubringen, aber ein anderer Gelehrter, ein Pole, war noch findiger, es gelang ihm, mit Hilfe einer sehr schönen Methode, den Darm des millimeterkleinen Insekts mit dem ansteckenden Stoff von rückwärts auszufüllen. Kinderleicht ist auch dieses Verfahren natürlich nicht. Es will ebenso gelehrt und gelernt sein wie die anderen Methoden der bakteriologischen Forschung. Das Ergebnis ist jedenfalls das, daß eine mit einem bestimmten Erreger gefütterte Kleiderlaus erkrankt und stirbt. Reibt man jetzt mit ihren sterblichen Überresten die Haut eines Menschenaffen ein und leckt sich dieser an der Stelle, erkrankt auch er und stirbt prompt. Und so geht es weiter, Passage für Passage, Warmblütler – Kaltblütler, Läuse, Affen, Läuse, Affen. Es hört sich grotesk, komisch an, ist es aber nicht.
Ein wissenschaftlich positives Ergebnis eines Versuchs gewährt dem Forscher für den Augenblick wenigstens eine gewaltige Befriedigung; »gewaltig« sage ich bewußt.
Alle Nachtwachen, alle gewissenhaften, in die Tiefe eindringenden Studien, alle Stunden des nagenden Zweifels und der Beunruhigung, alle Unkosten an Geld, alle für Versuche angewandte Zeit, was der Forscher mit dem Verzicht auf den gesellschaftlichen Verkehr, die Lektüre von Romanen, den Besuch von Theater und Konzerten, vor allem durch den Verzicht auf das wirklich intensive geistige Zusammenleben im Kreise seiner Familie bezahlt hat – alles ist (für den Augenblick) reichlich abgegolten durch das Gefühl des Wissens, der Auflösung eines Rätsels, der Bereicherung der menschlichen Macht über die Dinge –.
Es gibt ein Wort des berühmten französischen Physiologen Claude Bernard, der von dem wissenschaftlichen Laboratorium als dem »Schlachtfeld« des Experimentators spricht. Gewiß, Blut fließt. Aber es gibt auch einen Sieg. Und wenn er von der Aufgabe des Experimentators spricht: Prévoir et diriger les phénomènes, wer wagt da noch geringschätzig den wissenschaftlichen Forscher einen »kalter Handwerker der Medizin« zu nennen – nein, viel eher ist er einem versuchenden und in die Tiefe des Kosmos dringenden Halbgotte vergleichbar. Und wenn er als Forscher das wirklich ist, was er sein sollte, so erhebt er sich über die gemeinen Interessen der Menschen. Er wird eine tragische Gestalt. Oder – und hier beginnt der Widerspruch – wird er nur eine tragikomische? Ist sein »wissenschaftliches Ergebnis«, das im besten Falle unter Anführung seines bürgerlichen Namens Jahrzehnte oder ein Jahrhundert lang durch die medizinischen Zeitschriften und wissenschaftlichen Journale und Bücher geschleift wird, wirklich die Mühe wert gewesen? War es oft nicht einmal den elektrischen Strom wert, der während seiner Arbeit durch die Lampen seines Laboratoriums geflossen ist? Gibt es der Sinnlosigkeit Sinn? Nimmt es dem Grauenhaften das Grauen? Hilft es? Kann es befriedigen? Wendet sich nicht das Interesse des Forschers eben wie die Hand eines kalten Handwerkers sofort anderen Problemen zu? Ist jemals sein Durst nach Glück und innerer Ruhe gesättigt? Hat das Leid der aufgeopferten Tiere dem Forscher Großes gegeben? Und wenn ja, auch der Nation? Der Menschheit? Hat es die schauerliche Unordnung der Natur in Ordnung und sinnvollen Aufbau umgewandelt?