Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

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Fünftes Kapitel.

Die heilige Liebe in ihrer Macht und Herrlichkeit.

Vater im Himmel / Vater meines Herrn Jesu Christi / ich preise dich / daß du meiner Dürftigkeit nicht vergessen konntest! O Vater aller Erbarmungen und alles Trostes Gott / ich danke dir / daß du / obgleich ich allen Trostes unwert bin / dennoch deines erquickenden Trostes zuweilen mich froh werden lassest! Preisen / verherrlichen und anbeten möcht ich dich immer und immer / dich und deinen eingeborenen Sohn und den heiligen Geist / den Geist des Trostes / von Ewigkeit zu Ewigkeit / Amen. O du / mein heiliger Freund / mein Gott und Herr / o daß du kämest in mein Herz! All mein Inneres würde in festlichem Jubel dir entgegen frohlocken. Du bist mein Ruhm / du die Freude meines Herzens / du meine Hoffnung / du meine Zufluchtsstätte in den Tagen der Trübsal!

Aber sieh / weil meine Liebe noch so schwach / und meine Tugend noch so dürftig ist / so wird mein Herz deiner Tröstung und deiner Stärkung nicht wohl entbehren können. So suche denn öfter mich heim und unterweise mich in deiner heiligen Wahrheit. Erlöse mein Herz von allen Leidenschaften / die es gefangen halten / und heile es von allen Neigungen / die es krank machen; damit ich / im Innern von allen Banden erlöst und von allen Krankheiten geheilt / endlich ganz rein und tauglich werde zum Lieben und stark zum Leiden und mutvoll zum Ausdauern.

Es ist ein großes Ding um die Liebe. Die Liebe ist in Wahrheit ein großes Gut. Sie allein macht alle Bürden leicht und duldet alles Ungleiche mit gleichem Mute. Sie trägt die schwersten Lasten und fühlt sie nicht. Sie macht alles Bittere süß und alles Widerliche schmackhaft. O die edle Liebe Jesu! Sie treibt zu großen Taten und weckt das Verlangen / immer noch größere zu tun. Was rechte Liebe ist / will aufwärts und will nicht unten auf der Erde kriechen. Die Liebe will frei sein / fern von allem Weltsinn / damit ihr innerer Blick unbefangen bleibe / von keinem irdischen Gut geblendet / von keinem zeitlichen Ungemach niedergeschlagen werde. Lieblicher / mächtiger / erhabener / umfassender / seliger / vollkommener / edler als die Liebe ist im Himmel und auf Erden nichts. Denn sie ist aus Gott geboren und kann eben deswegen / weil sie aus Gott geboren ist / über alle Geschöpfe sich schwingend / nur in Gott ruhen.

Schnell ist der Lauf der Liebe / hoch ihr Flug / lauter ihre Freude / frei und unaufhaltsam ihr Sinn. Die Liebe gibt alles für alles und hat alles in allem. Denn sie findet ihre Ruhe nur in dem einen höchsten Gut / das die Quelle alles Guten ist. Die Liebe sieht nicht auf die Gabe / sie schwingt zum Geber hoch über alle Gaben sich hinauf. Sie kennt kein Maß / und über alles Maß flammt ihr Eifer empor. Die Liebe fühlt keine Last / findet in der Arbeit keine Arbeit / fragt in ihrem Streben nie / woher sie die Kräfte nehmen solle / klagt nicht über Unmöglichkeiten; denn sie glaubt: ich kann alles und darf es auch. Eben darum taugt sie zu allem / vollendet vieles und bringt zustande / was jeder / der nicht liebt / ohnmächtig nicht zu tun sich getraut.

Die Liebe wacht und schläft im Schlafe nicht. Keine Müh ermüdet sie / keine Beklemmung beklemmt sie / kein Schrecken erschreckt sie; wie eine lebendige Flamme / wie eine hochbrennende Fackel dringt sie mächtig in die Höhe und bricht überall sicher durch. Wer liebt / versteht den Schrei der Liebe / faßt den unendlichen Sinn des Wortes Liebe. Ein mächtiger Schrei in Gottes Ohren ist die glühende Empfindung einer Seele / die da ohne Worte spricht: Mein Gott / meine Liebe / du ganz mein / ich ganz dein!

Herr / erweitere mein Herz und fülle es aus mit Liebe / daß mein Innerstes kosten möge / wie süß es sei / zu lieben und von Liebe zu zerfließen und im Meere der Liebe zu schwimmen! Die Liebe halte mich fest / wenn ihre Flamme Maß und Grenze überschreitet und in heiligen Entzündungen mich über mich selbst erhebt; das Lied der Liebe möchte ich singen lernen und dir / meinem Geliebten / zur Höhe nachwandeln und im Lobsingen deines Namens / im Jubel der Liebe aufgelöst werden! Lieben möcht ich dich mehr als mich / und mich nur deinetwegen / und alle / die dich lieben / möcht ich in dir lieben können / wie es das Gesetz der Liebe gebietet / das du lichthell in unsere Seelen geschrieben hast.

Die Liebe ist schnell tätig / aufrichtig / fromm / lieblich / froh / mild / stark / geduldig / treu / klug / langmütig / mannhaft und sucht in keiner Sache sich selbst. Denn wo einer sich selbst sucht / da hat er die Liebe schon verloren. Die Liebe ist vorsichtig / demütig / offen / gerade / nicht weichlich / nicht leichtsinnig / nicht auf Eitelkeiten bedacht / nüchtern / keusch / standhaft / ruhig und in allen Sinnen wohlbewahrt. Die Liebe ist untertänig und gehorsam den Obern / ist in ihrem eigenen Auge gering und schlecht / ist Gott ganz ergeben / voll Dank und Zuversicht / und harrt auch dann auf ihn / wenn sie keinen Genuß in ihm findet; denn ohne Schmerzgefühl lebt es sich in der Schule der Liebe nicht.

Wer nicht entschlossen ist / für seinen Geliebten alles zu leiden und ihm jeden Wink von seinem Auge abzusehen / der ist nicht wert / den schönen Namen eines Liebenden zu tragen. Wer liebt / muß um seines Geliebten willen alles Bittere süß und alles Schwere leicht sich sein lassen. Alles Ungemach mag über ihn kommen / aber kein Ungemach muß von seinem Geliebten ihn losreißen können.


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