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XXIII

Am nächsten Morgen schickte Amaro, nachdem er die eingegangene Post gelesen hatte, in höchster Eile nach Dionísia. Aber die Matrone, die auf den Markt gegangen war, kam erst, als er aus der Messe zurückgekehrt war und frühstückte.

Amaro wollte sofort und mit aller Bestimmtheit wissen, wann »die Sache losgehen werde«.

»Das freudige Ereignis der Kleinen? … In fünfzehn bis zwanzig Tagen … Warum? Ist etwas passiert?«

Ja, es war etwas passiert. Und der Pfarrer las ihr dann ganz im Vertrauen einen Brief vor, der neben ihm auf dem Tisch lag. Der Kanonikus hatte aus Vieira geschrieben, daß die Joaneira schon dreißig Bäder genommen habe und nun heimkehren wolle. »Ich versäume absichtlich jede Woche drei oder vier Bäder, um Zeit zu gewinnen; denn meine gute Alte weiß, daß ich ohne meine fünfzig nicht fortgehe. Nun habe ich vierzig absolviert. Leider fängt es jetzt an, hier wirklich kalt zu werden. Viele Leute sind schon abgereist. Lassen Sie mich umgehend wissen, wie die Dinge liegen.«

Und in einem Postskriptum schrieb er: »Haben Sie auch schon daran gedacht, was mit dem Sprößling geschehen soll?«

»Ungefähr in zwanzig Tagen«, wiederholte Dionísia.

Amaro schrieb sofort die Antwort, die das Weib zur Post tragen sollte. »Die Sache kann in zwanzig Tagen erledigt sein. Schieben Sie unter allen Umständen die Rückkehr der Mutter hinaus! Sagen Sie ihr, daß die Kleine weder schreibt noch hinkommt, weil Ihre vortreffliche Schwester immer noch kränkelt.«

Und indem er die Beine übereinanderschlug, fragte er: »Nun also, Dionísia: Was soll mit dem Sprößling geschehen, wie unser Kanonikus sagt?«

Die Alte riß die Augen vor Überraschung auf und antwortete: »Ich dachte, der Herr Pfarrer habe schon alles geordnet … Das Kind sollte doch zu einer auswärtigen Ziehmutter gegeben werden …«

»Natürlich, natürlich«, unterbrach sie der Pfarrer ungeduldig. »Wenn das Kind lebendig zur Welt kommt, ist es klar, daß es zu einer Ziehmutter getan werden muß, und zwar auswärts … Aber hier liegt eben die Schwierigkeit! Wer soll diese Ziehmutter sein? Die sollen Sie mir ja eben besorgen. Es wird höchste Zeit …«

Dionísia schien in großer Verlegenheit zu sein; niemals hatte sie gern Ammen vermittelt. Ja, sie kannte eine: ein kräftiges Weib mit viel Milch, und auch sehr zuverlässig, aber unglücklicherweise lag sie jetzt krank im Hospital … Sie kannte auch noch eine andere, mit der sie Geschäfte machte. Es war dies die Joana Carreira. Aber das ging nicht gut, weil sie ausgerechnet in Poiais wohnte, gar nicht weit von der Ricoça.

»Warum soll das nicht gehen!« rief der Pfarrer. »Was macht es aus, daß sie neben der Ricoça wohnt? Wenn das Mädchen wieder auf den Beinen ist, kehren die Damen nach der Stadt zurück, und niemand spricht mehr von der Ricoça.«

Aber Dionísia kratzte sich immer noch sinnend das Kinn. Sie wußte noch von einer anderen. Diese wohnte bei Barrosa, in ziemlich großer Entfernung … Sie nahm Kinder auf; es war ihr Geschäft … Aber die kam auch nicht in Frage …

»Ist sie schwächlich oder krank?« fragte der Pfarrer.

Dionísia näherte sich ihm und sagte leise: »Ach, junger Herr, ich rede nicht gern schlecht über jemanden. Aber es ist erwiesen, daß sie eine Engelmacherin ist.«

»Was ist sie?«

»Eine Engelmacherin!«

»Was ist denn das? Was bedeutet das?« fragte Amaro.

Dionísia stotterte eine Erklärung. Die Engelmacherinnen seien Weiber, die Ziehkinder ins Haus nähmen. Und diese Kinder stürben ohne Ausnahme … Sie gingen als Engel in den Himmel ein … Daher der Name.

»Die Kinder sterben also immer?«

»Unfehlbar.«

Der Pfarrer ging langsam im Zimmer umher und drehte dabei eine Zigarette.

»Heraus mit der Sprache, Dionísia! Diese Weiber töten also die Kinder?«

Da erklärte die würdige Matrone, daß sie niemanden anklagen wolle! Sie spioniere nicht und wisse demzufolge nicht, was in fremden Häusern vor sich gehe. Aber die Kinder stürben alle …

»Aber wer übergibt denn ein Kind einem solchen Weib?«

Dionísia lächelte mitleidig über die Naivität des Mannes. »Zu Dutzenden werden sie ihnen gebracht, mein lieber Herr!«

Es gab ein Schweigen. Der Pfarrer setzte gesenkten Hauptes seine Wanderung zwischen dem Waschtisch und dem Fenster fort.

»Aber was nützt es der Frau, wenn die Kinder sterben?« fragte er plötzlich. »Da verliert sie doch das Ziehgeld …«

»Man zahlt ihr ein Jahr Ziehgeld im voraus, Herr Pfarrer. Es kostet zehn Tostões pro Monat oder Quartal, je nach den Vermögensverhältnissen …«

Jetzt lehnte der Pfarrer am Fenster und trommelte langsam an die Scheiben.

»Was sagen aber die Behörden dazu, Dionísia?«

Die gute Dionísia zuckte nur schweigend die Achseln.

Da setzte sich der Pfarrer, gähnte und streckte die Beine von sich.

»Nun gut«, sagte er. »Ich sehe schon, daß uns nichts übrigbleibt, als mit der Ziehmutter zu sprechen, die neben der Ricoça wohnt, mit der Joana Carreira. Ich werde mit ihr verhandeln …«

Dionísia sprach noch über die Wäschestücke, die sie schon auf Rechnung des Herrn Pfarrers gekauft, und eine gebrauchte Wiege, die ihr der José Carpinteiro sehr billig angeboten hatte. Dann wollte sie mit dem Brief zur Post gehen. Aber der Pfarrer erhob sich und sagte lustig: »Na, Tante Dionísia, die Sache mit der Engelmacherin ist doch bloß ein Märchen, was?«

Da regte sich die Dionísia gewaltig auf. Der Herr Pfarrer wisse ganz genau, daß sie keine Flausen mache. Sie kenne die Engelmacherin schon über acht Jahre und sehe und spreche sie fast jede Woche in der Stadt. Noch am vergangenen Sonnabend habe sie das Weib aus der Kneipe des Grego herauskommen sehen … Ob der Herr Pfarrer schon einmal in Barrosa gewesen sei?

Als Amaro nicht antwortete, fuhr sie fort: »Nun, Sie kennen doch den Anfang des Dorfes. Dort ist eine verfallene Mauer. Dann ein absteigender, schluchtartiger Weg. Am Ende desselben ein verschütteter Brunnen. Hinter demselben steht ein Häuschen mit einem Wetterdach über der Tür. Dort wohnt sie … Sie heißt Carlota … Ich sage Ihnen das nur, um Ihnen zu beweisen, daß ich Bescheid weiß, mein Herr!«

Der Pfarrer blieb den ganzen Vormittag zu Hause, lief im Zimmer auf und ab und besäte den Fußboden mit Zigarettenstummeln. Jetzt stand er vor der schicksalsschweren Frage, die er bisher als noch in der Zukunft liegend ziemlich leichtgenommen hatte: Was sollte mit dem Kind geschehen?

Es erschien ihm gewagt, es einer unbekannten Ziehmutter im Dorf zu übergeben. Die Mutter würde natürlich jeden Augenblick hingehen wollen, um es zu sehen, und die Amme könnte den Nachbarn allerhand erzählen. Dann könnte es passieren, daß man von dem Bengel als »dem Sohn des Pfarrers« spräche … Irgendein Neidhammel, der selbst gern in die Pfarrstelle einrücken wollte, könnte ihn beim Generalvikar denunzieren … Skandal, Sermon, Personalverfahren … Und wenn er nicht vom Amt suspendiert wurde, konnte er, wie der arme Brito, wer weiß wohin versetzt werden, ins Gebirge, wieder zu armseligen Hirten. Ah, wenn doch der »Sprößling« tot geboren würde! Welch natürliche und endgültige Lösung! Und für das Kind ein Glück! Welches Geschick erwartete es in dieser bösen, harten Welt? Es war verfemt, war ein »Pfaffenbastard«. Er war arm, die Mutter arm … Der Junge würde im Elend aufwachsen, auf den Straßen Viehdung zusammenscharren, triefäugig, roh, ungebildet … Er würde von Stufe zu Stufe sinken und alle Formen menschlichen Elends kennenlernen: am Tage ohne Brot, in der Nacht vor Kälte zitternd, in den Kneipen mißhandelt, und schließlich im Zuchthaus endend … Als Lebender auf elendem Strohsack, als Toter im Massengrab der Armen … Und wenn das Kind starb, war es ein Engelein, das Gott ins Paradies aufnahm …

Amaro hörte nicht auf zu wandern und zu grübeln … »Engelmacherin«, hm, keine üble Bezeichnung … Wahrhaftig, wenn eine Frau ihrem Kind die Brust reichte, worauf bereitete sie es dann im Grunde genommen vor? Auf ein Leben voller Kummer, Not und Tränen … Es wäre besser, dem Kind den Hals umzudrehen und es stracks in das Reich der ewigen Seligkeit zu befördern. Er brauchte ja nur an sich selbst zu denken … Was für ein Leben hatte er, der Dreißigjährige, hinter sich! Eine trübselige Kindheit bei der alten Schwätzerin, der Marquise de Alegros; danach das Martyrium im Hause seines Onkels, des brutalen Speckhändlers im Stadtteil Estrela; dann das Gefängnisleben im Seminar, die Verbannung in die Eiswüste von Feirão, und hier in Leiria? Nichts als Verdruß und Angst vor der Katastrophe … Hätte man ihm bei seiner Geburt den Schädel zerdrückt, so wäre er heute ein Engel mit weißen Flügeln und sänge mit im Chor der Seligen.

Aber schließlich war jetzt keine Zeit zum Philosophieren; jetzt mußte er nach Poiais gehen und mit der Ziehmutter, der Joana Carreira, verhandeln.

Amaro machte sich ohne Eile auf den Weg. Als er die Brücke erreichte, kam ihm die merkwürdige Idee, er könnte einmal nach Barrosa gehen und sich die Engelmacherin ansehen … Mit ihr zu sprechen war ja gar nicht nötig. Er würde nur ihr Mienenspiel studieren und das unheimliche Haus ein wenig auskundschaften … Als Pfarrer und Repräsentant der Kirchenbehörde hatte er sogar die Pflicht, solchen Greueln nachzuspüren, die sich in einem obskuren Dorfwinkel ungestraft abspielten und obendrein den Verbrechern reichen Gewinn einbrachten. Er konnte vielleicht gar beim Generalvikar oder bei der Zivilregierung Anzeige erstatten …

Der Pfarrer hatte noch Zeit; es war erst vier Uhr. Bei diesem milden, sonnigen Wetter würde ihm ein kleiner Ritt wohltun. Er zögerte also nicht, sondern mietete im Stall des Pferdeverleihers Cruz eine Stute, und kurz darauf trabte er, einen Sporn an der linken Ferse, auf Barrosa zu.

Als er an den schluchtartigen Weg kam, von dem ihm Dionísia erzählt hatte, stieg er ab und führte die Stute am Zügel. Der Nachmittag war prächtig; hoch oben im blauen Äther kreiste träge ein großer Vogel.

Amaro fand den verschütteten Brunnen; neben diesem standen zwei Kastanienbäume, in deren Geäst noch einige Vögel zwitscherten. Vor ihm erhob sich weltentrückt das Haus mit seinem Wetterdach. Die untergehende Sonne ließ das einzige Fenster an der Giebelseite des Gebäudes in rotgoldenem Schein erglühen; aus der Esse stieg schwacher, heller Rauch in die ruhige Luft.

Rings tiefer Friede; im Hintergrund lugte auf einem Hügel aus niedrigen, dunklen Fichten das weiße, freundliche Kirchlein von Barrosa. Amaro stellte sich vor, wie die Engelmacherin wohl aussehen könnte. Ohne zu wissen warum, dachte er sie sich sehr groß und mit breitem, bräunlichem Gesicht, aus dem zwei Hexenaugen blitzten.

Vor dem Hause angelangt, band er die Stute an den Zaun und schaute durch die offene Tür. Er gewahrte eine kleine Küche mit festgestampftem Lehmboden und großem Herd; eine Tür führte auf den Hof hinaus. Zwei Spanferkel wühlten mit den Schnauzen in der dünnen Laubschicht, die über den Estrich gebreitet war. Auf dem Schüsselbrett über dem Herd glänzte blitzblankes Geschirr. Zu beiden Seiten desselben hingen große, von Wohlhabenheit zeugende Kupferkessel. In einem alten Schrank, der halb offenstand, schimmerte das Weiß ganzer Haufen von Wäsche. Überall herrschte hier eine Ordnung und eine Sauberkeit, die jedem Besucher angenehm auffallen mußte.

Der Pfarrer klatschte laut in die Hände. Eine Turteltaube, die in einem an der Wand hängenden Weidenkäfig schlief, fuhr erschreckt empor. Darauf rief er: »Dona Carlota!«

Sofort erschien von der Hofseite her eine Frau, die ein Sieb in der Hand hielt. Amaro war überrascht, als er eine ungefähr vierzigjährige Person vor sich sah, die mit ihrem vollen Busen, den breiten Schultern und dem schneeweißen Hals einen sehr sympathischen Eindruck machte. Sie trug prächtige Ohrgehänge. Ihre schwarzen Augen erinnerten ihn an die Amélias oder vielmehr an den ruhigen Glanz der Augen der Joaneira.

Erstaunt stammelte er: »Ich glaube, ich bin falsch gegangen … Wohnt hier Dona Carlota?«

Nein, er war nicht falsch gegangen. Aber vielleicht war das gar nicht die Engelmacherin, sondern das entsetzliche Weib hauste in irgendeinem düstern, verborgenen Zimmer des Hauses. So fragte er noch: »Wohnen Sie allein hier?«

Das Weib blickte ihm argwöhnisch in die Augen; dann sagte es: »Nein, ich lebe mit meinem Mann hier …«

Wie gerufen, trat dieser aus dem Hof und kam auf die beiden zu. Der Mann war ein beinahe zwerghaftes Wesen; sein Kopf, um den ein Tuch gebunden war, saß tief in den Schultern; sein gelbes, wächsernes Gesicht glänzte fettig; um das Kinn ringelte sich ein spärlicher schwarzer Bart, und aus den tiefen Augenhöhlen, über denen keine Spur von Brauen zu sehen war, glommen zwei blutunterlaufene Augen, die übernächtigen Augen eines Trunkenbolds.

»Gehorsamer Diener!« sagte er, indem er sich dicht an den Rock des Weibes drückte. »Wünschen Sie etwas?«

Amaro trat mit dem Paar in die Küche ein und brachte verlegen eine Geschichte vor, die er sich in aller Eile zurechtgelegt hatte. Es handle sich um eine Verwandte, die ihrer Niederkunft entgegensehe. Der Ehemann könne nicht selbst kommen, weil er krank daniederliege .. Nun brauche man eine Amme, die das Kind im Hause stillen solle. Er sei beauftragt worden …

»Nein«, sagte der Zwerg, der nicht von der Seite seiner Frau wich und den Pfarrer mit seinen furchtbaren blutunterlaufenen Augen von der Seite ansah, »nein, außer dem Hause nicht; nur hier im Hause.«

Ah, dann habe man ihn falsch unterrichtet … Er bedauere; aber die Verwandte brauche eine Amme fürs Haus.

Langsam ging er auf seine Stute zu; dann blieb er stehen und sagte, indem er sich den Rock zuknöpfte: »Also ins Haus nehmen Sie Ziehkinder?«

»Wenn etwas dabei herausspringt«, antwortete der Zwerg, der ihm folgte.

Amaro machte sich mit seinem Sporn zu schaffen, zupfte am Steigbügel und ging unschlüssig um das Pferd herum. Endlich sagte er: »So wird man also das Kind herbringen müssen.«

Der Zwerg drehte sich um und tauschte einen Blick mit der Frau, die an der Küchentür stehengeblieben war.

»Wir können es ja auch abholen«, meinte er.

Amaro klopfte dem Pferd den Hals und erwiderte: »Aber es wird in der Nacht geschehen müssen … In dieser Kälte könnte das Kind sterben …«

Da beteuerten die beiden Eheleute eifrig, daß ihm nichts passieren könne. Man werde schon Obacht geben und es gut einwickeln … Amaro trieb daraufhin sein Pferd an, sagte »Guten Tag« und ritt den Hohlweg hinauf.

 

Amélia begann zu dieser Zeit ängstlich zu werden. Tag und Nacht dachte sie an nichts als an die nahen Stunden, da sie unerhörte Schmerzen zu erdulden hätte. Sie litt jetzt mehr als in den ersten Monaten; manchmal wurde ihr schwindlig, oder sie hatte tolle Gelüste nach irgendeiner ganz unmöglichen Speise, was der Doktor Gouveia stirnrunzelnd beobachtete. Sie verbrachte schlimme Nächte mit schwerem Alpdrücken und wilden Träumen. Aber es waren nicht mehr religiöse Halluzinationen, die sie bedrängten; frommen Schrecken kannte sie gar nicht mehr. Wenn sie schon heiliggesprochen wäre, hätte sie nicht weniger Furcht vor Gott haben können. Jetzt ängstigten sie andere Dinge, Träume, in denen sie sich ihre Niederkunft in grauenhafter Weise ausmalte. Einmal entsprang ihrem Schoß eine scheußliche Mißgeburt: halb Weib, halb Ziege. Ein andermal gebar sie eine endlos lange Schlange, die stundenlang, wie ein Meßband, aus ihrem Leibe wuchs und sich spiralförmig bis zur Zimmerdecke zusammenrollte. Bebend wachte sie auf und fühlte sich dann den ganzen Tag wie zerschlagen.

Und doch konnte sie es kaum erwarten, das Kind zur Welt zu bringen. Sie zitterte bei dem Gedanken, daß eines Tages ihre Mutter unerwartet in der Ricoça auftauchen könnte. Denn diese hatte ihr einen Brief geschrieben, in dem sie darüber klagte, daß der Kanonikus sie in Vieira zurückhalte. Das Wetter sei schon so stürmisch und der Strand einsam und verlassen. Außerdem war Dona Maria da Assunção nach Leiria zurückgekehrt. Aber glücklicherweise hatte sich diese während der Reise schwer erkältet und mußte nun, wie der Doktor Gouveia berichtete, ein paar Wochen das Bett hüten. Der Libaninho war schon einmal in der Ricoça erschienen; er hatte sehr bedauert, wieder fortgehen zu müssen, ohne die kleine Amélia gesehen zu haben, »die an diesem Tage leider an Migräne litt«.

»Wenn das noch vierzehn Tage dauert, kommt alles an den Tag«, sagte sie weinend zu Amaro.

»Geduld, Kind. Die Natur läßt sich nicht drängen …«

»Was du mir für Leiden gebracht hast!« seufzte sie. »Mein Gott, was für Leiden!«

Er schwieg beklommen; überhaupt behandelte er sie jetzt sehr zart. Fast alle Tage besuchte er sie, jedoch nur des Morgens, denn am Nachmittag fürchtete er, dem Pfarrer Ferrão zu begegnen.

Er beruhigte sie betreffs der Ziehmutter, indem er ihr sagte, daß er schon mit der von Dionísia empfohlenen Frau gesprochen habe. Mit der Joana Carreira hätte sie eine sehr gute Wahl getroffen! Ein Weib, stark wie ein Pferd, strotzende Brüste, Zähne wie aus Elfenbein.

»Aber wie weit entfernt, wenn ich das Kind sehen will!« seufzte Amélia.

Jetzt empfand sie zum ersten Male die Wonne der Mutterschaft. Sie war ganz unglücklich darüber, daß sie nicht selbst den Rest der Babyausstattung nähen konnte. Der Junge denn es konnte doch nur ein Junge sein! – mußte Carlos heißen. Schon stellte sie sich ihn als Mann vor, als Kavallerieoffizier. Oder sie dachte mit Rührung daran, wie er drollig auf allen vieren herumkriechen würde …

»Ach, wie gern wollte ich ihn selbst aufziehen; wenn die Schande nicht wäre! …«

»Er wird sehr gut untergebracht sein«, sagte Amaro.

Eins schmerzte Amélia tief und entlockte ihr jeden Tag neue Tränen: der Gedanke, daß das Kind zeitlebens als Bastard gelten würde!

Eines Tages kam sie zum Pfarrer Ferrão mit einem außerordentlichen Plan, den ihr »die Heilige Jungfrau eingegeben« hatte: sie wolle sich mit João Eduardo verheiraten, aber dieser müßte in aller Form den kleinen Carlos adoptieren. Um dem Liebling den Makel der Illegitimität zu ersparen, hätte sie sogar einen Steineklopfer genommen. Flehend drückte sie dem Pfarrer die Hände: Er solle João Eduardo überreden, ihrem Carlos einen Papa zu geben! In ihrer Erregung wollte sie sich dem Herrn Pfarrer, »ihrem Vater und Beschützer«, zu Füßen werfen.

Dieser war nicht wenig bestürzt über diesen Gefühlsausbruch und sagte: »O mein liebes Kind, beruhigen Sie sich! Nur Geduld! Das ist ja auch mein Wunsch, wie ich Ihnen schon gesagt habe. Und es wird auch geschehen, aber später.«

Einige Tage darauf erlebte der gute Pfarrer, der nichts von den täglichen Besuchen des Paters Amaro wußte, eine neue Überraschung. Amélia entdeckte plötzlich, daß sie Amaro nicht verraten dürfe: »er sei ja der Papa ihres Carlos«. Und sie sagte dies ihrem alten Freund, der trotz seiner sechzig Jahre vor Scham errötete, als sie weiterhin sehr überzeugt von ihrer Gattinnenpflicht dem Pfarrer gegenüber sprach.

»Aber Fräulein!« rief der gute Pfarrer entsetzt. »Was reden Sie da für Zeug! Kommen Sie doch nur zur Besinnung … Welche Schande! Ich hatte geglaubt, Sie hätten diese Torheit überwunden …«

»Aber er ist doch der Vater meines Kindes, Herr Pfarrer«, beharrte sie, indem sie ihn mit starrem Ernst ansah.

Amélia ermüdete nun Amaro eine ganze Woche lang mit einer geradezu kindlichen Zärtlichkeit. Jede halbe Stunde erinnerte sie ihn daran, daß er der Vater ihres Carlos sei.

»Jaja, Kind, ich weiß schon«, wehrte er ungeduldig ab. »Danke. Ich bilde mir nicht sehr viel auf diese Ehre ein …«

Da schmiegte sie sich weinend ins Sofa, und es bedurfte aller möglichen Liebkosungen, um sie zu beruhigen. Dann mußte er sich zu ihren Füßen auf ein Bänkchen setzen; sie herzte ihn wie eine Puppe, schmachtete ihn an und streichelte ihm sanft die Tonsur. Dabei plauderte sie ununterbrochen: Carlos müsse photographiert werden, und beide würden das Bild in einem Medaillon auf der Brust tragen. Und wenn sie stürbe, müsse er Carlos an ihr Grab führen und ihn kniend, mit gefalteten Händchen, für die Mama beten lassen. Bei dieser Vorstellung vergrub sie das Gesicht in den Händen und weinte in ein Kissen hinein. »Ach, ich Arme! Mein liebes Kind! Wie unglücklich ich bin!«

»Schweig doch! Es kommt jemand!« herrschte er sie wütend an.

Ah, diese Vormittage in der Ricoça! Amaro empfand sie wie eine ungerechte Strafe. Wenn er kam, mußte er zunächst das Gejammer der Alten über sich ergehen lassen. Dann folgte das Zusammensein mit Amélia, die ihn mit Albernheiten und hysterischer Rührseligkeit peinigte. Manchmal ekelte es ihn an, wenn er sie auf dem Sofa ausgestreckt sah: dick wie eine Tonne, mit gedunsenem Gesicht und verschwollenen Augen …

An einem dieser Vormittage verspürte Amélia Wadenkrämpfe, und sie wollte, auf Amaro gestützt, ein wenig im Zimmer auf und ab gehen. Als sie sich schwerfälligen Leibes dahinschleppte, wurde unten auf der Straße Pferdegetrappel vernehmbar. Sie traten ans Fenster; aber im Nu wich Amaro zurück und ließ Amélia stehen, die, das Gesicht an die Scheibe gedrückt, hinausstarrte. Unten ritt João Eduardo stolz auf einem braunen Pferd vorbei; er trug einen weißen Paletot und einen hohen Hut. Ihm zur Seite trabten die beiden Söhnchen des Majoratsherrn, der eine auf einem Pony, der andre auf einen Esel geschnallt. Und hinter ihnen, in geziemendem Abstand, ritt respektvoll ein livrierter Diener. An seinen Stiefeln glänzten riesige Sporen; die Livree, die ihm viel zu weit war, bauschte sich an den Seiten zu grotesken Falten; der Hut war mit einer scharlachroten Kokarde geschmückt. Staunend sah ihnen Amélia nach, bis der Rücken des Lakaien hinter der Hausecke verschwand. Ohne ein Wort zu sagen, setzte sie sich auf das Sofa. Amaro, der im Zimmer auf und ab gewandert war, lachte höhnisch: »Herrlich! Dieser idiotische Lakai als Nachhut!«

Amélia wurde rot, antwortete aber nicht; und Amaro, den dies ärgerte, verließ das Zimmer. Er schlug die Tür zu und ging zu Dona Josefa, um ihr von der Kavalkade zu erzählen und über den Majoratsherrn zu schimpfen.

»Ein Exkommunizierter mit livriertem Diener!« entrüstete sich die gute Dame und drückte die ausgebreiteten Hände an den Kopf. »Welche Schande, Herr Pfarrer! Welche Schande für den Adel unsres Königreichs!«

Seit diesem Tage weinte Amélia nicht mehr, wenn Pater Amaro ausblieb. Nur noch den Herrn Pfarrer Ferrão erwartete sie des Nachmittags mit Ungeduld. Sobald er kam, bemächtigte sie sich seiner und veranlaßte ihn, auf einem Stuhl neben dem Kanapee Platz zu nehmen. Und nachdem sie eine Weile wie ein Vogel, der seine Beute umkreist, um ihn herumgegangen war, überfiel sie ihn mit der ewigen Frage, ob er den Senhor João Eduardo gesehen habe.

Amélia wollte wissen, was er gesagt, ob er von ihr gesprochen, ob er sie am Fenster bemerkt habe. Sie peinigte ihn mit neugierigen Fragen über das Haus des Majoratsherrn, die Zimmereinrichtung, die Zahl der Lakaien und Pferde. Und ob ein livrierter Diener bei Tisch servierte …

Der gute Pfarrer antwortete geduldig; er war zufrieden, daß sie Amaro vergessen hatte und sich mit João Eduardo beschäftigte. Jetzt glaubte er sicher, daß aus der Heirat etwas würde. Amélia vermied übrigens, den Namen Amaros zu erwähnen, und als einmal der Pfarrer fragte, ob Amaro schon wieder auf die Ricoça gekommen sei, sagte sie: »Ach, er kommt morgens zur Patin … Aber ich lasse mich meines Zustands wegen nicht sehen …«

Solange sie sich auf den Beinen halten konnte, stand sie jetzt am Fenster; ihren Oberkörper, den man von der Straße aus sehen konnte, putzte sie hübsch heraus, während sie unten nur mit einem Unterrock bekleidet war. Sie wartete auf João Eduardo, die kleinen Söhne des Majoratsherrn und den Lakaien; und manchmal hatte sie tatsächlich die Genugtuung, sie zu sehen. Es gefiel ihr, wenn die Pferde mit dem hohen, federnden Schritt, der edlen Rassetieren eigen ist, am Haus vorüberkamen. Besonders João Eduardos rotbraune Stute, die ihr Reiter vor der Ricoça immer elegant tänzeln ließ, erregte ihre Freude. João Eduardo machte eine gute Figur, wenn er, die Reitgerte schräg vorm Leib, die Beine aristokratisch in die Höhe gezogen, daherritt. (Dies hatte ihn der Majoratsherr gelehrt.) Aber der Lakai imponierte ihr am meisten, obwohl er ein alter, krummer Kerl mit schlotternden Beinen war und sein Kopf beinahe im Livreekragen versank. Sie drückte sich die Nase an der Fensterscheibe platt, um ihm nur ja recht lange nachschauen zu können.

João Eduardo freute sich königlich, wenn er mit seinen beiden Schülern ausreiten durfte. Nie unterließ er es, einen Abstecher nach der Stadt zu machen, und mit klopfendem Herzen klapperte er dann über das Steinpflaster. Er ritt an der Apotheke vorüber, aus der die Amparo spähte, an der Kanzlei des Nunes, der vor seinem am Fenster stehenden Schreibtisch saß, am Regierungsgebäude, aus dem noch immer der Herr Bezirksverwalter mit dem Opernglas die Frau Teles anhimmelte. Am liebsten wäre er samt den Kleinen und dem Lakaien in das Büro des Doktors Godinho hineingeritten.

Als er eines Tages seinen Triumphzug hinter sich hatte und um zwei Uhr, von Barrosa kommend, beim Bentas-Brunnen in die Fahrstraße einbiegen wollte, sah er plötzlich Pater Amaro vor sich, der ihm auf einem kleinen Klepper entgegenkam. Sofort ließ João Eduardo seine Stute tänzeln. Der Weg war so schmal, daß die beiden, obwohl sie dicht am Heckenzaun hinritten, sich fast mit den Knien berührten. Da konnte sich's João Eduardo nicht versagen, drohend die Reitpeitsche zu schwingen und von seinem kostbaren Rassepferd herab Pater Amaro einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Amaro, der nicht rasiert war und vor Ärger grün aussah, zuckte zusammen und gab seiner faulen Mähre wütend die Sporen. Auf der Landstraße angelangt, machte João Eduardo halt, drehte sich im Sattel um und sah, wie der Pfarrer vor dem einsamen Häuschen abstieg, wo sich vor einigen Augenblicken seine beiden kleinen Schüler über den »Zwerg« lustig gemacht hatten.

»Wer wohnt dort?« fragte João Eduardo den Lakai.

»Eine gewisse Carlota … Üble Leute, Senhor João!«

Als er an der Ricoça vorüberritt, ließ er, wie immer, seine braune Stute tänzeln. Aber hinter den Fensterscheiben sah er nicht das gewohnte bleiche Gesicht unter dem roten Seidentuch. Die Läden des Fensters waren halb geschlossen, und vor der Haustür stand das Kabriolett des Doktors Gouveia mit der Deichsel am Erdboden. Das Pferd hatte man wohl in den Stall geführt.

 

So war es also soweit. An diesem Vormittag war ein Knecht von der Ricoça zu Amaro gekommen und hatte ein Briefchen abgegeben, in dem weiter nichts stand als die dunklen Worte: »Dionísia sofort. Es beginnt.« Der Bursche sollte auch den Doktor Gouveia holen. Amaro ging selber zur Dionísia.

Vor ein paar Tagen hatte er ihr erzählt, daß Dona Josefa ihm eine Amme empfohlen habe. Mit dieser sei er bereits einig geworden, ein großes Weib, stark wie ein Kastanienbaum. Und nun vereinbarten sie schnell, daß Amaro in dieser Nacht am Pförtchen der Gartenmauer warten und Dionísia ihm das warm eingewickelte Kind übergeben sollte.

»Um neun Uhr abends, Dionísia. Und laß uns nicht warten!« legte er ihr ans Herz, als sie aufgeregt davonrannte.

Darauf kehrte er nach Hause zurück und schloß sich in sein Zimmer ein. Jetzt stand er vor der großen Schwierigkeit, die ihn wie eine lebende Person fragend anblickte: Was soll mit dem Kind geschehen? Noch war Zeit, in Poiais die andre Amme zu verpflichten, die der Dionísia als gut und zuverlässig bekannt war. Er konnte aber auch nach Barrosa reiten und mit Carlota sprechen … In quälender Unschlüssigkeit stand er vor diesen beiden Wegen. Der Pfarrer suchte seine Unruhe zu meistern und den Fall wie eine theologische Streitfrage zu behandeln, deren Für und Wider kühl abzuwägen war. Aber das war leichter gedacht als getan; denn er hatte nicht zwei sich widersprechende Thesen vor sich, sondern zwei böse Visionen beunruhigten ihn: einmal sah er im Geist das Kind in Poiais aufwachsen, dann wieder, wie es die Carlota auf der Straße nach Barrosa erdrosselte … Während er angstschwitzend im Zimmer umherlief, hörte er plötzlich vor der Stubentür den Libaninho rufen: »Mach auf, Pater! Ich weiß doch, daß du zu Hause bist!«

Amaro mußte ihm wohl oder übel öffnen, ihm die Hand drücken und einen Stuhl anbieten. Aber der Libaninho konnte glücklicherweise nicht verweilen. Er war nur auf einen Sprung heraufgekommen, um etwas über die kleinen Heiligen der Ricoça zu erfahren.

»Es geht ihnen gut«, sagte Amaro, der sich zu einem Lächeln zwang.

»Habe leider nicht hingehen können«, sprudelte der Besucher, »denn mir fehlt die Zeit! Ich wirke in der Kaserne als Seelsorger … Jaja, lache nicht, Pater! Was glaubst du, wie fromm ich die Leute dort mache! Ich freunde mich mit den Soldaten an, spreche mit ihnen über die Wunden Jesu …«

»Du wirst noch das ganze Regiment bekehren«, meinte Amaro, der bald in den Papieren auf seinem Schreibtisch kramte, bald wie eine gefangene Bestie hin und her rannte.

»Das steht nicht in meinen Kräften, Pater! Oh, daß ich es doch könnte! Siehst du, ich schaffe eben ein paar geweihte Läppchen zu einem Sergeanten … Sie sind vom Saldanha geweiht und wirken Wunder. Gestern habe ich schon zwei einem Gefreiten geschenkt, einem prächtigen Burschen, ach, einem allerliebsten Burschen … Ich habe sie ihm ans Hemd genäht … Ein prächtiger, süßer Junge!«

»Du solltest doch die Sorge für das Regiment dem Obersten überlassen«, sagte Amaro. Er riß das Fenster auf, denn er drohte vor Ärger zu ersticken.

»O du mein Gott! Du weißt ja gar nicht, wie gottlos der Oberst ist! Wenn er könnte, machte er das ganze Regiment zu Heiden! Also adieu, Pater! Du siehst ganz gelb aus, Söhnchen … Dir fehlt eine Blutreinigungskur; ich kenne das.«

Er war schon an der Tür, blieb aber stehen und fistelte: »Ach, was ich noch sagen wollte, Pater … Hast du etwas gehört?«

»Wie meinst du das?«

»Nun, Pater Saldanha hat's mir anvertraut. Er sagt, daß unser Chorherr erklärt habe – eigene Worte des Saldanha –, in der Stadt gebe es einen Skandal mit einem geistlichen Herrn … Aber er habe nicht verraten, wer es sei und was es sei … Der Saldanha wollte ihn sondieren; aber der Chorherr sagte, er habe nur eine unbestimmte Denunziation erhalten; kein Name sei genannt worden … Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, wer es wohl sein könnte …«

»Aufschneidereien des Saldanha …«

»Ach, Söhnchen! Gebe Gott, daß es so ist! Denn die Gottlosen würden sich nur darüber freuen … Wenn du nach der Ricoça gehst, grüße die kleinen Heiligen von mir …«

Und er raste die Treppe hinab, um seinem Gefreiten »Tugend« zu bescheren.

Amaro war entsetzt. Sicherlich zielte das auf ihn; seine Liebschaft mit Amélia war schon der Gegenstand hinterlistiger Angebereien beim Generalvikar! Und dazu kam noch das Kind! Eine halbe Meile von der Stadt entfernt sollte es, ein lebendiger Beweis seiner Schuld, aufgezogen werden! … Es erschien ihm wie ein Wink des Schicksals, daß der Libaninho, der ihn doch in zwei Jahren kaum zweimal besucht hatte, gerade jetzt mit der furchtbaren Nachricht gekommen war! Jetzt, wo er diesen Gewissenskampf ausfocht! Ja, das war die Vorsehung, die ihm in der grotesken Gestalt des Libaninho einen Boten sandte. Und der Rat, den ihm die Vorsehung zuflüstern ließ, war: »Laß das Wesen nicht leben, das den Skandal über dich heraufbeschwören kann! Siehst du nicht, daß dich schon der Argwohn umlauert?« Gewiß, der mitleidige Gott wollte nicht, daß es auf der Welt noch ein neues verleugnetes Kind, noch ein neues unglückliches Wesen gäbe; er nahm es als Engel für sich in Anspruch …

Amaro zögerte nicht mehr. Er ging zum Mietstall des Cruz und ritt dann nach dem Hause der Carlota.

Dort blieb er, bis die Glocke vier schlug.

Als er wieder zu Hause war, warf er den Hut aufs Bett; er fühlte sich in tiefster Seele erleichtert. Es war getan! Er hatte mit der Carlota und dem Zwerg gesprochen; ein Jahr Ziehgeld war im voraus bezahlt. Jetzt hieß es nur noch die Nacht erwarten! …

Aber in der Einsamkeit des Zimmers bedrängten ihn allerlei krankhafte Vorstellungen: er sah die Carlota das blaurote Kind erwürgen; er sah, wie die Polizisten später den Leichnam ausgruben; er sah, wie der Domingos von der Zivilverwaltung auf einem Knie das Protokoll über das Corpus delicti schrieb; und er sah, wie man ihn, Amaro, in seiner Soutane ins Zuchthaus von São Francisco schleppte, um ihn neben dem Zwerg in Ketten zu schließen! Er hatte Lust, wieder das Pferd zu besteigen und nach Barrosa zu reiten, um die Abmachung zu annullieren. Aber eine lähmende Willenlosigkeit hielt ihn zurück … Und dann zwang ihn ja nichts, das Kind in der Nacht der Carlota auszuhändigen … Er konnte es dann immer noch wohlverpackt der Joana Carreira, der guten Amme von Poiais, überbringen …

Um diesen Gedanken zu entfliehen, die in seinem Schädel wie ein Wirbelsturm tobten, ging er fort, um Pater Natário aufzusuchen. Dieser war wieder außer Bett, und kaum wurde er des Pfarrers ansichtig, so rief er von seinem Lehnstuhl her: »Haben Sie ihn gesehen, Amaro? Mit dem blöden Lakaien hinterdrein?«

João Eduardo war mit seinen kleinen Schülern am Hause vorbeigeritten, und Natário schäumte vor Wut, daß er hier im Stuhl sitzen mußte. Wie gern hätte er den Kampf wieder aufgenommen, seinen Feind durch irgendeine gute Intrige aus dem Haus des Majoratsherrn vertrieben und ihn um Pferd und Lakai gebracht.

»Aber ich lasse nicht locker! Wenn mir Gott nur erst meine Beine in Ordnung bringt!«

»Lassen Sie doch den Menschen in Ruhe, Natário«, begütigte ihn Amaro.

»Ihn in Ruhe lassen? Wo ich eine wunderbare Idee habe? … Ich werde nämlich dem Majoratsherrn an der Hand von Dokumenten beweisen, daß dieser João Eduardo fromm ist! Was sagen Sie dazu, Freund Amaro?«

Der Pfarrer mußte zugeben, daß dies eine äußerst spaßhafte Idee sei. Der Mensch verdiene auch gar keine Schonung, schon wegen der frechen Art, mit der er anständige Leute von seiner Stute herab ansehe … Und Amaro wurde dunkelrot vor Entrüstung; denn er dachte an die Begegnung in Barrosa.

»Das wird gemacht!« rief Natário. »Wozu sind wir Priester Christi? Um die Demütigen zu erheben und die Hochmütigen zu stürzen.«

Darauf besuchte Amaro Dona Maria da Assunção, die wieder aufgestanden war und ihm nun die Geschichte ihrer Bronchitis und das Register ihrer letzten Sünden vortrug. Ganz besonders schwer lastete ein Vergehen auf ihrer Seele: Um sich ein wenig zu zerstreuen, hatte sie jüngst durch die Fensterscheibe auf die Straße geschaut, und ein ihr gegenüberwohnender Zimmermann war so unverschämt gewesen, sie fortwährend anzustarren. Infolge des Einflusses des Teufels hatte sie nicht die Kraft gefunden, sich vom Fenster zurückzuziehen, im Gegenteil, ihr waren allerhand schlimme Gedanken gekommen …

»Aber Sie hören mir ja gar nicht zu, Herr Pfarrer«, unterbrach sie ihre Rede.

»Doch, doch, gnädige Frau!«

Und er beeilte sich, ihre Skrupel zu beschwichtigen; denn die Rettung dieser dummen, frommen Seele brachte ihm mehr ein als sein Pfarramt.

Es dunkelte schon, als er nach Hause kam. Die Escolástica jammerte, daß ihr wegen seines langen Ausbleibens das Essen angebrannt sei. Aber Amaro nahm nur ein Glas Wein und ein bißchen Reis; er setzte sich nicht einmal an den Tisch, sondern schielte nur immer ängstlich nach dem Fenster: unbarmherzig sank die Nacht herab.

Als Amaro sich vergewissern wollte, ob die Straßenlaternen schon angezündet wären, erschien der Koadjutor. Er wollte mit dem Pfarrer über die Taufe des Söhnchens von Guedes reden, die für den nächsten Tag auf neun Uhr festgesetzt war.

»Soll ich Licht bringen?« fragte die Haushälterin.

»Nein!« schrie sofort Amaro. Er fürchtete, daß der Koadjutor sein entstelltes Gesicht sehen oder sich den ganzen Abend bei ihm einnisten könnte.

»In der vorgestrigen Nummer der ›Nation‹ soll ein sehr guter Artikel stehen«, bemerkte ernst der Koadjutor.

»So?« knurrte Amaro.

Er machte seine gewohnte Zimmerwanderung zwischen Waschtisch und Fenster; zuweilen blieb er am Fenster stehen und trommelte an die Scheiben. Die Laternen waren schon angezündet worden.

Der Besucher, der die Finsternis im Zimmer und das raubtiermäßige Hinundhergehen Amaros peinlich empfand, erhob sich und sagte etwas pikiert: »Wenn ich stören sollte …«

»Nein!«

Der Koadjutor setzte sich befriedigt und klemmte seinen Regenschirm wieder zwischen die Beine.

»Es wird heute zeitig finster«, meinte er.

»Es wird Nacht …«

Schließlich erklärte ihm der verzweifelte Amaro, daß er schreckliche Kopfschmerzen habe und sich ein wenig hinlegen wolle; und der lästige Mensch empfahl sich, nachdem er nochmals an die Taufe bei seinem Freund Guedes erinnert hatte.

Gleich darauf brach der Pfarrer nach der Ricoça auf. Glücklicherweise war die Nacht finster und warm; es sah aus, als würde es Regen geben. Eine wilde Hoffnung ließ sein Herz heftig schlagen: vielleicht wurde das Kind tot geboren! Das war immerhin möglich. Die Joaneira hatte als junge Frau auch zwei tote Kinder zur Welt gebracht; und die Angst, in der Amélia fortwährend gelebt hatte, konnte sehr wohl Störungen verursacht haben. Und wenn Amélia auch stürbe? Bei diesem Gedanken, der ihm niemals gekommen war, wurde er plötzlich weich. Ihn jammerte des guten Mädchens, das ihn so sehr liebte und das sich jetzt durch seine Schuld wimmernd in unsäglichen Schmerzen wand … Und doch, wenn sie beide stürben, versänke seine Sünde und seine Schuld auf ewig im Abgrund der Vergessenheit. Er würde wieder, wie vor seiner Ankunft in Leiria, ein ruhiger Mensch und sich ganz seiner Kirche widmen. Sein Leben wäre rein wie ein unbeschriebenes Blatt!

Er blieb vor der verfallenen Hütte an der Landstraße stehen, wo die Person warten sollte, die das Kind nach Barrosa bringen würde. Es war noch nicht entschieden, ob dies der Mann oder die Carlota sein sollte. Und Amaro fürchtete, daß es der Mann wäre, dem er das Kind auszuliefern hätte, das Scheusal mit den bösen, blutunterlaufenen Augen. Er trat an die Hütte heran und flüsterte in die Finsternis hinein: »Hallo!«

Der Pfarrer atmete auf, als er die klare Stimme der Carlota hörte.

»Ich bin da«, gab sie zurück.

»Gut, warten Sie, Dona Carlota.«

Er war zufrieden; es schien ihm, als habe er nun nichts mehr zu fürchten, da das Kind an dem starken Busen dieser frischen, sauberen, fruchtbaren Frau ruhen sollte.

Amaro schlich an dem schweigenden Hause entlang. In der schwarzen Dezembernacht waren die Umrisse des Gebäudes nicht zu erkennen; es wuchs nur wie ein noch dunklerer Fleck aus der allgemeinen Finsternis heraus. Nicht der geringste Lichtschein drang aus den Fenstern von Amélias Stube. Kein Blättchen regte sich in der schweren Luft. Und Dionísia kam nicht.

Diese Verzögerung quälte ihn. Es konnten Leute vorbeikommen und ihn vor dem Haus auf und ab schleichen sehen. Aber es widerstrebte ihm, sich in der Hütte neben der Carlota zu verstecken. Er ging an der Mauer des Obstgartens hin, kehrte wieder um und – sah aus der Glastür, die auf die Terrasse hinausführte, ein Licht kommen.

Sofort rannte er an das grüne Mauerpförtchen, das sich auch gleich darauf öffnete. Ohne ein Wort zu sagen, legte ihm die Dionísia ein Bündel in den Arm.

»Tot?« fragte er.

»Unsinn! Lebendig! Ein strammer Junge!«

Leise schloß sie die Tür wieder; denn die Hunde, durch das Geräusch beunruhigt, fingen an zu bellen.

Als Amaro das Kind an seiner Brust fühlte, war es ihm, als brauste ein Sturmwind durch seine Seele und risse all seine bisherigen Gedanken und Empfindungen über den Haufen. Wie? Er sollte es diesem Weib geben, der Engelmacherin, die es vielleicht auf dem Heimweg in eine Hecke oder zu Hause in die Latrine warf? O nein! Dies war sein Sohn!

Aber was sollte er tun? Es war zu spät, ins Dorf zu eilen und die andre Amme zu wecken … Dionísia hatte keine Milch … In die Stadt konnte er das Kind auch nicht bringen … Er fühlte den brennenden Wunsch, an die Tür des Landhauses zu klopfen, sich in Amélias Zimmer zu stürzen und ihr den Kleinen ins warme Bett zu legen. Wie in einem Winkel des Himmels würden sie dann alle drei beisammen sein! Aber ach! er war ein Priester! Fluch über die Kirche, die ihn so marterte!

Aus dem Bündel drang ein leises Weinen. Da rannte er zur Hütte; beinahe hätte er die Carlota umgerissen, die eifrig nach dem Kinde griff.

»Hier ist es«, sagte er. »Aber hören Sie wohl; ich spreche in vollem Ernst: Ich bin jetzt gänzlich andern Sinnes geworden. Das Kind darf nicht sterben … Sie müssen das Kind stillen. Was wir früher ausgemacht haben, ist null und nichtig … Aufziehen sollen Sie es; leben soll es; Sie sind bezahlt, nun pflegen Sie den Knaben!«

»Gewiß, gewiß«, beteuerte das Weib eifrig.

»Hören Sie … Das Kind ist nicht genügend geschützt. Nehmen Sie meine Pelerine!«

»Es ist schon gut, Herr.«

»Nichts ist gut, zum Teufel! Es ist mein Sohn! Sie sollen ihn unter diese Pelerine nehmen! Ich will nicht, daß er unterwegs erfriert!«

Er hängte ihr das Kleidungsstück mit Gewalt über und wickelte es ihr um die Brust, so daß das Kind wohlgeborgen war. Dann lief das Weib, das ärgerlich zu werden begann, davon.

Amaro blieb auf der Landstraße stehen und sah, wie sich die Gestalt in der Dunkelheit der Landstraße verlor. Da war er mit seinen Nerven fertig; wie ein schwaches, empfindsames Weib brach er in Weinen aus.

Lange noch ging er vor dem Hause auf und ab. Aber es blieb finster und schweigsam, und er zitterte in tödlicher Angst. Endlich machte er sich ganz erschöpft auf den Heimweg. Die Dorfuhr schlug zehn.

 

Zu dieser Stunde saß der Doktor Gouveia ruhig im Speisezimmer der Ricoça. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, und nun verspeiste er ein gebratenes Hähnchen, das ihm Gertrudes gebracht hatte. Pfarrer Ferrão leistete ihm Gesellschaft; für alle Fälle hatte er das Nötige für das Sterbesakrament mitgebracht. Aber der Doktor war zufrieden. Während der achtstündigen Wehen hatte sich das Mädchen tapfer gehalten. Die Geburt war glücklich vonstatten gegangen, und ein stattlicher Junge, der seinem Papa Ehre machte, war da.

Der gute Pfarrer Ferrão hielt in priesterlicher Schamhaftigkeit die Augen gesenkt, während ihm der Doktor dies berichtete.

»Und nachdem ich nun«, sagte der Doktor, indem er die Brust des Hähnchens zerlegte, »das Kind ans Tageslicht befördert habe, werden Sie – wenn ich ›Sie‹ sage, meine ich die Kirche – sich desselben bemächtigen und es bis zu seinem Tode nicht wieder loslassen. Auf der andern Seite wird es der Staat – wenn auch weniger erpicht darauf – nicht aus den Augen lassen … Und hier beginnt das arme Menschenkind seinen Weg von der Wiege bis zum Grabe zwischen einem Pater und einem Polizeiorgan – denn ich bin Polizeiarzt.«

Der Pfarrer bückte sich, nahm geräuschvoll eine Prise und bereitete sich auf das Rededuell vor.

»Die Kirche«, fuhr, der Arzt gemächlich fort, »fängt folgendermaßen an: sie zwingt dem armen Geschöpf, obwohl es sich noch nicht einmal seiner Existenz bewußt ist, eine Religion auf …«

Der Pfarrer unterbrach ihn halb ernst, halb lächelnd: »Lieber Doktor – und wäre es auch nur aus Sorge um Ihr Seelenheil, ich muß Sie auf eins aufmerksam machen: Das heilige Konzil von Trient bedroht im dreizehnten Gesetz jeden mit der Exkommunikation, der sagt, daß die Taufe ungültig sei, weil sie an einem noch nicht urteilsfähigen Menschen vollzogen wird.«

»Ich nehme dies zur Kenntnis, verehrter Pfarrer. Ich bin schon an dergleichen Liebenswürdigkeiten gewöhnt, die das Konzil von Trient für mich und andre Kollegen in Bereitschaft hält …«

»Es war eine sehr ehrwürdige Versammlung!« unterbrach ihn der Pfarrer, ein wenig verletzt.

»Erhaben, Pfarrer! Ein erhabene Versammlung! Das Konzil von Trient und der Nationalkonvent der Französischen Revolution waren die beiden wunderbarsten Menschenversammlungen, die die Welt je gesehen hat …«

Das Gesicht des Pfarrers drückte lebhaften Widerwillen aus. Wie konnte ein Mensch wagen, in so despektierlicher Weise die heiligen Schöpfer der Glaubenslehre neben die Mörder des guten Königs Ludwig XVI. Ludwig XVI. – (1754-1793), König von Frankreich von 1774 bis 1792; wurde durch die Französische Revolution gestürzt und 1793 guillotiniert. zu stellen!

Aber der Doktor fuhr fort: »Dann läßt die Kirche das Kind einige Zeit in Frieden; denn es muß zahnen, hat mit Spulwürmern zu tun …«

»Oh, Doktor, hören Sie auf!« murmelte der geduldige Pfarrer, der mit geschlossenen Augen zuhörte. Er dachte wohl bei sich: Diese Seele wird sicher dereinst im Höllenfeuer schmoren!

»Aber wenn in dem Kleinen die ersten Anzeichen der Vernunft erkennbar werden«, fuhr der Doktor fort, »wenn es sich als nötig erweist, daß er, um sich vom Tier zu unterscheiden, einen Begriff von sich selbst und dem Universum erhält, dann fällt ihm die Kirche ins Haus und erklärt ihm alles! Alles! Und zwar so vollständig, daß ein Hosenmatz von sechs Jahren, der noch nicht einmal buchstabieren kann, ein größeres und sichereres Wissen besitzt als die Königlichen Akademien von London, Berlin und Paris zusammen! Der Schelm zögert nicht einen Augenblick, wenn er sagen soll, wie das Weltall mit seinen Planetensystemen entstanden ist; wie die Erde erschaffen wurde; wie die Rassen aufeinander gefolgt sind; wie die geologischen Umwälzungen des Globus vor sich gingen; wie sich die Sprachen entwickelten; wie die Schrift entstand … Er weiß alles. Bis aufs I-Tüpfelchen kennt er die unwandelbaren Normen, nach denen man denken und handeln muß; die Welträtsel sind ihm ein Kinderspiel. Und wenn er so blind wäre wie ein Maulwurf, sieht er dennoch, was sich im tiefsten Schoße des Himmels und im Innern der Erde abspielt. Ja, als wenn er es mit eigenen Augen geschaut hätte, weiß er, was ihn nach dem Tode erwartet … Es gibt kein Problem, das er nicht lösen kann … Und wenn dann die Kirche aus einem solchen Bürschchen ein solches Wunder an Gelehrsamkeit gemacht hat, läßt sie ihn lesen lernen … Ich frage bloß: Wozu?«

Die Entrüstung verschloß dem Pfarrer den Mund.

»Ja, Pfarrer, sagen Sie mir bitte, wozu lassen Sie die Kinder das Lesen lernen? Die ganze Universalwissenschaft, die res scibilis, steht ja im Katechismus; den braucht der Junge nur auswendig zu lernen, und er besitzt sämtliches Wissen und weiß in allem Bescheid … Er weiß soviel wie Gott … Er ist, de facto, Gott selbst.«

Der Pfarrer sprang auf. »Das nenne ich nicht diskutieren!« rief er. »Nein, das ist kein Diskutieren … Das sind frivole Scherze à la Voltaire! Solche Dinge müssen von einem höheren Gesichtspunkt aus betrachtet werden …«

»Wieso Scherze, Pfarrer? Greifen wir einen Punkt heraus: die Entstehung der Sprachen. Wie sind sie geworden? Der liebe Gott, der mit dem Turmbau zu Babel nicht einverstanden war …«

Aber die Tür ging auf, und Dionísia erschien. Vor ein paar Stunden hatte ihr der Arzt in Amélias Zimmer einen scharfen Verweis erteilt, und seitdem sprach sie mit ihm immer in höchster Angst.

»Herr Doktor«, unterbrach sie das Schweigen, das ihrem Eintreten gefolgt war, »das Fräulein ist aufgewacht und verlangt nach dem Kind.«

»Nun und? Man hat doch das Kind fortgeschafft, nicht?«

»Ja, das Kind ist fort«, sagte die Dionísia.

»Nun also, nichts zu machen …«

Dionísia wollte die Tür wieder zumachen; aber der Doktor rief sie zurück.

»Hören Sie! Sagen Sie ihr, das Kind kommt morgen … Morgen wird man es ihr bestimmt bringen. Lügen Sie! Lügen Sie wie ein Hund; der Herr Pfarrer hier erlaubt es … Sie soll nur schlafen und sich erholen.«

Dionísia verschwand. Aber die Auseinandersetzung kam nicht wieder in Fluß: Bei dem Gedanken an diese Mutter, die nach der Qual der Geburt erwachte und nach dem Kind verlangte – dem Kind, das man ihr für immer genommen und weit weggeschafft hatte, vergaßen die beiden Greise den Turmbau zu Babel und die Entstehung der Sprachen. Besonders der Pfarrer schien sehr bewegt zu sein. Aber der Arzt war bald wieder kampfbereit. Mitleidlos hielt er dem anderen vor Augen, daß dieses Elend nur die Folge der Stellung sei, die der katholische Geistliche in der Gesellschaft einnehme …

Der Pfarrer schaute zu Boden und sagte nichts. Er schnupfte umständlich und tat, als wüßte er gar nicht, daß ein Pater in dieser unglückseligen Geschichte eine Rolle spiele.

Der Doktor spann dann seinen Gedanken weiter und eiferte gegen die Erziehung der jungen Männer zum geistlichen Amt. Wie falsch würden sie vorbereitet!

»Hier haben Sie, mein lieber Pfarrer, eine Erziehung, die vollständig auf Absurditäten aufgebaut ist: Auflehnung gegen die gerechtesten Forderungen der Natur; Widerstand gegen die erhabensten Regungen der Vernunft. Einen Pater vorbereiten heißt: ein Monstrum schaffen, das sein elendes Leben in verzweifeltem Kampf gegen die beiden unwiderstehlichen Fakta der Weltordnung verbringt: die Gewalt der Materie und die Gewalt der Vernunft!«

»Was sagen Sie da?« rief der Pfarrer erschrocken.

»Ich sage die Wahrheit. Worin besteht denn die Erziehung eines Priesters? Erstens: man bereitet ihn auf die Ehelosigkeit und ein keusches Leben vor – das heißt auf die gewaltsame Unterdrückung der natürlichsten Gefühle. Zweitens: man hält jedes Wissen von ihm fern, das den katholischen Glauben in ihm erschüttern könnte – das heißt, man erstickt absichtlich in ihm den Forschertrieb und den kritischen Sinn, schließt ihn also von jeder realen und allgemeinmenschlichen Wissenschaft aus …«

Der Pfarrer war erregt aufgestanden; er fühlte sich in seinem frommen Sinn tief verletzt und sagte: »So sprechen Sie also der Kirche die Wissenschaftlichkeit ab?«

»Mein lieber Pfarrer«, fuhr der Doktor ruhig fort. »Jesus, seine ersten Jünger und der heilige Paulus verkündeten in Gleichnissen und Episteln mit wunderbarer Beredsamkeit, daß die Leistungen des menschlichen Geistes unnütz, kindisch, ja schädlich seien …«

Der Pfarrer lief wie ein verwundeter Stier im Zimmer herum, wobei er bald an dieses, bald an jenes Möbelstück stieß. In seiner Verzweiflung über diese lästerlichen Reden preßte er den Kopf zwischen beide Hände. Endlich konnte er nicht mehr an sich halten, und er schrie: »Sie wissen nicht, was Sie sagen! Verzeihung, Doktor … ich bitte Sie demütig um Verzeihung … Sie hätten mich beinahe eine Todsünde begehen lassen … Aber das ist wirklich kein Diskutieren mehr … Das heißt mit der Frivolität eines Journalisten reden …«

Und mit großer Wärme verteidigte er die Gelehrsamkeit der Kirche, ihre griechischen und lateinischen Studien, die Philosophie, die von den Kirchenvätern geschaffen wurde …

»Lesen Sie den heiligen Basilius!« rief er. »Da werden Sie sehen, was er über das Studium der weltlichen Autoren sagt: sie seien die beste Vorbereitung für die geistlichen Studien! Lesen Sie ›Die Geschichte der Klöster im Mittelalter‹. Die Klöster waren die Stätten der Wissenschaft, der Philosophie …«

»Aber was ist das für eine Philosophie, Verehrtester, und was für eine Wissenschaft! Unter Philosophie verstehen Ihre Leute ein halbes Dutzend mythologisch gefärbter Weltanschauungen in denen an Stelle gesunden sozialen Instinktes dunkler Mystizismus tritt … Und was für eine Wissenschaft! Eine Wissenschaft lediglich kommentierender Art, eine Wissenschaft der Grammatiker … Aber neue Zeiten sind gekommen, neue Wissenschaften sind entstanden, die die Alten nicht kannten und denen der geistliche Unterricht weder Grundlage noch Methode bot … Daher das feindliche Verhältnis zwischen ihnen und der katholischen Lehre! In den ersten Zeiten versuchte die Kirche, sie durch Verfolgung, durch Kerkerstrafe und Feuertod zu unterdrücken! Sie brauchen nicht so die Hände zu ringen, mein lieber Pfarrer … Jaja: durch Feuer und Kerker! Aber jetzt geht das nicht mehr; die Kirche muß sich darauf beschränken, die neue Wissenschaft in schlechtem Latein zu schmähen … Und unterdessen lehrt man immer noch in den Seminaren und in den Schulen veraltetes, längst überholtes Zeug; man ignoriert, verachtet die Wissenschaft und flüchtet sich in die Scholastik … Es hat keinen Zweck, daß Sie die Hände an den Kopf pressen … Die Kirche verwirft den modernen Geist; feindselig stehen ihre Prinzipien und ihre Methoden dem Fortschritt menschlicher Erkenntnis gegenüber … Das können Sie doch nicht leugnen! Sie brauchen ja nur im Syllabus nachzulesen, der im dritten Gesetz die Vernunft exkommuniziert … Und im dreizehnten Gesetz …«

Die Tür wurde schüchtern geöffnet; es war wieder die Dionísia.

»Die Kleine weint; sie will das Kind haben.«

»Schlimm, schlimm!« sagte der Doktor.

Und nach einer Weile: »Wie sieht sie denn aus? Rot? Ist sie unruhig?«

»Nein, ganz normal. Nur daß sie weint und von dem Kleinen spricht … Sie sagt, sie will ihn noch heute haben, um jeden Preis

»Plaudern Sie mit ihr; zerstreuen Sie sie … Sehen Sie nach, ob sie jetzt schläft.«

Dionísia ging, und der Pfarrer fragte besorgt: »Fürchten Sie, daß der Kummer und die Sehnsucht ihr schaden könnten?«

»Das wäre schon möglich«, meinte der Arzt, der in seiner Kofferapotheke herumsuchte. »Ich werde ihr ein Schlafmittel geben … Es ist schon so, Pfarrer: die Kirche ist heutzutage ein Störenfried!«

Der Pfarrer fuhr wieder mit den Händen an den Kopf.

»Wir brauchen gar nicht weit zu gehen, Pfarrer. Nehmen Sie nur einmal die Kirche in Portugal an. Es ist doch deutlich zu sehen, daß sie sich im Zustand des Verfalls befindet …«

Und während er mit der Flasche in der Hand im Zimmer stand, gab er einen kurzen Überblick. »Die Kirche war einmal die Nation; heute ist sie eine vom Staat geduldete und beschützte Minorität. Früher dominierte sie in der Rechtsprechung, im Kronrat, im Staatshaushalt, im Militärwesen sie entschied über Krieg und Frieden; heute hat ein Abgeordneter der Majorität mehr Gewalt als der ganze Klerus des Königreichs. Einst verkörperte sie die Wissenschaft im Lande; heute ist ihre ganze Weisheit ein bißchen Küchenlatein. Früher war sie reich, besaß auf dem Land ganze Distrikte und in der Stadt ganze Straßen; heute hängt ihr kärgliches Einkommen von der Gnade des Justizministers ab, und sie bettelt an den Kirchentüren um Almosen. Einst rekrutierte sie sich aus den Söhnen des Adels, aus den Besten des Reiches; heute bringt sie nur mit Mühe ihr Personal zusammen und holt es aus Armen- und Findelhäusern. Früher war sie die Hüterin der nationalen Überlieferung, der vaterländischen Ideale schlechthin; heute hat sie die Fühlung mit dem nationalen Empfinden verloren – wenn es überhaupt noch eins gibt und sie ist eine Fremde, eine Bürgerin Roms, die von dort Gesetz und Geist empfängt …«

»Nun«, sagte der Pfarrer, indem er sich mit rotem Kopf erhob, »wenn sie so elend am Boden liegt, ist dies nur ein Grund mehr, sie zu lieben!«

Aber die Dionísia war wiederum an der Tür erschienen.

»Was gibt es denn schon wieder?« fragte der Arzt.

»Das Fräulein beklagt sich über einen Druck im Kopf. Sie sagt, vor ihren Augen sprühten Funken …«

Da folgte Doktor Gouveia der Dionísia, ohne ein Wort zu sagen. Der Pfarrer, der nun allein war, lief unruhig im Zimmer auf und ab. Er arbeitete im Geist eine lange Widerlegung aus, die mit Textstellen, Beweisgründen und den Namen gewaltiger Theologen gespickt war. Sobald sein Gegner wiederkäme, wollte er damit über ihn herfallen. Aber eine halbe Stunde verging, das Licht der Lampe wurde trüber und trüber, und kein Doktor ließ sich sehen.

 

Die Stille, in der der alte Pfarrer nur seine Schritte hörte, fing an, ihm unheimlich zu werden. Er öffnete leise die Tür und lauschte; aber Amélias Zimmer lag ganz am Ende des Hauses, über der Terrasse. Nirgends ein Geräusch, nirgends ein Lichtschein.

Er begann aufs neue seine einsame Wanderung in der Stube; eine seltsame Traurigkeit überkam ihn. Auch er hätte gern die Kranke gesehen. Aber seine Stellung und sein priesterliches Schamgefühl erlaubten ihm nicht, sich einem im Bett liegenden Weibe zu nähern, selbst wenn es soeben geboren hatte. Nur wenn es sich um die Darreichung der Sakramente handelte, tat er dies. Eine zweite, noch längere und unheimlichere Stunde verging. Da schlich er sich auf den Fußspitzen bis in die Mitte des Ganges, und er errötete über diese Kühnheit. Was war das? Er hörte in dem Zimmer des Mädchens das dumpfe Geräusch stampfender Schritte; es klang wie ein Ringen Brust an Brust. Aber kein Wort, kein Schrei. Entsetzen packte den Alten. Er zog sich wieder in das Eßzimmer zurück, schlug sein Brevier auf und fing an zu beten. Da hörte er die Pantoffeln der Gertrudes eilig über den Korridor klappern. Eine entfernte Tür schlug zu. Darauf wurde ein großes Blechgefäß den Gang entlang geschleift. Und endlich erschien der Doktor.

Als ihn der Pfarrer sah, erbleichte er. Gouveia kam ohne Krawatte; der Kragen war zerrissen. Die Knöpfe an seiner Weste fehlten, und die aufgekrempelten Hemdsärmel zeigten große Blutflecke.

»Ist etwas passiert, Doktor?«

Der Arzt antwortete nicht; er rannte mit vor Aufregung glühendem Gesicht im Zimmer herum und suchte sein Besteck. Als er damit hinausgehen wollte, kam ihm erst zum Bewußtsein, daß ihn der Pfarrer ängstlich gefragt hatte, und er antwortete: »Sie hat Krämpfe.«

Da hielt ihn der Pfarrer an der Tür zurück und sagte mit feierlichem Ernst: »Doktor, wenn Gefahr droht, bitte ich Sie, an eins zu denken: es ist eine Christenseele in Todesnot und ich bin hier.«

»Gewiß, gewiß …«

Wieder begann für den einsamen Alten eine lange, bange Wartezeit. Alles schlief in der Ricoça: Dona Josefa, die Hausleute, das Gesinde. Und draußen schliefen die Felder. Eine riesige, melancholische Wanduhr, die wohl aus einem Schloß stammte, schlug Mitternacht, schlug ein Uhr. Ihr Zifferblatt stellte die Sonne dar; auf dem Gehäuse hockte, aus Holz geschnitzt, eine nachdenkliche Eule. Der Pfarrer ging alle Augenblicke hinaus und lauschte im Korridor: er hörte dasselbe stampfende Geräusch; zuweilen herrschte furchtbares Schweigen. Wieder kehrte er zu seinem Brevier zurück. Er dachte über die arme Amélia nach, die dort in ihrem Zimmer mit dem Tode rang. Und weder die Mutter noch die Freundinnen an ihrem Bett! Vielleicht marterte die Erinnerung an ihre Sünde ihre Seele; mit halberloschenem Auge sah sie das traurige Antlitz des beleidigten Gottes vor sich. In Schmerzen wand sich ihr elender Leib, und in der herabsinkenden Todesnacht spürte sie schon den heißen Atem des Satans. Welch grauenhaftes Ende! – Da betete er inbrünstig für sie.

Aber dann mußte er an den andern, ihren Mitschuldigen, denken, der jetzt in der Stadt friedlich schlummerte. Und er betete auch für ihn.

Auf dem Brevier war ein kleines Kruzifix. Er betrachtete es liebevoll und dachte gerührt daran, welche Macht in seine Priesterhand gelegt war. Wie klein und nichtig erschien ihm gegen diese Macht die Weisheit des Doktors und alles eitle Gebaren der Vernunft! Philosophien, Ideen, irdischer Ruhm, ganze Menschengeschlechter und Weltreiche vergingen; wie flüchtige Seufzer der ringenden Menschheit verwehten sie. Nur eins besteht und wird ewig bestehen: das Kreuz, die Hoffnung der Staubgeborenen, der Notanker der Verzweifelten, die Zuflucht der Schwachen, das Asyl der Besiegten, das Größte, Höchste, das der Menschheit beschieden ward: crux triumphans crux triumphans ... – (lat.) das Kreuz triumphiert über die Dämonen, das Kreuz ist die Schutzwehr der Belagerten. adversus demonios, crux oppugnatorum murus …

Da trat der Doktor ein; sein Gesicht glühte. Der Mann zitterte noch von dem Kampf, den er in jenem Zimmer mit dem Tode ausgefochten hatte. Er war gekommen, um ein neues Fläschchen zu holen. Aber vorerst öffnete er wortlos das Fenster; er mußte einen Augenblick frische Luft in seine Lungen pumpen.

»Wie geht es dem Mädchen?« fragte der Pfarrer.

»Schlecht«, seufzte der Arzt im Hinausgehen.

Der Pfarrer kniete nieder und stammelte das Gebet des heiligen Fulgentius.

»O Herr, habe Nachsicht mit ihr und schenke ihr deine Gnade!«

Die Arme auf den Tischrand gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben, verharrte er lange in kniender Stellung.

Als er Schritte im Zimmer hörte, erhob er den Kopf. Es war Dionísia; sie seufzte, während sie alle Servietten, die sie in den Schubfächern des Büfetts fand, zusammenraffte.

»Nun?« fragte sie der Pfarrer.

»Ach, Herr Pfarrer, die Arme ist verloren … Nach den Krämpfen, bei denen einem die Gänsehaut über den Körper lief, verfiel sie in Schlaf … in den Todesschlaf …« Und nachdem sie sich ängstlich im Zimmer umgesehen hatte, ob auch niemand anders zugegen sei, sagte sie aufgeregt: »Ich will nichts sagen … Der Herr Doktor hat eine Laune! Aber das Mädchen in diesem Zustand zur Ader zu lassen, heißt es töten … Zwar hat die Kleine nur wenig Blut verloren; aber niemals schröpft man einen Menschen in solchem Augenblick. Niemals, niemals!«

»Der Herr Doktor ist ein sehr weiser, erfahrener Arzt …«

»Er mag so weise sein, wie er will … Ich bin auch nicht dumm … Ich habe eine zwanzigjährige Erfahrung hinter mir … Und unter meinen Händen ist noch keine gestorben … Jemanden zur Ader lassen, während er Krämpfe hat! Das ist ja furchtbar!«

Sie war empört. Der Herr Doktor habe das arme Ding gequält. Er hätte sie am liebsten auch noch chloroformiert …

Aber vom hinteren Korridor her brüllte der Arzt nach ihr, und die Matrone stürzte mit ihrem Serviettenstoß hinaus.

Die unheimliche Uhr mit ihrer nachdenklichen Eule schlug zwei, schlug drei … Zuweilen fielen dem Pfarrer die Augen vor Müdigkeit zu, kein Wunder bei seinem Alter. Aber er riß sich zusammen, und um sich munter zu halten, öffnete er das Fenster, atmete die schwere Nachtluft ein und starrte in die schwarze Nacht. Dann setzte er sich wieder hin, faltete die Hände über seinem Brevier und murmelte gesenkten Hauptes: »O Herr, mein Gott, lenke deine barmherzigen Augen auf jenes Sterbebett …«

Da erschien Gertrudes in tiefer Bewegung. Der Herr Doktor hatte sie geheißen, hinunterzugehen und den Burschen zu wecken, damit er die Stute an das Kabriolett spanne.

»Ach, Herr Pfarrer, das arme Ding! Alles war so gut gegangen, und nun das! Warum hat man ihr auch das Kind weggenommen! Ich weiß nicht, wer der Vater ist; aber das weiß ich: hier ist Sünde und Verbrechen im Spiel!«

Der Pfarrer antwortete nicht; er betete leise für Pater Amaro.

Da kam der Arzt mit seinem Besteck in der Hand.

»Wenn Sie wollen, Pfarrer, können Sie hingehen«, sagte er.

Aber der Pfarrer beeilte sich nicht. Er sah den Doktor an, und eine Frage schwebte auf seinen halbgeöffneten Lippen; er getraute sich nicht, sie auszusprechen. Endlich aber konnte er nicht mehr an sich halten, und er fragte ängstlich:

»Haben Sie alles versucht, Doktor? Gibt es keine Hilfe?«

»Nein.«

»Sie wissen, Doktor, daß wir nicht an das Bett eines Weibes treten dürfen, das unehelich gebiert. Nur in hoffnungslosen Fällen …«

»Es ist ein hoffnungsloser Fall, Herr Pfarrer«, unterbrach ihn der Arzt, der schon seinen Mantel anzog.

Da ergriff der Pfarrer das Brevier und das Kreuz. Aber ehe er hinausging, hielt er es für seine Priesterpflicht, dem rationalistischen Mediziner noch einmal ins Gewissen zu reden.

»Gerade angesichts des Todes«, sagte er leise, »offenbart sich uns am deutlichsten das Geheimnis der Ewigkeit. In solchen Augenblicken empfindet man erschauernd die Nähe Gottes, kommt einem zum Bewußtsein, wie töricht der menschliche Hochmut ist …«

Der Doktor, der sein Besteck zuschnallte, erwiderte nichts.

Der Pfarrer verließ das Zimmer; aber als er schon im Korridor war, kehrte er noch einmal zurück und sagte unruhig: »Entschuldigen Sie, Herr Doktor … Aber man hat es schon erlebt, daß die Sterbenden, nachdem ihnen die Hilfeleistung der Kirche zuteil geworden, durch eine besondere Gnade plötzlich wieder auflebten … Die Gegenwart des Arztes kann nützlich sein …«

»Ich gehe ja auch noch nicht«, sagte der Doktor. Und er mußte unwillkürlich bei dem Gedanken lächeln, daß die Hilfe der Medizin in Anspruch genommen wurde, um die Wirksamkeit der »Gnade« zu unterstützen.

Er ging hinunter, um nachzusehen, ob das Kabriolett bereit war.

Als er wieder in Amélias Zimmer eintrat, knieten Dionísia und Gertrudes betend neben dem zerwühlten Bett, das, wie das ganze Zimmer, den Eindruck eines Schlachtfeldes machte. Zwei gänzlich heruntergebrannte Kerzen flackerten im Verlöschen. Amélia lag unbeweglich, mit steifen Armen da; dunkelrot waren ihre verkrampften Hände, und fast noch dunkler erschien ihr starres Gesicht.

Über sie gebeugt, stand der Pfarrer; er hatte das Kruzifix in der Hand und rief mit angstbebender Stimme: »Jesu, Jesu, Jesu! – Erinnere dich der Gnade Gottes, Mädchen! Glaube an die himmlische Barmherzigkeit! Tue Buße im Schoß des Herrn! – O Jesu, Jesu, Jesu!«

Endlich, als er sah, daß sie tot war, kniete er nieder und murmelte das Miserere. Der Doktor, der an der Tür stehengeblieben war, zog sich leise zurück, ging auf Zehenspitzen den Korridor entlang und stieg die Treppe hinab. Vor dem Haus hielt der Bursche die eingespannte Stute am Zügel.

»Wir werden wohl Regen bekommen, Herr Doktor«, meinte er, vor Müdigkeit gähnend.

Der Doktor Gouveia schlug den Mantelkragen hoch, verstaute sein Besteck unter dem Sitz, und gleich darauf fuhr das Kabriolett mit dumpfem Rollen auf der Landstraße hin. Schon prasselte der erste Regenschauer herab, und durch die Finsternis der Nacht zitterte der rötliche Schein der Wagenlaternen.


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