Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

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Fünfzehntes Kapitel.

Die Gabe der Andacht wird auf dem Wege der Demut und Selbstverleugnung gefunden.

Der Geliebte spricht.

Die Andacht ist eine Gabe Gottes / und diese Gabe sollst du mit anhaltendem Eifer suchen / mit ernstem Verlangen von mir begehren / mit Geduld und Zuversicht erwarten / mit frohem Dank annehmen / in Demut bewahren / mit aller Treue ihr nacheifern / und Zeit und Maß der himmlischen Heimsuchung Gott überlassen / bis er kommt. In den Zeiten der Dürre / die entweder nur ein schwächliches Gefühl der Andacht in dir aufkommen oder dich gar ohne alles Gefühl der Andacht öde liegen lassen / ist die Demütigung deines Herzens vor Gott am rechten Orte. Demütig sollst du allerdings sein / aber nicht so verzagt und nicht so tief bekümmert. Denn Gott gibt oft in einem Augenblick / was er dir lange Zeit nicht gegeben; gibt manchmal am Ende deines Gebetes / was er dir im Anfang und im Fortgang des Gebetes versagt hat.

Würde die Gnade immer sogleich und wie auf der Stelle uns gegeben oder stünde sie dem Menschen ganz nach seinem Wunsche zu Gebote / ich denke / die Menschen wären jetzt zu schwach / eine so große Seligkeit zu ertragen. Deshalb ist es am besten / in Hoffnung / Demut und Geduld auf die Gabe der Andacht warten zu lernen / bis sie gegeben wird; und wenn sie nicht gegeben oder schnell wieder zurückgenommen wird / die Ursache in sich selbst und in seinen Fehltritten zu suchen. Oft ist es etwas Geringes / das den Einfluß der Gnade hemmt oder ihr Licht dem Blick entzieht; wenn anders man gering nennen darf / oder vielmehr nicht groß nennen darf / oder vielmehr nicht groß nennen muß / was um ein so großes Gut bringt. Es sei aber gering oder groß / was das Kommen der Gnade hindert: räume du nur das Hindernis aus dem Wege und ruhe nicht / bis du den kleinen oder großen Feind vollkommen besiegt haben wirst / und es wird dir gleich gegeben werden / was du haben wolltest.

Denn sobald du / statt dieses oder jenes nach deinem Eigendünkel zu wünschen / dich ganz und ohne Ausnahme / dich ganz aus dem innersten Grunde deines Herzens deinem Gott ergeben / dich ganz und alle deine Wünsche in die Hand Gottes niedergelegt haben wirst: von diesem Augenblick an wirst du dich ruhig und eins mit Gott finden / indem kein anderes Ding mehr dir so schmackhaft / so wohlgefällig sein wird wie Gottes Wohlgefallen. Wer also seinen Sinn in Einfalt des Herzens zu Gott emporgeschwungen und sich von aller ungeordneten Liebe oder vom Haß gegen irgend ein erschaffenes Ding losgemacht hat / der wird vor allen andern fähig und würdig sein / die Gabe der Andacht zu empfangen. Denn wo der Herr leere Gefäße findet / da legt er seinen Segen hinein. Und je vollkommener jemand sein Herz von der Liebe zum Vergänglichen losmacht und durch gründliche Selbstverachtung sich selbst abstirbt / desto schneller kommt die Gnade / desto tiefer dringt sie ein / desto höher hebt sie das freie Herz des Menschen empor. Dann gehen dem Menschen die Augen auf / dann staunt er voll Entzücken / dann erweitert sich sein Herz; denn die Hand des Herrn ist mit ihm / und er hat sich ganz und für die ganze Ewigkeit in die Hand des Herrn gelegt. Sieh / so wird der Mensch gesegnet / der den Herrn von ganzem Herzen sucht und seinen Geist nicht an vergänglichen Dingen hängen läßt. Ein solcher Mensch ist fähig und würdig / zur innigsten Vereinigung mit Gott zu kommen / indem er zum Tisch des Herrn geht. Denn er sieht nicht auf eigene Andacht und Tröstung / sondern auf Gottes Ehre / die ihm ungleich wichtiger ist als alle Andacht und Tröstung.


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