Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

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Drittes Kapitel.

Von der Lehre der Wahrheit.

Selig / den die Wahrheit durch sich selbst unterweist / nicht durch Bilder / die verschwinden / nicht durch Worte / die verhallen! Selig / dem sie sich offenbart / wie sie ist! Denn unser Meinen trügt uns oft / und unser Sinn reicht nicht weit. Was nützt es uns denn / daß wir uns den Kopf zerbrechen über Dinge / die verborgen und dunkel sind und uns verborgen und dunkel bleiben dürfen / ohne daß wir deshalb am Tage des Gerichts zur Strafe können gezogen werden? Es ist eine große Torheit / daß wir Dinge / deren Erkenntnis uns nützlich oder gar notwendig ist / außer acht lassen und dafür Dinge / die bloß unsere Neugier reizen und dabei noch uns schaden können / so mühsam erforschen. Da heißt es recht: Augen haben und doch nicht sehen!

Und was liegt uns denn am Ende daran / daß wir all das wissen / was die Schulen von den Gattungen und Geschlechtern der Begriffe zu sagen wissen? Wem das ewige Wort zu Herzen redet / der macht von vielerlei Meinungen sich los. Es kommt doch alles von einem Wort her / und alle Dinge zeugen im Grunde nur von einem Worte / und dies eine Wort ist dasselbe Wort / das im Anfang war und jetzt auch zu uns redet. Ohne dieses Wort findest du keinen gesunden Verstand und kein wahres Urteil. Wer das Eine in allem finden / wer alles auf das Eine zurückführen / wer in Einem alles sehen kann / der mag ruhigen / festen Sinn behalten und den schönen Frieden in Gott nie verlieren. O Wahrheit! Gott! mache mich eins mit dir in ewiger Liebe! Wie oft ekelt mich / so mancherlei zu lesen und zu hören? Denn alles / wonach mein Herz verlangt / ist in dir allein. Schweigen sollen alle Lehrer / stille sein alle Geschöpfe vor deinem Angesichte: rede du allein zu mir!

Je mehr ein Mensch eins mit sich und einfältig in seinem Innersten geworden ist / desto mehr und höhere Dinge lernt er ohne sonderliche Mühe verstehen; denn das Licht des Verstandes kommt alsdann von oben zu ihm. Ein Geist / der rein / einfältig und feststehend in seinem Innersten geworden ist / wird auch durch die mancherlei Geschäfte des Lebens nicht zerstreut; denn er tut alles zur Ehre seines Gottes und arbeitet in sich / all den geheimen Neigungen der Eigenliebe auf immer zu entsagen. Was hindert und plagt dich doch mehr als die Neigung deines Herzens / die noch ihr volles / ungetötetes Leben hat? Der gute Mann / der sich seinem Gott ganz geweiht hat / ordnet zuerst in seinem Inwendigen alles / was er hernach äußerlich zustande bringen soll. Nicht ihn zieht das / was er tut / dahin / wohin ihn die sündhaften Neigungen haben wollen / sondern er zieht und lenkt die Neigungen dahin / wohin sie das Gesetz der gesunden Vernunft haben will. Wer hat wohl einen heißeren Kampf zu kämpfen als der / welcher mit sich selbst im Streite liegt / um sich zu besiegen? Und dies sollte unser eigentliches Geschäft auf Erden sein: sich selbst überwinden und täglich mehr Stärke über sich gewinnen und so täglich im Guten vorwärts schreiten.

Alle Vollkommenheit dieses Lebens hat ihr Unvollkommenes / und all unser noch so lichthelles Forschen hat sein Dunkel. Demütiges Erkennen deiner selbst führt dich sicherer zu Gott als tiefes Graben nach Wissenschaft. Zwar muß man weder das gelehrte Wissen noch das einfache Erkennen einer Sache lästern. Denn es ist ein gutes Ding um das Wissen und Erkennen / und es gehört in Gottes große Haushaltung hinein. Aber ein Gewissen ohne Makel und ein Leben voll Tugend sind unvergleichlich mehr wert als alles Wissen und Erkennen. Und gerade deshalb / weil den meisten Menschen das Vielwissen mehr am Herzen liegt als das Rechtleben / deshalb geraten sie auf so viele Irrwege und schaffen mit all ihrem Wissen und Wissenwollen keine oder nur geringe Frucht.

O wenn sie so rastlos daran arbeiten wollten / hier Laster auszurotten / dort Tugenden zu pflanzen / wie sie sich müde studieren / um ihresgleichen ein neues Rätsel aufgeben zu können: ich denke / es würde nicht so viel Unrecht auf Erden / nicht so viel Ärgernis unter dem Volke / nicht so viel Zuchtlosigkeit in den Klöstern sein! So viel ist gewiß: am Tage des Gerichts wird man uns nicht fragen / was wir gelesen / sondern was wir getan haben; nicht fragen / wie schön wir gesprochen / sondern wie fromm wir gelebt haben. Sage mir doch / wo sind jetzt alle jene Herren und Meister / die du ehemals als große Gelehrte und gewaltige Lehrer auf ihren Kanzeln oder in ihren Schriften gekannt hast? Auf ihren Pfründen sitzen nun andere; und ich weiß nicht / ob diese an ihre Vorgänger noch denken mögen. So lange sie lebten / meinte man wohl / sie wären etwas Großes / aber nun liegen sie in tiefer Vergessenheit.

O wie schnell ist die Herrlichkeit der Welt dahin! Hätten sie ihr Leben mit ihrer bessern Erkenntnis in Übereinstimmung gebracht / o dann hätten sie recht studiert und recht gelesen. Wie viele stürzt doch ihr eitles Wissen / das sie in aller Welt umhertreibt / in das Verderben / weil sie es so wenig sich angelegen sein lassen / Gottes Willen zu tun? Und weil sie lieber groß als demütig sein wollen / so werden sie in ihren Gedanken vollends eitel / lauter Nichts. Es ist doch nur der wahrhaft groß / der Liebe hat. Es ist nur der wahrhaft groß / der in seinen Augen klein ist und alle Gipfel der Weltlehre für nichts halten kann. Es ist nur der wahrhaft weise / der alles Irdische für Unrat hält / um Christum zu gewinnen. Es ist nur der wahrhaft gelehrt / der seinen eigenen Willen verleugnet und Gottes Willen vollbringt.


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