Thomas von Kempen
Nachfolge Christi
Thomas von Kempen

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Zweites Kapitel.

Sei gering in deinen Augen!

Es ist dem Menschen natürlich / viel wissen zu wollen; aber noch so viel wissen und dabei den Herrn nicht fürchten – wozu nützt es doch! Wahrhaftig / besser ein demütiger Landmann / der seinem Gott dient / als ein stolzer Weltweiser / der sich außer acht läßt und dafür die Laufbahnen der Sterne mißt. Wer sich nach der Wahrheit kennt / der findet sich wohl gering und schlecht in seinem Auge und kann keine Freude daran haben / daß ihn die Menschen loben. Hätte ich die Wissenschaft aller Dinge in der Welt und fehlte mir nur das eine / die Liebe: was nützte mir all dies Wissen vor Gott / der mich nach meinem Tun richten wird?

Laß ab von der überspannten Wißbegier; denn es ist viel Zerstreuung und viel Trug dabei. Die viel wissen / wollen auch den Schein haben / daß sie viel wissen / und hören es gern / wenn man von ihnen sagt: Sieh / das sind weise Männer! Es gibt so viele Dinge in der Welt / deren Erkenntnis der Seele wenig oder nichts einträgt. Und auf etwas anderes sinnen / als was das Heil der Seele fördern hilft / dazu gehört wahrhaftig ein großes Maß von Torheit. Viel Worte machen / das stillet den Hunger der Seele nicht. Aber gut sein und recht tun / das ist das rechte Labsal für unser Gemüt; und ein reines Gewissen schafft uns große Zuversicht vor Gott.

Je mehr du weißt und je besser du es einsiehst / desto strenger wirst du gerichtet werden / wenn dein Leben nicht gerade um so viel heiliger sein wird / als deine Einsicht besser war. Darum trage den Kopf nicht höher / weil du diese Kunst oder jene Wissenschaft besitzest. Eben dies / daß dir so viel Erkenntnis gegeben ist / soll dich mehr furchtsam als stolz machen. Wenn es dir in den Kopf steigen will / daß du so viele Dinge weißt und so gründlich verstehst / so denke dabei / daß es doch ungleich mehr Dinge gibt / von denen du nichts weißt und nichts verstehst. Und wenn du dich in den hohen Einbildungen von deiner Weisheit verstiegen haben solltest / so steige eilig wieder herunter und bekenne lieber deine Unwissenheit. Wie magst du dich auch nur über einen einzigen Menschen erheben: Wozu dies? Es werden doch noch viele in der Welt sein / die gelehrter sind und das Gesetz besser verstehen als du. Willst du etwas Rechtes lernen und wissen / so lerne die große Kunst / gern unbekannt zu sein und dich für nichts halten zu lassen.

Sich selbst nach der Wahrheit erkennen und nach Verdienst verachten zu können / das ist die erhabenste Wissenschaft / das ist die heilsamste Lehre für mich und dich und uns alle. Aus sich nichts machen und andere gern für besser und höher achten / das ist große Weisheit und Vollkommenheit. Und sähest du einen andern öffentlich sündigen oder einen schweren Fall tun / so halte dich deshalb nicht für besser als ihn. Denn sieh / du weißt ja nicht / wie lange du selbst noch im Guten feststehen wirst. Gebrechlich sind wir alle / aber gebrechlicher als du selbst sei in deinem Auge keiner.


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